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Rezension / 03.02.2025

Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand

Zürich, Unionsverlag 2024

Der renommierte Historiker Rashid Khalidi erzählt die Geschichte des Nahostkonflikts als einen Kolonialkrieg gegen das Volk der Palästinenser*innen. Anhand von bislang unerschlossenem Archivmaterial fokussiert er sich insbesondere auf die Gewalt des israelischen Staates und die Fehler der palästinensischen Eliten. Rezensent Benedikt Ausborn sieht in dem Buch zwar eine „einseitige Geschichtsschreibung“ mit Auslassungen, dennoch biete die Betrachtung des Konflikts durch das Prisma des Kolonialismus für ein deutsches Publikum einen „hilfreichen Perspektivwechsel“.

Eine Rezension von Benedikt Ausborn

Der Streit darum, mit welchen Worten der Nahostkonflikt richtig beschrieben werden kann, ist kein rein akademisches Unterfangen. Häufig – und verkürzt – wird die Formulierung Angela Merkels zitiert, wonach die historische Verantwortung für die Sicherheit Israels Teil der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland sei. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Formulierung hierzulande benutzt wird, ist vielen Teilen der Welt unverständlich, Israels Staatlichkeit wird nicht gleichermaßen bedingungslos gebilligt.

Rashid Khalidi, Professor für Geschichte an der Columbia University, argumentiert, das „gesamte zionistische Projekt“ (23), also der Staat Israel in Palästina, habe „kolonialen Siedlungscharakter“ (ebd.). In seinem 2024 auf Deutsch (2020 im englischsprachigen Original) erschienen Buch „Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand“ vermag es der Historiker, die weltweit wohl dominierende Sichtweise auf den Nahostkonflikt nachvollziehbar darzustellen, einen gänzlich neuen Blickwinkel bietet er jedoch nicht. Aufgrund seiner Parteilichkeit ist das Werk auch keine allgemein empfehlenswerte Einführung in den Konflikt – der Jom-Kippur-Krieg von 1973 wird zum Beispiel nicht behandelt. Für ein deutsches Publikum ist das Buch dennoch interessant: Bei der Lektüre wird implizit die Diskrepanz zur dominierenden deutschen Sicht auf Israel und Palästina deutlich. Diese zeigt sich schon an der fehlerhaften Übersetzung des Originaltitels: „The Hundred Years‘ War on Palestine“ bedeutet richtig übersetzt Krieg gegen und nicht Krieg um Palästina. Israeli*nnen und Palästinenser*innen kämpfen – aus Sicht des US-amerikanisch-palästinensischen Autors – nicht als gleichgestellte und gleichartige Kontrahent*innen um das Land, der Krieg werde gegen die rechtmäßige Nation des Landes geführt.

Die Geschichte Palästinas als Geschichte der Palästinenser*innen

Die Geschichte Palästinas erzählt Khalidi als Geschichte von sechs Kriegserklärungen in sechs Kapiteln (zuzüglich Einleitung und Nachwort nach dem 7. Oktober 2023), die wahlweise die „imperialen Mächte“ (23) bzw. der Staat Israel gegen das palästinensische Volk ausgesprochen hätten. „Der Hundertjährige Krieg um Palästina“ ist eine Mischung aus wissenschaftlicher Analyse – Khalidi veröffentlichte in der Vergangenheit ausführlich zur Geschichte des Nahostkonflikts – und (auto-)biographischer Betrachtung, wobei letzteres aufgrund der oben beschriebenen Einseitigkeit erfolgreicher gelingt. Die autobiographischen Aspekte des Buches sind der Schlüssel für seine Argumentation. Wer Khalidis Werk verstehen möchte, muss sich bewusst machen, warum er dem Status der Palästinenser*innen als Volk – und damit seiner historischen Herleitung – so große Bedeutung zumisst. Ohne Volk gibt es kein legitimes Subjekt von Staatlichkeit, keine Gemeinschaft, die kollektive politische Rechte an einem Land oder auf Selbstbestimmung äußern kann. Und nur an einem Volk kann überhaupt ein Völkermord verübt werden.

Die Darstellung einer positiven palästinensischen Identität („die Liebe zum Land, der Wunsch, die Gesellschaft zu verbessern, die religiöse Bindung an Palästina“ [42]) gerät dabei langatmig, lediglich die Beschreibungen der Belagerung von Beirut 1982 schaffen es, wirklich zu fesseln. Beginnend mit der Balfour-Deklaration zeigt Khalidi die Geschichte der Palästinenser*innen anhand seiner Familie auf, die als Jerusalemer Gelehrte und Rechtsbeamte eng mit den bedeutendsten Personen der Zeit verbunden waren. Überhaupt konzentriert sich Khalidi auf den Einfluss bedeutender Persönlichkeiten und palästinensischer Eliten, die er für die Situation in Palästina mitverantwortlich macht. Sie hätten es nicht geschafft, sich in der Anfangsphase zu organisieren und seien später eine „Komplizenschaft mit ihren Gegnern“ (248) eingegangen.

Palästinensische Gewalt?

Diese Kritik palästinensischer Eliten beschränkt sich jedoch zum größten Teil auf die Misserfolge, größere Souveränität für Palästinenser*innen herzustellen. Gewalt von palästinensischer Seite behandelt Khalidi deutlich weniger als Gewalt durch den israelischen Staat. Den jordanischen Bürgerkrieg von 1970, den Schwarzen September, beschreibt Khalidi folgendermaßen: „1970 führten die Flugzeugentführungen der PFLP und die palästinensischen Exzesse in Jordanien zu einer katastrophalen Konfrontation mit dem haschemitischen Regime, die die Widerstandsbewegung nicht gewinnen konnte“ (148). Dass in Folge des Schwarzen Septembers die gleichnamige Terrororganisation aus der Fatah heraus gegründet wurde, die das Olympia-Attentat von München 1972 verübte, verschweigt Khalidi. Die PLO, für die Khalidi an den Oslo-Prozessen teilgenommen hat und die er in den 1970er-Jahren in Beirut bei ihrer Pressearbeit unterstützte, wird damit reingewaschen. Die Beschreibung des israelischen Staates als koloniales Unterfangen kann der Legitimation von Gewalt ihm gegenüber dienen – und von Gewalt gegenüber seinen Bewohner*innen. Wie der 7. Oktober gezeigt hat, ist diese Gewalt nicht lediglich nationalistisch, sondern in großen Teilen antisemitisch motiviert. Dieser Umstand ist Khalidi keiner tiefergehenden Betrachtung wert.

Einseitige Geschichtsschreibung und der Vorwurf des Kolonialismus

Es ist eine einseitige Geschichtsschreibung Rashid Khalidis, wie der (umstrittene) revisionistische[1] israelische Historiker Benny Morris in seiner Rezension zu „The Hundred Years‘ War on Palestine“[2] ausführt. Khalidi gehe nicht auf die Beziehungen der palästinensischen Bevölkerung und der jüdischen Siedler*innen ein, er betrachte die Verbindungen zwischen palästinensischen und arabischen Eliten und NS-Deutschland nicht. Ein deutsches Publikum mag die geringe Aufmerksamkeit, die Khalidi dem Holocaust zukommen lässt, überraschen. Allerdings passt die Flucht vor Verfolgung nicht zu Khalidis Erzählung eines kolonialen Unterfangens, welches durch die politische Kontrolle einer Peripherie durch eine andere politische Macht definiert ist. In seinem Wunsch, eine eindeutige Geschichte Palästinas und Israels zu schreiben, übersieht der palästinensische Historiker die Stärke, die in Brüchen, Widersprüchen und Multidimensionalität steckt. Kolonialistische Aspekte der Gründung Israels aufzuzeigen – sei es in Motivation oder Technik – muss nicht heißen, dass andere Beweggründe, Hoffnungen und Handlungen ausgeblendet werden.

Die Betrachtung des Konfliktes anhand kolonialer Züge vollzieht in einer Hinsicht einen hilfreichen Perspektivwechsel: Sie verdeutlicht und plausibilisiert die Einschätzung Khalidis, wie die Kriege in Israel und Palästina enden können. Erstens durch vollständige Assimilation der „indigenen“ Bevölkerung, zweitens durch Vertreibung oder Auslöschung oder drittens – was Khalidi fordert – durch „Aufgabe der kolonialen Vorherrschaft im Rahmen eines echten Kompromisses und einer Versöhnung, wie in Südafrika, Simbabwe und Irland“ (287). Palästinenser*innen und Israeli*nnen müssten einander gleichermaßen als zwei legitime Völker anerkennen. Und zwar „unabhängig davon, wie sie entstanden sind. Und der Konflikt zwischen ihnen kann nicht gelöst werden, solange die nationale Existenz des einen vom anderen geleugnet wird“ (297).

Die Selbstbestimmung beider Völker ernst nehmen

Im Streit die richtigen Worte zum Nahostkonflikt zu finden, bietet Rashid Khalidi keine neuen an. Den Staat Israel als kolonial zu bezeichnen, impliziert die Handlungsaufforderung, an der Unterdrückung etwas zu ändern. Gegen ein koloniales System wäre (gewalttätiger) Widerstand prinzipiell gerechtfertigt. Doch Khalidi belässt es nicht dabei. Es gebe, so führt Khalidi aus, drei mögliche Lösungen für den Konflikt: moralisch, militärisch und politisch. Moralisch für alle zufriedenstellende Lösungen seien nicht möglich, zu unterschiedlich die Maßstäbe, zu unvereinbar die Wünsche. Langfristige militärische Lösungen, also entweder Palästinenser*innen oder Israeli*nnen auszulöschen oder zu vertreiben, sei zwar technisch möglich, aber offensichtlich nicht zu akzeptieren. Die einzige gangbare Lösung, das ist die Stärke von Khalidis Betrachtungen, sei eine politische Lösung. Mit anderen Worten: beruhend auf gegenseitiger Akzeptanz und verschiedenen Kompromissen, ohne den Anspruch an moralische Reinheit.

An diesem Punkt unterläuft sich die Argumentation teilweise selbst, denn für eine politische Lösung ist die moralische Frage nach Ursprung und Gerechtigkeit, also die Frage, die Khalidi maßgeblich behandelt, nicht der Maßstab. Dennoch wird der geneigten Leserschaft nach der Lektüre klar: Es müssen Lösungen gefunden werden, die die Souveränität und Sicherheit, die Selbstbestimmung des israelischen und palästinensischen Volkes ernst nehmen und miteinander vereinbaren.  


Anmerkungen:

[1] Die israelisch-jüdischen „neuen Historiker“ versuchen seit den 1980ern die Sichtweise, die arabischen Bewohner*innen Palästinas hätten während der Nakba freiwillig ihre Wohnstätten verlassen, zu revidieren.  

[2] Morris, Benny (2020): The War on History, in: Jewish Review of Books, online unter: https://jewishreviewofbooks.com/articles/7210/the-war-on-history/ [letzter Zugriff: 12.10.2024].



DOI: 10.36206/REZ25.7
CC-BY-NC-SA
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