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Sirus: Analyse / 23.11.2020

Deutsche Verteidigungspolitik. Versäumnisse und nicht eingehaltene Versprechen

Während die Bundesregierung die konzeptionellen Beschlüsse der NATO-Gipfel seit 2014 zur Stärkung der Bündnisverteidigung konstruktiv mitgestaltet hat, lässt ihr Umsetzungsverhalten gravierende Defizite erkennen. Die Realisierung ihrer langfristigen Zusagen drohe am fehlenden politischen Konsens der Koalitionsparteien zu scheitern, schreibt Rainer Meyer zum Felde und fordert unter anderem, dass die deutsche Politik zum Münchner Konsens größerer Verantwortungsbereitschaft zurückfinden und einer weiteren transatlantischen Entfremdung entgegenwirken sollte.

2014 Nato GipfelWalesAbschließende Erklärung von Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf dem Nato-Gipfel in Wales 2014, Foto: Bundesregierung/Bergmann

 

1 Einleitung

Deutschland hat sich seit 1990 als „zivile Friedensmacht“ gesehen. Es glaubte sein Ziel erreicht zu haben: Europa frei, geeint und im Frieden, Deutschland geschützt durch regelbasierte internationale Ordnung und Einbettung in multilaterale Institutionen, „umzingelt von Freunden.“ Es war keine militärische Bedrohung mehr ersichtlich. Der vormalige hohe Verteidigungshaushalt war verfügbar für Wohlstandsausbau, Wettbewerbsfähigkeit, Entwicklung, Umwelt, Klimapolitik. Es galt seither mehr denn je die Vorrangigkeit des Zivilen. Diplomatie erfolgte ohne Abstützung auf militärische Machtentfaltung, der Schwerpunkt der Sicherheitspolitik lag auf Abrüstung, Rüstungskontrolle und Ächtung der militärischen Nutzung neuer Technologien. Streitkräfte wurden bestenfalls zwar noch als notwendiges Instrument von Krisenmanagement angesehen, aber nicht mehr für Landes- und Bündnisverteidigung.

Mit dem Einschnitt von 2014 – der russischen Annexion der Krim sowie der hybriden Aggression Russlands gegen die Ukraine – hat sich das internationale Bild massiv verändert. Die Geopolitik ist zurück und mit ihr eine – im Vergleich zu den Zeiten des Ost-West-Konflikts immer noch geringe – regionale Invasionsfähigkeit Russlands. Seit Frühjahr 2014 hat die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen in mehreren Stufen erfolgten Paradigmenwechsel vollzogen, der das beschriebene Selbstverständnis und Verhalten Deutschlands als „ziviler Friedensmacht“ tiefgreifend verändert. Russland hat sich seit März 2014 als revisionistische Großmacht und potenzielle militärische Bedrohung in Europa erwiesen, auch gegen NATO-Länder. China wird mit seinem strategischen Ausgreifen (doppelte Seidenstraße; maritime Aufrüstung) zur Großmacht mit Weltmachtambitionen. Die USA fokussieren sich zunehmend auf eine mögliche Auseinandersetzung mit China. Ihre Priorität liegt auf dem indopazifischen Raum, nicht mehr auf Europa. Es gibt deutliche Anzeichen für eine zunehmende strategische Zusammenarbeit Russlands und Chinas, darüber hinaus mit Nordkorea, Syrien und Iran – Anfänge einer anti-westlichen Gegenallianz. Zugleich erleben wir eine Krise des Westens: in den USA America first, in Deutschland die Kultur der militärischen Zurückhaltung, in Großbritannien der Brexit und in Osteuropa illiberale Demokratien. Viele fragen, ob dies der Anfang vom Ende des euro-atlantischen Zusammenhalts sei.

Dieser Wandel wird in der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien sowie unter den anderen Parteien im Bundestag zwar wahrgenommen, aber es findet immer noch keine sachgerechte Auseinandersetzung mit den Konsequenzen für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik statt.1 Im Folgenden sollen die daraus entstehenden Probleme und strategischen Herausforderungen und die absehbaren katastrophalen politischen Konsequenzen aufgezeigt werden.


Anmerkung

1 Kiesewetter 2019, 27.
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Der vollständige Beitrag ist erschienen in SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 4, Heft 3, Seiten 315-332, eISSN 2510-2648, ISSN 2510-263X Online erschienen am 05.06.2020:
https://www.degruyter.com/view/journals/sirius/4/3/article-p315.xml
 
CC-BY-NC-SA
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