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Rezension / 17.07.2024

Christoph Schönberger, Sophie Schönberger: Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung

München, C. H. Beck Verlag 2023

Christoph und Sophie Schönberger führen ins Reichbürgerphänomen ein. Niklas Herrberg lobt dabei die klare Argumentation der Autor*innen trotz des „diffusen“ Untersuchungsgegenstands, die somit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Szene leisteten: Reichsbürger*innen bildeten mit ihrer „Reichsfantasie“ in Abgrenzung zum Rechtsextremismus eine juristische „Laiensekte“ mit verschwörungstheoretischen Elementen. Damit verdeutliche die Bewegung auch eine gewisse Hilflosigkeit unserer demokratisch verfassten Rechtsordnung, die in eben auch auf dem Glauben an ihre Legitimität fußt.

Eine Rezension von Niklas Herrberg

Die Charakterisierung der Reichsbürger als „gespenstisch“ ist treffend. Seit sie 2016 stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerieten, da ein Szeneangehöriger damals einen Polizeibeamten erschossen hatte, bemüht man sich die Frage zu beantworten, wer oder was die Reichsbürger eigentlich sind. Angesichts des Ausrufens von Phantasiestaaten, der Selbstverleihung pompöser Titel und einer kaum zu überblickenden Textflut scheinoffizieller Dokumente und Verlautbarungen changierte die öffentliche Meinung bis dahin irgendwo zwischen Lachen und Schulterzucken. Mit dem Mord vom Oktober 2016 und spätestens mit der Erstürmung der Reichstagstreppen im August 2020 mischt sich die Irritation mit Beunruhigung und den berechtigten Warnungen vor Gewalt – in der Tat eine „gespenstische Mischung aus Skurrilität und Bedrohlichkeit“ (7), die sich auch angesichts des Auffliegens der Terrorgruppe um „Prinz Reuß“ im Dezember 2022 zeigte.

Die Weltanschauungen und ideologischen Überzeugungen der Reichsbürger verbleiben in der Öffentlichkeit dabei oftmals diffus und nebulös. Aussagen wie „Deutschland sei aus Sicht der Reichsbürger eine GmbH“ prägten lange Zeit das öffentliche Bild. Dies mag zwar ein Empfinden von Absurdität hervorrufen, trifft allerdings reichsbürgerliche Weltdeutungen kaum in Gänze. Schwer zu erfassen bleiben nicht zuletzt auch diejenigen, die der Reichsbürgerszene angehören. Eine Einordnung ist angesichts der Heterogenität der Szene, wechselseitigen Abgrenzungen und einer höchst fragmentierten Organisierung schwer. Christoph Schönberger und Sophie Schönberger stehen mit Ihrem Buch vor der Herausforderung, diese Diffusität des Phänomens zu adressieren, ohne selbst in ihrer Argumentation diffus zu werden. Meines Erachtens ist ihnen dies mit ihrem kurzen, aber sehr lesenswerten Buch durchaus gelungen.

Die Argumentation ihres Buches gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil gehen sie der Entstehung und Verortung der „Reichsfantasie der Reichsbürger“ (15) in der alten Bundesrepublik nach. Ihre Genealogie nimmt hierbei nicht nur die Vorstellungswelt der Reichsbürger selbst in den Blick, sondern kontextualisiert diese im Lichte westdeutscher Kontroversen bezüglich des juristischen Status des Deutschen Reichs. Die Reichsidee als ideologischer „Sehnsuchtsort“ (ebd.) der Deutschen war nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands jenseits der extremen Rechten öffentlich kompromittiert. Aus juristischer Perspektive stellte sich allerdings die Frage, in welcher Beziehung die Bundesrepublik zum vorherigen Deutschen Reich stehe.

Schönberger und Schönberger argumentieren, dass „die (west-)deutschen Juristen […] fast einhellig die Auffassung [propagierten], das Deutsche Reich sei durch den Zusammenbruch vom Mai 1945 nicht untergegangen, sondern bestehe rechtlich fort“ (19), gleichwohl dieses „Juristenkonstrukt“ (ebd.) mit der rechtlichen und politischen Realität wenig gemein gehabt habe. Nicht zuletzt im Kontext der Deutschen Teilung sei der Annahme einer juristisch fortdauernden Existenz des Deutschen Reiches eine Delegitimationsfunktion der DDR zugekommen. Mit der neuen Ostpolitik sowie allerspätestens mit der Wiedervereinigung Deutschlands habe sich diese „rechtliche Mumie“ (18) allerdings überlebt.

Das kontrafaktische Rechtskonstrukt und das geteilte Deutschland stellen jedoch gleichzeitig den Kontext dar, in dem sich die Reichsideologie der Reichsbürger entwickelte. Sie stehen auch im Zusammenhang mit der Person Wolfgang Ebels, der als „[d]er erste Reichsbürger“ (31) gelten kann. Seine (berufliche) Biografie sei eng mit dem Fortleben des juristischen Reichskonstrukts im geteilten Deutschland verbunden, insofern er bis 1980 Beamter der Deutschen Reichsbahn war. Es handelt sich hierbei um ein Relikt des Deutschen Reiches: einen Bahnbetrieb, der in den Besitz der DDR übergegangen war und trotz der Teilung Berlins auch den S-Bahnbetrieb in Westberlin verantwortete. Nachdem Ebel seine dortige Arbeitsstelle verloren und erfolglos geklagt hatte, „griff [er] zum Mittel der Selbstermächtigung“ (33) und proklamierte sich schlussendlich selbst zum „Generalbevollmächtigten für das Deutsche Reich“ (ebd.).

Als ehemaliger Beamter der Reichsbahn der DDR nahm er für sich in Anspruch, Beamter des fortbestehenden Deutschen Reichs gewesen zu sein und versuchte so nicht zuletzt seine Stellung als Repräsentant einer „kommissarischen Reichsregierung“ zu legitimieren. Die Imagination eines vermeintlich realexistierenden Reiches, demgegenüber die Bundesrepublik lediglich ein illegitimes Besatzungskonstrukt sei, war geboren – eine Vorstellung, die auch gegenwärtige Reichsbürger*innen propagieren. Das kontrafaktische Fortleben des Deutschen Reiches im staatsrechtlichen Diskurs der deutschen Nachkriegsgesellschaft überlebte sich so abermals, insofern der Diskurs in neuerlich verzerrter Form und weiter ideologisierter Weise in der Reichsbürgerszene fortgesetzt wurde.

Schönberger und Schönberger konstatieren, dass die Frage, wer eigentlich das vermeintlich existierende Reich heutzutage legitim repräsentieren dürfe, in der Reichsbürgerszene hoch umkämpft sei, sodass „das juristische Mimikry dieser Reichsparallelwelt rasch von einer Vielzahl von Anwärtern auf die kommissarische Reichsregierung bevölkert“ (45) wurde. Deutungskämpfe und Abgrenzungsversuche seien bis heute prägend und führten zu einem zerklüfteten Bild einer vielfach gespaltenen und heterogenen Szene, die mit „fluiden Strukturen, starke[r] Individualisierung und zudem meist fehlende[r] fester[r] Organisation“ (60) einhergehe.

Der zweite Teil des Buches handelt nun von den unterschiedlichen Personen und Gruppen, die mit ihren jeweiligen Bezügen zur Reichsidee die Szene gegenwärtig prägen. Außer der soziodemographischen Charakteristik, dass es „sich in erster Linie um einen Extremismus von Männern in der zweiten Lebenshälfte“ (58) handele, bei denen viele auf eine weitestgehend bürgerliche Normalbiografie zurückblicken können, verbleibe das Profil eines typischen Reichsbürgers äußerst diffus. Szeneangehörige richteten sich vor allem gegen die gegenwärtige Demokratie und ließen sich nicht per se als rechtsextrem charakterisieren.

Hierzu passe nicht zuletzt „auch ihr diffuser gedanklicher Hintergrund“ (60), da kein „einheitliches ideologisches Fundament“ (ebd.), als „vielmehr einzelne ideologische Versatzstücke in unterschiedlichen Varianten und Kombinationen“ (ebd.) anzutreffen seien. Ein ideologischer Bezug auf das Recht, sei es beispielsweise die Ablehnung des Grundgesetzes und/oder die eigenwillige Interpretation internationalen Rechts, stelle den „Markenkern“ (62) der Szene dar. Neben der Fokussierung auf das Recht, werde das eigene Handeln zudem auch in stetigen Rekurs auf die deutsche Geschichte begründet und legitimiert. Teile der Szene seien zudem „von der Idee eigener Subjektivität“ (68) besessen. Der als illegitim empfundene Staat unterdrücke die individuelle Freiheit und natürliche Souveränität des Einzelnen, sodass jedwedes Behördenhandeln als Übergriff erscheint.

Handlungspraktisch können sich diese ideologischen Versatzstücke beispielsweise in der Ausfertigung eigener Ausweise und Dokumente niederschlagen; nicht selten entstehe ein regelrechter „Papierterrorismus“, bei dem insbesondere Behörden und Verwaltungen die Leidtragenden seien. Die Reichsbürger*innen agierten so „nicht in erster Linie im Untergrund“ (93), sondern begäben sich oftmalig in die offene und direkte Auseinandersetzung mit deutschen Behörden, die stellenweise aggressiv und/oder sogar gewalttätig ausgefochten werde. Nicht zuletzt träten auch Organisationen wie das Königreich Deutschland, Bismarcks Erben oder staatenlos.info mehr oder minder öffentlich in Erscheinung. Dass Teile der Szene sich allerdings durchaus auch im Recht sehen, klandestin vorzugehen und nicht vor terroristischen Bestrebungen zurückschrecken, habe sich jedoch gerade hinsichtlich der Putschist*innen um “Prinz Reuß“ gezeigt.

Im letzten Teil des Buches, überschrieben mit „Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht“ (111), erfolgt abschließend die theoretisierende Einordnung des Phänomens. Die Reichsbürger bildeten mit ihrer „Rechtsobsession […] Züge einer juristischen Laiensekte“ (113) aus. Der Kampf gegen das als illegitim empfundene Rechtssystem könne als verschwörungstheoretische Ermächtigung angesichts vielfältiger Ohnmachtserfahrungen verstanden werden. Als potentiell ohnmächtig erweise sich aber auch die geltende Rechtsordnung selbst: Nicht nur sei geltendes Recht stets (auch) auf den Glauben an seine Legitimität und somit auf weitestgehend freiwillige Anerkennung durch die ihr unterworfenen Subjekte angewiesen, auch tue sich eine Rechtsordnung damit schwer auf eine heterodoxe, parallel und in Konkurrenz zu ihr stehenden Rechtsordnung zu reagieren.

Die Reichsbürger legen in der Imagination eines eigenen Rechts, das ihrer Überzeugung nach das „wahre“ und „eigentlich gültige“ Recht sei, die Kontingenz von verbindlicher Rechtsgeltung offen – sie stießen das Recht auf seinen „ohnmächtige[n] Kern“ (120) zurück. Dies sei allerdings nicht nur eine rechtstheoretische Problematik, sondern zeige sich vor allem als ein praktisches Problem für den demokratisch verfassten Rechtsstaat. Die Reichsbürger stellten diesen vor Herausforderungen, denen vor allem „durch ein glaubwürdiges und überzeugendes Bild des Gemeinwesens, durch die vernünftige Begründung demokratischer Herrschaft und nicht zuletzt durch die alltägliche Erfahrbarkeit des demokratischen Versprechens“ (138 f.) begegnet werden müsse.

Trotz eines Umfangs von nur knapp 140 Seiten zeichnet sich Schönbergers und Schönbergers Buch durch eine differenzierte Perspektive auf das Thema aus. Es leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Reichsbürgerszene, ihren Überzeugungen und Handlungen sowie ihrer Genese im Kontext des geteilten Deutschlands. Sowohl für Interessierte, die einen Einstieg in die Thematik finden wollen, als auch für Personen, die sich bereits mit dem Phänomen der Reichsbürgerszene auseinandergesetzt haben, lohnt sich ein Blick in das Buch. Gerade die Auseinandersetzung mit dem heterodoxen Rechtsglauben der Reichsbürger*innen ist hier sehr gewinnbringend – diese Dimension wurde zu lange sowohl in allgemeiner Hinsicht auf verschwörungsgläubige Milieus als auch im Besonderen in Bezug auf die Reichsbürgerszene nur marginal adressiert. Gerade für zukünftige empirische Untersuchungen wäre es wünschenswert, dass die hier von Schönberger und Schönberger eingebrachte Perspektive aufgegriffen werden würde.

Weiter zu diskutieren bleibt allerdings die stellenweise sehr betonte Abgrenzung der Reichsbürgerszene von der extremen Rechten. Die Autor*innen gehen mehrfach auf den Umstand ein, dass die Reichsbürger*innen nicht unter den Phänomenbereich des Rechtsextremismus subsumiert werden dürfen und vielmehr als eigenständiges, ideologisches wie personell-organisatorisches, Phänomen zu begreifen sind. Dem ist zuzustimmen, wobei allerdings zu beachten ist, dass die Differenzierung beider Phänomene die hohe ideologische Anschlussfähigkeit, die dennoch vorhandenen personellen Überschneidungen und Kooperationen zwischen extrem rechten Akteuren und Reichsbürger*innen nicht einfach überblenden darf.

Die heutige extreme Rechte und die Reichsbürger fußen beide ideologisch auf der widersprüchlichen Realität des postnazistischen Deutschlands, in der damit einhergehenden nationalistischen Kränkung und den verschwörungstheoretischen und antisemitischen Rationalisierungen von Ohnmacht. Die Verhältnisbestimmung zwischen Reichsbürgerszene und extremer Rechten, als jeweils eigenständige, aber nicht isoliert zu betrachtende Phänomene, bedarf so weiterhin einer Beschäftigung. Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Rechtsüberzeugungen erscheint hier aber auch zukünftig instruktiv. Mit Schönberger und Schönberger lässt sich diesbezüglich fragen, welche Rolle es spielt, wenn einem demokratischen Gemeinwesen die rechtliche Legitimität in unterschiedlicher Weise abgesprochen wird – welchen Unterschied macht es, wenn fundamentaler Zweifel auf eine wiederherzustellende oder neu zu errichtende alternative Rechtsordnung verweist gegenüber Vorstellungen, die auf der gegenwärtigen Geltung einer alternativ-heterodoxen Rechtsordnung beharren?

Diese Frage ist nicht zuletzt in praktischer Hinsicht höchst relevant, da der genaue Umgang von Rechtsstaat und Zivilgesellschaft mit der Reichsbürgerszene weiterhin offen ist. Auch wenn man an ein einzelnes Buch kaum den Anspruch stellen kann, diese Frage zu lösen, helfen Schönbergers und Schönbergers Überlegungen die Implikationen dieser Frage in Zukunft angemessener adressieren zu können.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.9
CC-BY-NC-SA
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