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Rezension / 20.06.2020

Daniel C. Mattingly: The Art of Political Control in China

Cambridge University Press 2019

Die Kontrolle der Gesellschaft gelinge in China nicht allein mithilfe von Repression, vielmehr habe sich im Land eine echte Kunst der informellen, weitgehend gewaltlosen Kontrolle entwickelt. Dabei dienten lokale zivilgesellschaftliche Gruppen als versteckte, aber wirksame Instrumente der Infiltration, um Dissens zu unterdrücken und Politiken umzusetzen. Vor allem die Kooptation lokaler Eliten stelle laut Rezensent Rainer Lisowski ein Erfolgsmuster im Arsenal der informellen Kontrolle dar. So würden etwa auf dem Lande Familienclans von Kadern wohlmeinend gestimmt.

Die Nichtregierungsorganisation Freedom House listet die Volksrepublik China für das Jahr 2020 auf dem zehnten Platz der unfreien Länder. In nur wenigen Staaten werde die Bevölkerung noch stärker unterdrückt, etwa in Somalia, Eritrea oder in Nordkorea. Das Länderprofil der unter anderem von Eleanor Roosevelt gegründeten Organisation zeichnet die Hauptgründe für eine starke Unfreiheit in China nach: Zensur der Medien, Verbote religiöser Praktiken, Verhaftung von Dissidenten, brutale Polizeigewalt gegen Proteste.

So in etwa schaut auch das in den Medien gezeichnete Bild von China im Westen aus. Doch neben dieser stählernen Faust gelingt die Überwachung der chinesischen Gesellschaft durch den Staat möglicherweise noch auf andere Weise, nämlich schleichend, beinahe wie auf Samtpfoten, wenngleich auch diese Krallen haben. Um diese Form informeller Kontrolle geht es in der hervorragenden Analyse „The Art of Political Control in China“.

Daniel Mattingly ist Assistant Professor am Department für Politikwissenschaft der Yale Universität, sein Forschungsschwerpunkt bilden autoritäre politische Systeme. Für seine Studie hat er jahrelang Daten zusammengetragen und Feldforschung vor Ort betrieben. In der knapp 200 Seiten umfassenden Publikation will er eine neue Theorie politischer Kontrolle entwickeln – ihn dabei lesend zu begleiten, ist ebenso erhellend wie spannend.

Mattingly beginnt mit der Eingangsthese, wonach die hierzulande immer stärker und unkritischer gelobte Zivilgesellschaft eine wenig beachtete dunkle Seite habe. Durch die (Selbst-)Organisation, die Art der Formierung der Gesellschaft böte sie autokratischen Staaten eine hervorragende Gelegenheit, sie selbst besser zu überwachen – und zwar weitgehend gewaltlos (20).

Die Gesellschaft zu kontrollieren, gelinge der chinesischen Regierung insgesamt auf drei Ebenen: durch Leistung, in Form von unbestreitbarem ökonomischen Aufstieg, der Millionen Menschen in die Mittelschicht gehoben habe; durch die stählerne Faust, die seiner Meinung nach in ihrer Wirkung überschätzt wird, und eben durch die von ihm beschriebenen samtenen Krallen (10 f.). Chinas Regierung habe schon in den 1980er-Jahren erkannt, dass zu viel Repression langfristig einen Boomerang-Effekt auslöst und kontraproduktiv wird (27, 65). Daher habe man verschiedene Muster informeller Kontrolle entwickelt, von denen drei im Zentrum dieser Studie stehen: 1. die Förderung und Kultivierung von Zivilgesellschaft durch die Regierung; 2. die Kooptation lokaler Eliten und 3. die Infiltration zivilgesellschaftlicher Akteure.

Bei allen diesen Mustern habe sich in China eine echte Kunst der informellen Kontrolle entwickelt. Anders als bei uns vielfach angenommen, fördere etwa der nach wie vor kommunistische (lies: atheistische) Staat oft buddhistische Tempelgesellschaften und andere Glaubensgemeinschaften, weil er die Erfahrung gesammelt habe, durch diese mögliche Konfliktlagen vor Ort besser moderieren und beruhigen zu können.

Vor allem die Kooptation lokaler Eliten scheint ein Erfolgsmuster im Arsenal der informellen Kontrolle zu sein. Viele der detaillierten Ausführungen bei Mattingly erinnern auch im Jahr 2020 an einen Klassiker der chinesischen Soziologie aus den 1950er-Jahren: Fei Xiaotongs „From the Soil: The Foundations of Chinese Society“. Bei Fragen der Mentalität und soziologischen Metastrukturen scheint sich seitdem wenig geändert zu haben; auf dem Lande bestehen weiterhin markante (Groß-)Familienstrukturen („Lineage Groups“; in etwa dem schottischen Clanwesen entsprechend [138]), die von klugen Kadern systematisch wohlmeinend gestimmt werden, indem zum Beispiel für die Renovierung von Familienschreinen geworben wird.

Immer wieder werden diese Clanstrukturen als zivilgesellschaftlicher Machtfaktor jenseits der gewählten Dorfkomitees und der nicht gewählten Parteiführung betont. Immer wieder arbeitet der Autor heraus, wie es Kadern gelingt, die sorgfältig aufgebauten und mühsam gepflegten Beziehungen zu diesen Gruppierungen für ihre politischen Ziele auszubeuten (34). Doch wie alles im Leben hat auch dieses Erfolgsmuster einen Preis: Diese lokalen Eliten haben keinerlei offizielle Titel, sie sind moralische Größen. Lassen sie sich zu stark einbinden, untergraben sie damit womöglich ihre eigene moralische Stellung und diese Kralle informeller Steuerung wird stumpf. Auch hier bleibt Politik also eine Kunst.

Wer Maos berühmte Traktate zum Guerillakrieg gelesen hat, kann sich gut vorstellen, dass das dritte Muster, die Infiltration der gesellschaftlichen Gruppen, zum Standardrepertoire der chinesischen Führung gehören wird. Umso erstaunlicher ist es, dass vor Mattingly in der politikwissenschaftlichen Diskussion hiervon wenig zu lesen war.
Hinsichtlich der Methodik entspricht Mattinglys Studie einem typischen „Mixed Methods“-Ansatz. Quantitative Methoden wie die Entwicklung von umfangreichen Datensätzen aus mehr als 400 Kommunen, Quasi-Experimenten und Umfragen werden durch qualitative Feldforschung mit über einhundert Tiefeninterviews ergänzt. Im Zentrum seiner Datensammlung stehen drei Politikfelder, die er als „veto items“ bezeichnet: Landenteignungen, die Ein-Kind-Politik und offen sichtbare Proteste der Bevölkerung (67).

Lokale Kader werden daran gemessen, wie stark sie einerseits die Regeln in diesen Politikfeldern durchsetzen, aber auch daran, ob es ihnen gelingt, dabei öffentlichen Aufruhr und Unzufriedenheit zu vermeiden. Folglich haben sie ein hohes Interesse, Konflikte leise zu lösen oder idealerweise gar bereits im Vorfeld zu vermeiden. Mattingly vergleicht für den Untersuchungszeitraum 2012-2018 repressive und nicht-repressive Strategien lokaler Kader in diesen drei Feldern und untersucht die durch sie jeweils erzeugten Ergebnisse. In der Regel schneiden die „Samtkrallen“ deutlich besser ab. Die Studie bezieht zahlreiche Dörfer in unterschiedlichen Provinzen im ländlichen China ein, denn China ist nach wie vor eine stark ländlich geprägte Nation. Mit aufwändigen statistischen Analysen versucht er, seine illustrativ geschilderten Untersuchungsergebnisse auch mit „harten Zahlen“ zu untermauern.
Mattingly glaubt mit seiner Analyse informeller Kontrollmechanismen neue Formen der politischen Kontrolle autoritärer Regime deutlicher als bisher herausgearbeitet zu haben und erkennt die beschriebenen Grundzüge auch in anderen Ländern, wie etwa in Kuba oder in Venezuela (15). Ob dies am Ende eine neue Theorie politischer Kontrolle per se ergibt, muss sich mit der Zeit zeigen. Sollten seine Thesen in der weiteren Diskussion Bestand haben, könnte ihm eine interessante Ergänzung des politikwissenschaftlichen Wissens gelungen sein.

 

CC-BY-NC-SA
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