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Rezension / 30.05.2023

Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent

Berlin, Rowohlt Verlag 2022

Die Folgen der jugoslawischen Nachfolgekriege wirken bis heute auf die internationale Ordnung ein. Vor allem aber prägten sie Gesellschaft, Kultur und Politik auf dem Balkan, so unser Rezensent Oliver Kannenberg. Neben den Rollen Deutschlands und der USA beschreibt Norbert Mappes-Niediek auch andere internationale Akteure und Organisationen im Kontext dieses Krieges und seiner Ereignisse. Dem erfahrenen Korrespondenten sei damit ein Buch gelungen, das kenntnisreich und in einer für Leser*innen zugänglichen Weise die komplexe Thematik präsentiert.

 

Als im ehemaligen Jugoslawien die ersten Kriegshandlungen ausbrachen, befand sich die Welt im Umbruch. Die Sowjetunion löste sich auf, die deutsche Wiedervereinigung war gerade einmal ein paar Monate her, der Zweite Golfkrieg dauerte an und die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht stand bevor. In dieser Gemengelage wurde das vielzitierte Ende der Geschichte heraufbeschworen und eine neue internationale Ordnung sollte die dritte Demokratisierungswelle und damit einhergehend den endgültigen Siegeszug der Demokratien einleiten, so die optimistischen Prognosen. Auf das, was zwischen 1991 und 2001 im ehemaligen Jugoslawien folgen sollte, war die sogenannte internationale Gemeinschaft nicht vorbereitet, so bilanziert der langjährige Balkan-Korrespondent Norbert Mappes-Niediek im vorliegenden Buch mehr als dreißig Jahre später die jugoslawischen Nachfolgekriege.

Ursachen und Verlauf der verschiedenen Konflikte in angemessenem Umfang und gleichzeitig verständlich zu beschreiben, ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Neben den offiziellen Kriegsparteien beteiligten sich Freischärler, Guerilla-Kämpfer, Milizen und Paramilitärs an den Kampfhandlungen in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Feuerpausen gab es viele, ebenso diplomatische Verhandlungsversuche. Erstere wurden selten eingehalten, letztere waren noch seltener erfolgreich. Mappes-Niediek gelingt es dennoch, den Fortgang der Ereignisse zu beschreiben, ohne die notwendige Kontextualisierung zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Immer wieder erinnert er an die Funktion von Personen, die Minderheitenkonstellation in bestimmten Landesteilen oder daran, wie das alltägliche Leben vor und während der Kriegshandlungen ausgesehen hatte. Ebenso gelingt es dem Autor die übergelagerten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse an geeigneter Stelle zu erläutern beziehungsweise mit kurzen Erinnerungssätzen ins Gedächtnis zu rufen, über wen hier gerade gesprochen wird. Dies macht das Buch für eine breite Leser*innenschaft zugänglich, da kein Vorwissen über die demografischen Besonderheiten Vukovars und Prizrens oder die kulturhistorische Bedeutung der Stadt Višegrads vorrausgesetzt wird, sondern der Autor diese Informationen gekonnt einbindet.

Dass Mappes-Niediek wenig daran gelegen war, eine trockene Geschichtserzählung niederzuschreiben, sondern im Besonderen das (Nicht-)Handeln der verschiedenen internationalen Akteure und Organisationen in den Blick zu nehmen, stellt auch einen des Buchs deutlichen Mehrwert dar. Worin bestand also die titelgebende „Überforderung“ des europäischen Kontinents? Kritik an der fehlenden gemeinsamen Linie in der europäischen Außenpolitik ist in den vergangenen Jahren und umso stärker seit dem Februar 2022 vielerorts zu vernehmen. Für die im Entstehen begriffene Europäische Gemeinschaft der 1990er-Jahre gilt dies umso stärker, insbesondere nachdem die Vereinigten Staaten unter Präsident George H. W. Bush den Jugoslawien-Konflikt zu einer europäischen Frage erklärt hatten. Aus deutscher Perspektive wird vor allem der raschen Anerkennung von Slowenien und Kroatien eine besondere Bedeutung beigemessen. Wiederkehrend wurden und werden die zügige deutsche Anerkennung und der „Alleingang“ der Kohl-Regierung als ein vermeintlicher Brandbeschleuniger für die anschwellende Konfliktsituation beschrieben. Gegenmeinungen schreiben dem diplomatischen Alleingang eine geringere Bedeutung zu beziehungsweise zeichnen durch neu erschlossene Aktenlagen und Briefwechsel des Auswärtigen Amtes ein differenzierteres Bild. Mappes-Niediek bezieht in dieser Frage keine eindeutige Position, konzentriert seine Ausführungen zuvorderst auf die Darstellung der verschiedenen Argumente und Debatten zu jener Zeit[1].

Auch im Fortgang und mit zunehmender Intensität der Kampfhandlung habe es an einer kohärenten Haltung der EG-Staaten beziehungsweise der „internationalen Gemeinschaft“ gefehlt; letztere war ein Terminus, der in diesen Jahren Hochkonjunktur gehabt habe (242). Zu unterschiedlich waren die Interessen an und in der Region sowie die jeweiligen diplomatischen Beziehungen zu den serbischen, kroatischen oder bosnischen Akteuren. Obendrein wurde die Konfliktintensität lange Zeit unterschätzt, urteilt der Autor: „Für Konflikte der jugoslawischen Größenordnung gab es Rezepte, so dachte man“ (181). Dieser Irrtum gipfelte im Bosnienkrieg schließlich im Massaker von Srebrenica, dem größten Kriegsverbrechen auf dem europäischen Kontinent seit 1945, das erst durch eine unzureichend gesicherte Schutzzone der Vereinten Nationen möglich wurde.

Die Aushandlung des Dayton-Agreements, das bis heute das politische System Bosnien-Herzegovinas formt, habe bis zum Schluss einem Polit-Thriller geglichen und höchstes diplomatisches Fingerspitzengefühl erfordert. Bis schlussendlich der Vertreter der Bosniaken, Alia Izetbegović, mit den Worten „Es ist kein gerechter Friede. Aber mein Volk braucht Frieden“ (293) die letzte fehlende Zustimmung gab, seien unzählige Verhandlungsrunden und Friedenspläne gescheitert.

Die Entsendung deutscher Tornado-Kampfflugzeuge im Rahmen der Luftschläge gegen die Armee der bosnischen Serben war der erste bewaffnete Einsatz deutscher Soldat*innen seit dem Zweiten Weltkrieg. Dieses „robuste“ Engagement sollte sich einige Jahre später wiederholen, nachdem sich die seit Jahrzehnten schwellenden Konflikte im Kosovo weiter zuspitzten. Im letzten inhaltlichen Kapitel gelingt Mappes-Niediek trotz der dazwischenliegenden und gut zwei Jahre andauernden Friedensphase die Rückbindung des Kosovokriegs an die vorangegangen Ereignisse. Während in manchen Darstellungen der Konflikt im Kosovo eher wie ein Annex A daherkommt, wird hier die Gesamtentwicklung gekonnt und nachvollziehbar in den größeren Kontext eingebunden. Die Debatte in Deutschland über einen möglichen Kampfeinsatz gegen Restjugoslawien, inklusive Hufeisen-Plan und „Nie wieder Auschwitz“-Rede, wird ausführlich nachgezeichnet und erneut in internationale Abstimmungsprozesse eingeordnet: „Paris, Madrid, Rom standen auf der Bremse, wenn es um Luftschläge ging, London und Den Haag auf dem Gaspedal, die Deutschen vorwiegend auf der Kupplung“ (334).

Die jugoslawischen Nachfolgekriege hatten Folgen für die internationale Ordnung, die kein*e Diplomat*in oder Beobachter*in vorhersehen konnte, als die ersten Schüsse an der slowenischen Grenze fielen. Bis heute sind die Kriegsfolgen in Gesellschaft, Kultur und Politik der Nachfolgestaaten omnipräsent. Norbert Mappes-Niediek gelingt es aufgrund seiner Expertise als langjähriger Korrespondent, die komplexe Geschichte dieses Konflikts kenntnisreich und zugänglich zu erläutern. Das Ergebnis ist ein in seiner Schreibweise kurzweilig zu lesendes Buch, das den Blick auf eine oftmals vernachlässigte oder verzerrt dargestellte Region wirft und dabei ausreichend Raum für Erläuterungen und Kontextualisierung lässt. Insbesondere, aber nicht ausschließlich, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen russischen Invasion in die Ukraine regt die Lektüre an, über die internationale Rolle Deutschlands und Europas nachzudenken und sich darüber hinaus daran zu erinnern, dass Europa weit mehr als die Europäische Union ist.

Anmerkung:

[1] Eine kritischere Rezeption von Michael Martens in der FAZ: https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/wie-der-vielvoelkerstaat-zerfiel-18658521.html

CC-BY-NC-SA
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