Volker Stanzel: Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht
„Außenpolitik wächst aus der Innenpolitik“, so die These von Volker Stanzel, die er in einer kritischen Betrachtung der veränderten globalen Konfliktlagen seit 1989 entfaltet. Er plädiert für eine Aufwertung zivilgesellschaftlichen Handelns im Bereich der Außenpolitik. Denn eine auf Teilhabe und Mitverantwortung basierende Außenpolitik biete den Bürgern die Möglichkeit mitzubestimmen und umgekehrt müsse ihnen Außenpolitik so verständlich nahegebracht werden, dass sie in die Lage versetzt werden können, ihre Interessen wiederzufinden. Eine legitime Außenpolitik bedürfe zwingend der Legitimierung durch die eigenen Bürger. Und eine intelligente Außenpolitik benötige die Handhabe, „auf die Akteure eines Krisendramas Einfluss auszuüben.“
Es hat lange in Deutschland gedauert, dass sich die Geschichte von Außenpolitik und der internationalen Beziehungen ausschließlich als Diplomatiegeschichte oder Geschichte der Staatshandlungen und der Staatslenker in Kriegs- und Friedenszeiten nacherzählen lässt. Für die USA lässt sich sogar mit gutem Recht behaupten, dass ihre Außenpolitik immer auch etwas von Welt-Innenpolitik an sich hat: Man will sich eigentlich vom Welthandel raushalten, doch die Umstände sind halt nicht so, wie man sie gerne hätte. So bleibe man eben fixiert auf America's burden to safe the world for democracy. Genau in dieses Bild fällt auch die America-first-Doktrin, die fälschlicherweise als Erfindung der Trump-Administration gilt, doch vielmehr eine lange Tradition besitzt und wesentlicher Bestandteil der American ideology ist.
Diese Einsicht trifft natürlich auch auf Deutschland zu. Die supra- und multilateralen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, die Deutschland nach 1989, aber auch schon zuvor, eingegangen ist, haben dieses System von wirtschaftlichen Abhängigkeiten, Interdependenzen und Interpenetrationen verdichten lassen und globale Ausmaße angenommen, denen kaum zu entrinnen ist. Es waren die Gewinnaussichten, die – um auf den deutschen Fall zurückzukommen – die deutsche Politik stimuliert hat, diesem Wege aktiv zu folgen beziehungsweise die Verluste und Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten. Die großen Diskussionen, die in den politischen Institutionen oder in der Öffentlichkeit in den vergangenen dreißig Jahren geführt wurden, betrafen in der Regel Materien, in denen es zwischen ökonomischen und politischen Interessen zu handfesten Konfliktlagen gekommen ist. Man denke etwa an Waffenlieferungen an kriegführende Länder, soweit sie nicht der NATO angehören. Man denke an die EU-Politik nach der Finanzkrise, deren Management wesentlich nationale Interessen berührte und mehr noch beschneiden musste. Dass dieser europapolitische Notstand die Verantwortlichen dazu verdammt haben mag, zu unkonventionellen Maßnahmen zu greifen, die prima facie rechtliches Neuland betraten und gerade in Deutschland nicht nur zu heftigster Kritik, sondern auch zur Bildung einer politischen Partei geführt hat, die sich von einer europakritischen politischen Kraft in einem geradezu atemberaubenden Tempo auf eine immer rabiater radikalisierende Weise zu einer rechtspopulistischen, in Teilen rechtsradikalen Partei verwandelt hat, lag auf der Hand beziehungsweise überraschte und entsetzte die demokratischen Kräfte aufs Äußerste.
Das Buch des früheren Diplomaten Volker Stanzel – er war unter anderem deutscher Botschafter in Japan und China, forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik, lehrt an der Hertie School of Government und ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik – widmet sich diesen brisanten Fragen der binnengesellschaftlichen Verankerung außenpolitischer Handlungen im inter- und transnationalen Rahmen. Das betrifft aber nicht alleine das Moment des passiven Erduldens übernationaler Handlungen, die sich in Bezug auf die eigenen Interessen als störend oder hemmend erweisen – auch wenn der deutsche außenpolitische Akteur daran selbst mehr oder weniger einflussreich mitgewirkt hat. Stanzel geht es vielmehr auch um die Aufwertung zivilgesellschaftlichen Handelns in forderndem, förderndem und ablehnenden Sinne in seiner Haltung gegenüber einer Außenpolitik, die nur noch mit regionalen beziehungsweise globalen Problemen konfrontiert ist und sich nur noch von einer Krisensituation zur nächsten zu schleppen scheint.
Eine zivilgesellschaftliche, auf Teilhabe und Mitverantwortung basierende Außenpolitik gibt die konkrete Möglichkeit mitzubestimmen, „wie [...] mit den Problemen der Außenpolitik unseres Landes umgegangen werden sollte“ (19). Und die Politik in demokratischen Ländern tue gut daran, den Medien und Agenden der zivilgesellschaftlichen Kräfte, die sich für transnationale Problemlagen und ihre Wahrnehmung durch die Politik einsetzen, diesen nicht aus dem Weg zu gehen und nicht mehr abschätzig zu delegitimieren. Außenpolitik müsse den Bürgern so verständlich nahegebracht werden, dass diese in die Lage versetzt werden können, ihre Interessen wiederzufinden und sie nicht nur als Nachteil empfinden (13 f.). In summa: „Außenpolitik wächst aus der Innenpolitik.“ (113)
„Die Welt ist aus den Fugen“ (17) – mit diesem Titel setzt Stanzel ein. Gleichzeitig ist es ihm eine Selbstverständlichkeit, dass es notwendigerweise eines Krisenmanagements bedarf, mit dem einzigen Zweck, Krisen zu lösen. Besser wäre es, „die dahinterstehenden Konflikte [zu] heilen“ (25). Darin spiegele sich kluge Politik. Es gibt Krisenkonstellationen – zum Beispiel im Energiebereich –, bei denen es klüger ist, sich einzumischen und nicht herauszuhalten. Auch als Mittelmacht, wie der Autor Deutschland zu Recht charakterisiert, ist eine solche Politik möglich. Nach Stanzel benötigt eine intelligente Außenpolitik die Handhabe, „auf die Akteure eines Krisendramas Einfluss auszuüben.“ Sich auf die Suche nach einer gemeinsam gefundenen Lösung zu begeben, heißt aber noch nicht, die eigenen Interessen zu kupieren. Dieser außenpolitische Spagat erfordert das Wichtigste: Ideen (29). Das gilt für alle gefährlichen Krisenkonstellationen, die die gegenwärtige Politik in Atem halten: Palästina, Afghanistan, Irak, Iran, Russland/Osteuropa, China, die Europäische Union, die USA unter Donald Trump und vieles mehr. Übrigens: Das deutsche Verhältnis gegenüber Russland ist so ein Beispiel, das die Bedeutung innenpolitischer Kritik an der deutschen Außenpolitik verdeutlicht, die einer brisanten Eigendynamik unterworfen und nicht zu unterschätzen ist: Eine breitgefächerte Mesalliance von der Linkspartei, ostdeutschen Regierungen über konservativ eingestellte Russlanddeutsche bis hin zur AfD agitieren seit geraumer Zeit für eine freundlichere Politik gegenüber russischen Interessen sowie die Lockerung von Sanktionen. (43)
Was leider unter den Tisch fällt, sind zum einen die miserable, als peripher empfundene Afrikapolitik, die sträflicherweise vornehmlich entwicklungspolitisch betrachtet wird. Gerade die chinesische Landnahme Schwarzafrikas in infrastruktureller Hinsicht sollte der deutschen Außenpolitik zu denken geben. Zum anderen ist es der Fall Nordkorea, der mehr ist, als es das Hin und Her des prekären Verhältnisses des Landes zu den USA zum Ausdruck bringt; immerhin steht im Hintergrund China.
Das für den Rezensenten lehrreichste Kapitel ist überschrieben mit „Irrtümer“ (121). Gemeint sind damit Fehleinschätzungen, Horizontverkürzungen, Realitätsverkennung und Handlungsunvermögen deutscher Außenpolitik nach 1989. Stanzel komprimiert die Komplexität dieses Zusammenhangs in der Formel „Weiter so?“ (vor allem 127-130). Beim Lesen dieses Abschnitts fiel mir spontan jener römische Feldherr ein, der sich im Krieg gegen Hannibal allen Feindberührungen enthielt und dadurch militärische Erfolge vorweisen konnte und in der Folge von den Zeitgenossen den Spitznamen „Cunctador“ – Zauderer – erhielt. Während dieser nom de guerre als Auszeichnung verstanden wurde, trifft dies für die deutsche Außenpolitik nicht zu. Die Diagnose Stanzels ergibt, dass ihre Akteure, die sich gerne als Pragmatiker ausgeben wollen und ihrem Selbstverständnis nach eigentlich den trans- und internationalen Gegebenheiten und Sachzwängen, wie sie sich nach 1989 auftaten, nur Rechnung zu tragen suchen: Sie bewegte sich zögerlich hin und her, auf die alten Rezepturen stützend, auf Kontinuität als außenpolitische Geschäftsgrundlage setzend, ohne stringente Konzeption, aber nicht ohne Flexibilitätspotenzial ausgestattet. Es mangelte an aktiver Bereitschaft, sich den neuen Bedingtheiten – Stanzel bezeichnet diese alte Gewissheiten über den Haufen werfende umwälzende Konstellation als „Weltunordnung“ (137-140) – von europäischer und globaler Politik zu stellen. Bislang galten für die deutsche Außenpolitik die Essentials: transatlantisches Bündnis (respektive Westbindung), Multilateralismus (kompromissorientierte außenpolitische Methode), Entspannungspolitik gegenüber dem Osten (Politik der kleinen Schritte), Notwendigkeit fortgesetzter Aussöhnung mit den Opfern des Nationalsozialismus, zementiert in einer speziellen Beziehung zu Israel, Wirtschaftsorientierung der Außenpolitik (114). Als Wegmarken kommen hinzu: die USA und die Sowjetunion als Bezugsgrößen im Kalten Krieg, Europäisierung und Globalisierung (129 f.).
Es seien einige bekannte außenpolitische Handlungsfelder genannt, die Stanzel herausstellt und als diskussionswürdig befindet und bei denen er in sachbezogener Manier und nicht hinterm Berg haltender Kritik die Akzentsetzungen Deutschlands auf dem Parkett der Nationen sowie den globalen Verflechtungszonen mit Vorbehalten und Skepsis versieht: Die Fukuyama-Doktrin vom Ende der Geschichte (in Amerika endism genannt) sei durch den Systemkollaps des Ost-West-Gegensatzes und den damit einhergehenden Siegeszug der liberalen Demokratie erreicht. Das hat deutsche Außenpolitiker dazu verführt zu glauben, Deutschland könne Außenpolitik. Für Stanzel ist dies „ein fataler Irrtum“. Dieser Glaube basiert auf dem bereits erwähnten „Weiter so“ (127): Die deutsche Außenpolitik war erfolgreich (das sieht auch Stanzel so), verleite aber zu der Selbstgewissheit, mit eingefahrenen Prinzipien daran anzuschließen. Die Osterweiterung der NATO im Verein mit der wirtschaftlichen Unterstützung notleidender ost- und südosteuropäischer Staaten korrespondiert – wenngleich nicht kausal – mit einer tiefgreifenden Transformation Russlands von Gorbatschows Perestroika- beziehungsweise Glasnost-Politik über das kurze, aber desaströse Zwischenspiel der Installierung marktwirtschaftlicher Strukturen hin zu einer nach innen immer autoritäreren, nach außen immer aggressiveren Politik. Die sogenannten Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr, die mit dem Jugoslawien-Konflikt einsetzten und in Deutschland große Wellen schlugen, entsprachen überhaupt gar nicht der Vorstellungswelt des Grundgesetzes beziehungsweise der Außen- und Militärpolitik.
Stanzel ist der Auffassung, dass es durchaus verständlich gewesen sei, sich aus humanitären Gründen an dieser Militäraktion zu beteiligen, eine analytische Durchdringung der Rolle der Streitkräfte im Rahmen einer realistischen Außenpolitik sei aber nicht erfolgt. Die Regierung Schröder entschied, sich nicht an der Seite der USA in den zweiten Golfkrieg zu begeben: Warum hat man diesen Moment verpasst, „die Erfolge der Einigung Europas zu nutzen und gemeinsam den Ansatz zu überwinden, den die USA verfolgten“ (135)? Im Gegensatz dazu: Als Washington darauf drängte, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, um diese Länder gegen russische Ansprüche zu schützen, stellten sich Deutschland und Frankreich 2008 diesem Ansinnen entgegen. Daraufhin ergriff die russische Seite die Gelegenheit, Georgien in einem kurzen Kaukasuskrieg eine Niederlage zuzufügen, auch deswegen, weil sich die USA nicht einmischten. Warum haben hier, so Stanzel, die Deutschen wie die Europäer nicht weitergedacht und einer Mitgliedschaft des Landes in der NATO umgehend nichts mehr in den Weg gelegt? Wenn die Bundeskanzlerin bemängelt, dass Europa außenpolitisch „nicht der aktivste Kontinent war“ (141), so setzt Stanzel dagegen und macht den Widerspruch klar: Woher soll denn die Triebkraft kommen, wenn nicht vom stärksten und größten Land in der EU?
Ein weiteres Beispiel ist die mehrmals erhobene Forderung Deutschlands nach Sitz und Stimme im Ständigen Sicherheitsrat der UNO. Stanzel wirft nicht nur die Frage in den Raum, dass auch andere wichtige Nationen dieses Anrecht geltend machen könnten, sondern er stellt auch zu Recht die grundsätzliche Frage: Wofür? Nur aus Reputationsgründen? Der Autor vertritt hingegen die Meinung, man hätte vielmehr den europäischen Faktor in der UNO stärker ins Spiel bringen müssen, dies aber gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien und nicht ohne sie (147, 210).
Eine der schwierigsten Bereiche deutscher Außenpolitik ist China. Auch hier hat man versucht, an die erfolgreiche Osteuropapolitik des Wandels durch Annäherung anzuknüpfen. Doch von westlichen Demokratievorstellungen will dieser Koloss, alles andere als auf tönernen Füßen stehend, nichts wissen. Das Land will mit dem Westen Geschäfte machen, wenn auch mit erpresserischen Mitteln. Die von China reklamierte „strategische Partnerschaft“ mit der Bundesrepublik erstreckt sich nur auf die Erzielung ökonomischer Gewinne. Diese Doktrin fußt auf dem Import westlicher Technologie – teils mit unsauberen Methoden –, deren Umformung und Beherrschung, was zur Verdrängung westlicher Unternehmen beziehungsweise zur Abschottung vor sensiblen Bereichen des chinesischen Wirtschaftssystems geführt hat. Nach außen hin versucht China teilweise – nunmehr in der Liga der Weltmächte spielend –, Druck auf andere Länder auszuüben, um einerseits eine chinafreundliche Haltung zu befestigen (eine Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik), andererseits jegliche Kritik an China durch Pressionen zu unterbinden. Das Problem für Deutschland und Europa liegt darin, dass sich der von Trump angezettelte Handelskrieg mit China ohne die Mitwirkung Europas ereignete. Deutschland braucht, so Stanzel, den freien Welthandel, aber steht nunmehr zwischen dem Verlangen nach guten Beziehungen zur Volksrepublik und dem Bündnis mit den USA (153). Apropos Trump: So ordinär, unkalkulierbar dieser Egomane auch sei –, die deutsche Politik hat weder mit ihm als Präsidenten gerechnet noch hat sie auf ihn bislang eine angemessene Antwort gefunden.
Ein oft unterschätzter Aspekt einer neuen deutschen Außenpolitik stellen die transnationalen Organisationen und vor allem Bewegungen dar, denen nach herkömmlichen Methoden kaum Rechnung getragen werde. Es gibt neue Mitspieler: die Internationalen Organisationen, die internationalen Konzerne, die nichtstaatlichen Organisationen – darin eingeschlossen eben auch der transnationale Populismus und Terrorismus. Um konstellationsbezogen und berechenbar darauf reagieren zu können, bedürfe es nach Stanzel zuweilen auch unorthodoxer Ansätze. Das Verweisen auf einstmals erfolgreiche Politiken erschöpfe sich nur in einer schleichenden Petrifizierung außenpolitischer Vorgehensweisen. Der Autor sieht vier Felder des Versagens: Sicherstellung des Zusammenhalts der EU (nicht Beanspruchung von Führungsstärke), Fehleinschätzungen von Phänomenen wie Globalisierung und Digitalisierung und der Existenz neuer Akteure in der Außenpolitik, Fehlen eines angemessenen Umgangs mit dem Rückzug amerikanischer Verantwortungspolitik in globaler Hinsicht beziehungsweise mit der neuen Großmacht China, unzureichende Ausbalancierung des veränderten Kräfteverhältnisses zwischen Russland, Osteuropa und der EU. An dieser Stelle ist Stanzel kritisch gegenüber der EU- und NATO-Erweiterung nach Osteuropa hin (179).
Was setzt der Autor dagegen, um einen neuen außenpolitischen Konsens zu gebären? Der letzte Abschnitt des Buches ist diesem Thema gewidmet. Er trägt die Überschrift: „Öffnung und Vertrauen“. Grundsätzlich erscheint das reale Beziehungsgeflecht in der Welt in erheblichem Maße verändert – zumindest in Bezug auf die Epoche vor 1989. Das Festhalten an außenpolitischen Kontinuitäten verbietet sich daher fast von selbst. Stanzel lobt ausdrücklich eine Denkweise wie die von Volker Perthes. Dieser gründet eine realistische Außenpolitik auf folgende drei Faktoren: Offenheit der Gesellschaft, umfassende Reaktion (über das institutionelle außenpolitische Netzwerk hinausgehend), Vertrauenswürdigkeit (189). Ferner gilt es, auf der supranationalen europäischen Ebene das in föderalistisch verfassten Staaten praktizierte Subsidiaritätsprinzip, das ja bereits vorhanden sei, konkret zu reaktivieren beziehungsweise zu implementieren – gewissermaßen eine Einladung zu einer Regionalisierung europäischer Politik, auch für Regionen mit sezessionistischen Traditionen und Absichten (201).
Ein anderer zentraler Punkt lässt sich unter dem Etikett strategische Autonomie Europas fassen. Damit ist die Zusammenführung aller außenpolitischen Elemente Europas gemeint, falls sich dieses nicht mehr auf den amerikanischen Schutzschirm verlassen könne. Eine solche Konstellation erscheint von heute aus gesehen kaum vorstellbar, denn zu groß sind die sicherheitspolitischen Interessen, zumal diese Interessenlagen regional unterschiedlich beziehungsweise sogar gegenläufig sind. Warum türmen sich viele Fragen auf, die kaum lösbar erscheinen: Welche Ziele sollte eine europäische Armee haben? Wie steht es mit dem Instrument der Rüstungsexportbeschränkungen? Würden alle Mitgliedstaaten das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen eingehen? Schon allein diese Problematiken sprechen nach Stanzel dafür, sich selbst nicht als Supermacht sehen zu wollen (205 f.).
Stanzel urteilt zu Recht, dass nicht der zweite Schritt vor dem ersten zu setzen ist, sondern die politische Kohärenz essenzielle Grundlage einer kohäsiven Sicherheitspolitik Europas zu sein habe (206). Und überhaupt: Stanzel findet recht warme Worte für die Vorstellung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, für den das alte Europa, wie wir es kennen, zu schwach, zu langsam und zu ineffizient sei. Nur ein starkes Europa könne Voraussetzung einer gut auszubalancierenden Tetrarchie von Freiheit, Menschenrechten und Gerechtigkeit sein. Das wäre tatsächliche Souveränität. De facto haben die Einzelstaaten nur eine eingeschränkte Souveränität. Globalpolitischer Einfluss könne aber nur gemeinsam ausgeübt werden (209, 218). Stanzel schreibt über die europäische Außenpolitik, nachdem er die neuen Konfliktlagen mit den USA, Russland, China und dem Nahen und Mittleren Osten sowie die hilflosen Reaktionen Europas darauf eindringlich gekennzeichnet hatte: „Allein durch Gemeinsamkeit und Zusammenhalt werden die Europäer in der Lage sein, sich einigermaßen gegen die Ansteckung durch die Gewalt zu schützen und sinnvolle Wege der Einflussnahme und der Kooperation mit den wenigen friedenswilligen Kräften zu finden.“ (224)
In diesem blitzgescheiten Buch schließt sich nun der Kreis: Das oft übersehene Verhältnis beziehungsweise Aufeinanderverwiesensein von Innen und Außen, von den verschiedenartigsten Lebenswelten der Menschen und den ihrer Wahrnehmung nach existenzbedrohenden Entwicklungen, die sich im Draußen abspielen und die Grenzen nach Innen schon längst überschritten haben. Stanzel kann es gar nicht oft genug zur Sprache bringen: Eine legitime Außenpolitik bedarf zwingend der Legitimierung durch die eigenen Bürger. Dazu zählt auch Mitwirkung. Aber ist die Politik bereit, auch die Außenpolitik dem Bürger gegenüber zu öffnen? Es geht um Vertrauenszuwachs, wie Stanzel meint, um die Bedingungen der Möglichkeit von Mitverantwortlichkeiten (233 ff.). Kurzum: Es bedarf eines Kulturwandels in der Politik, der Außenpolitik im Besonderen. Stanzels kritische Äußerungen führen aber nicht von der Ratlosigkeit zur Aussichtslosigkeit (236). Es sind Fundamente vorhanden, die überdacht und immer wieder umgeformt werden müssen, und zwar so, dass einstmals gültige Kontinuitätslinien nicht mehr die Außenpolitik dominieren, sondern allenfalls noch substituierenden Charakter haben. Die Musik wird aber woanders gespielt. Beherzigte die deutsche Außenpolitik diese Strategie, dann müsse sie sowieso – so zeigt sich die Realität – ihre Doktrin von „Gestaltungsmacht“ (147 ff.) mehr als deutlich hinterfragen.
Außen- und Sicherheitspolitik
Rezension
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