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Rezension / 15.10.2020

Frank Bösch / Nicole Deitelhoff / Stefan Kroll (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung

Wiesbaden, Springer VS 2020

Im Begriff der Krise verbinden sich „reale Probleme, deren Perzeption und eine Handlungsebene miteinander“. Krise sei ein essenzielles Mittel der politischen Auseinandersetzung und unterliege damit auch eigenen Konjunkturen – die sich von realen Bedrohungsszenarien unterscheiden können. Das Handbuch stelle laut Rezensent Martin Repohl die erste interdisziplinäre, konzeptionell und methodisch orientierte Publikation zum Begriff der Krise dar. Für zukünftige Forschungen werde empfohlen, Krise „stärker als einen zu beobachtenden Begriff zu verstehen, denn als Analysekategorie“.

Nicht erst seit der globalen Corona-Pandemie ist der Begriff Krise zum Schlüsselwort für das Selbstverständnis der Gegenwart geworden. Ob Klima-, Umwelt-, Flüchtlings-, Finanzkrise, Schulden- oder Brexit-Krise, die Krise der europäischen Integration, der internationalen Zusammenarbeit, der NATO und eben die Corona-Krise – offensichtlich ist kein Lebensbereich und kein Politikfeld unbelastet von als krisenhaft empfundenen Phänomenen. Doch der inflationäre Gebrauch des Begriffes, der eine umfassende Krise der Gegenwart befürchten lassen könnte, steht in deutlicher Diskrepanz zu einem übergreifenden und fundierten Verständnis, der dadurch angezeigten Phänomene auf der einen und der Funktionsweise der Krisenrhetorik auf der anderen Seite. Die Frage, was und wann Krise ist, eröffnet damit ein überaus breites und bis heute erstaunlich unerschlossenes Forschungsfeld für die Sozial- und Politikwissenschaft.

Obwohl es eine Vielzahl von Forschungen zu einzelnen Krisenphänomenen in verschiedenen Disziplinen gibt, fehlt es bisher an übergreifenden konzeptionellen Überlegungen zum Krisenbegriff selbst, die ein tiefergehendes Verständnis von Krise ermöglichen könnten. Mit dem „Handbuch Krisenforschung“ reagieren Frank Bösch, Nicole Deitelhoff und Stefan Kroll nun auf dieses Desiderat. Damit präsentieren sie die erste interdisziplinäre, konzeptionell und methodisch orientierte Publikation zum Begriff der Krise.

Die gemeinsame theoretische Grundlage der Beiträge ist hierbei ein dezidiert reflexiver Ansatz, der den Begriff der Krise selbst als zu beobachtenden Begriff versteht. Der Herausgeberkreis fasst diesen Ansatz folgendermaßen zusammen: Plädiert wird „für eine reflexive Krisenforschung, die von realen Bedrohungen ökologischer, ökonomischer, humanitärer oder politischer Bedrohungen ausgeht, die aber zugleich den konstruktivistischen Charakter von Krisendiagnosen und -dynamiken aufzeigen. Anhand von politikwissenschaftlichen und zeithistorischen Betrachtungen wird verdeutlicht, dass sich im Begriff der Krise reale Probleme, deren Perzeption und eine Handlungsebene miteinander verbinden. Für zukünftige Forschungen wird empfohlen, Krise viel stärker als einen zu beobachtenden Begriff zu verstehen, denn als Analysekategorie“ (3).

Insgesamt achtundzwanzig Autor*innen wenden diesen reflexiven Ansatz in insgesamt dreizehn Beiträgen auf eine Vielzahl von hauptsächlich politikwissenschaftlichen Themenfeldern an. Gegliedert sind diese Beiträge in folgende Themen: Zugänge zum Krisenbegriff, Perspektivierungen von Krisen, Felder sowie Techniken der Krisenbewältigung.

Konzeptionell sind insbesondere die beiden einleitenden Beiträge hervorzuheben, da diese die hier vertretene reflexive Perspektive fundieren und so die Grundlage der folgenden thematischen Beiträge bilden. So betont der Herausgeberkreis im Anschluss an seine innovative Bestimmung des Krisenbegriffs, dass dieser sowohl als Beobachtungsgegenstand als auch als Beobachtungsinstrument wissenschaftlich in Erscheinung treten kann.

Diese Unterscheidung ist keinesfalls trivial, erschließt und strukturiert sie doch das Spektrum politikwissenschaftlicher Fragestellungen im Themenfeld. So handelt es sich beim Krisenbegriff immer auch um eine soziale Konstruktion, da diese nicht einfach in der Welt sind, sondern etwa erst dann zur Krise wird, wenn es als solches narrativ anschlussfähig als Krise beschrieben wird. Das heißt, dass Krise zum einen nur dann gegeben ist, wenn diese Zuschreibung bei gesellschaftlichen Akteuren auf Akzeptanz stößt – wie zum Beispiel beim sogenannten neuen Waldsterben – und damit ein Beobachtungsgegenstand ist. Zum anderen heißt es aber auch, dass mit dieser Zuschreibung von Krise durch Akteure immer auch politische Interessen verknüpft sind.

Damit eröffnet das Beobachtungsinstrument Krise zugleich eine spannende Perspektive auf die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart und ihre machtpolitische Dynamik. Denn geht man etymologisch von Krise als Scheidepunkt und Entscheidung aus, wie Rüdiger Graf in seiner Geschichte des Krisenbegriffs im 20. Jahrhundert zeigt, wird schnell deutlich, dass „der Krisenbegriff schon allein deshalb kein vorgängig existentes Phänomen [beschreibt], weil er neben diagnostischen zugleich immer auch prognostische Komponenten enthält, sich also auf noch nicht Seiendes bezieht. Indem die Gegenwart als Krise beschrieben wird, wird sie als eine Zeit des Übergangs begriffen, in der zwei existenziell verschiedene Zukunftsvisionen gleichermaßen möglich sind und eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen ist“ (19).
Was und wann Krise ist, ist damit nicht nur Ausdruck objektiv gegebener Bedrohungslagen, sondern in Bezug dazu oder — sogar völlig unterschieden davon — Ausdruck der Konstruktion eines politischen Handlungszwanges, zur Durchsetzung eigner politischer Wertvorstellungen. Dies wurde besonders an der diskursiven Durchsetzung des Begriffes Flüchtlingskrise durch rechtsnationale Akteure deutlich, der seinerseits gewisse normative Vorstellungen intendiert. Graf verdeutlicht damit in seinem überaus bereichernden Beitrag, dass Krise ein essenzielles Mittel der politischen Auseinandersetzung ist und damit auch eigenen Konjunkturen unterliegt – die sich von realen Bedrohungsszenarien unterscheiden können.

Alle folgenden thematischen Beiträge wenden nun dieses reflexive Verständnis auf ihre jeweiligen thematischen Spezifika an – wie unter anderem Topologie, Interdependenz, Erinnerungspolitik, Demokratie, internationale Institutionen, Wirtschaft und Umwelt sowie den humanitären Bereich – und erschließen ihr Politikfeld sowohl als Beobachtungsgegenstand als auch als Beobachtungsinstrument, wodurch überaus interessante Einsichten generiert werden können.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dem Herausgebertrio sowie den Autor*innen mit dem „Handbuch Krisenforschung“ ein überaus innovativer, analytisch vielseitiger und absolut notwendiger Beitrag zu einer bisher kaum überschaubaren Debatte der Sozialwissenschaften gelingt. Mithilfe des reflexiven Ansatzes haben sie es in überzeugender Weise geschafft, eine diskursive Metaebene zu etablieren, die durch ihre ordnungsstiftende, analytische und anleitende Funktion dem Krisenbegriff über seine gesellschaftlich-historische Erscheinung hinaus eine entscheidende sozialwissenschaftliche Relevanz verleiht und völlig neue Fragedesiderate aufschließt.

Dieses Lob unterliegt nur zwei winzigen Einschränkungen: Zum einen wäre ein zusammenfassendes Nachwort wünschenswert gewesen, das nun anschließende Forschungsdesiderate vorstellt, da das Handbuch ja gerade in exzellenter Weise die Leistungsfähigkeit seines Ansatzes für viele weitere Themenfelder verdeutlichen konnte und so eine Übertragung auf weitere Themenfelder anregt. Zum anderen bleibt leider die sich nach der Lektüre aufdrängende Frage offen, warum ein solches Handbuch beziehungsweise ein solch relevanter Ansatz nicht bereits viel früher formuliert wurde.

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