Für viele Muslime und Nicht‑Muslime scheint es ihn tatsächlich zu geben: „den“ Islam; mit starren Regeln, klarer Dogmatik und gewissen Schwierigkeiten hinsichtlich Demokratie und Menschenrechten. Katajun Amirpur zeigt, dass es diese Einförmigkeit – auch in der Vergangenheit – nie gegeben hat. Die Hamburger Islamwissenschaftlerin stellt sechs muslimische Reformer vor, die den Status quo kritisieren und Ansätze einer neuen islamischen Theologie formulieren. Im Mittelpunkt steht stets die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Koran. Dass er nicht wortwörtlich von Allah offenbart wurde, wie Islamisten meinen, darin sind sich die vorgestellten Denker einig. Amirpur beschreibt, welche unterschiedlichen Schlussfolgerungen diese daraus ziehen. So interpretieren Amina Wadud und Asma Barlas einzelne Suren in genuin feministischer Manier. Außerdem weist die Autorin darauf hin, dass überlieferte Aussagen des Propheten, die dem Koran widersprechen, heute keine Gültigkeit mehr besitzen. Viele Reformer, wie der 2010 verstorbene Abu Zaid, betonen, Aussagen des Korans könnten nur in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Fazlur Rahman Malik, der insbesondere auf die türkische Theologie großen Einfluss hatte, verstand den Koran als ethischen Leitfaden, der einerseits Ideale wie soziale Gerechtigkeit beschreibe und andererseits erreichbare Zustände, die den Gegebenheiten seiner Entstehungszeit Rechnung tragen. Bei der Lektüre wird schnell deutlich: Nicht alle Islamreformer sind liberal oder progressiv. Dennoch ist ihr Bemühen um mehr interpretatorische Vielfalt die wesentliche Voraussetzung zur Veränderung des sunnitischen Mainstreams. Diesem dürften die Gedanken der vorgestellten Personen häufig ähnlich unbekannt sein wie den meisten westlich geprägten Leserinnen und Lesern. Amirpurs Buch leistet in diesem Sinne einen wichtigen aufklärerischen Beitrag für Muslime und Nicht‑Muslime.