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Rezension / 02.04.2024

Ulrich Menzel: Wendepunkte: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert

Suhrkamp, Berlin 2023

Ulrich Menzel sieht die Welt in einer Phase des hegemonialen Übergangs „vom liberalen amerikanischen zum autoritären chinesischen Jahrhundert“. Diese Epoche sei durch die Anarchie der Staatenwelt sowie die Rückkehr des Autoritären und des Krieges in Europa geprägt. Rezensentin Tamara Ehs sieht in dem Buch eine „Collage des enormen Wissensfundus von Ulrich Menzel“, der die großen Diskussionen der letzten Jahrzehnte in einen zeitgenössischen Kontext setzt, um so die Wendepunkte einer Welt im Umbruch zu verstehen. 

Die 1985 von Jürgen Habermas veröffentlichte Aufsatzsammlung „Die neue Unübersichtlichkeit“ eigne sich heute wieder gut zur Beschreibung der Gegenwart, meint der emeritierte Politikwissenschafter Ulrich Menzel und diagnostiziert eine „doppelte Zeitenwende“ (318) – hinsichtlich des Zustands der Welt, aber auch hinsichtlich der Vorstellungen, wie diese Welt sein soll. Haben wir das „demokratische Wünschen verlernt“, woran der Philosoph Andreas Hetzel vor einigen Jahren schon die Krise der Demokratie festmachte (Hetzel 2018: 18)? Ist das 21. Jahrhundert „a time shaped by a general eclipse of utopias”, wie der italienische Historiker Enzo Traverso konstatiert (Traverso 2016)? Oder belebt vielleicht gar die neue Systemkonkurrenz zu autoritären Gesellschaftsentwürfen die alternden Demokratien des Westens?

Menzel sieht die Welt in einer „Phase des hegemonialen Übergangs“ (320) wie einst beim Übergang vom britischen 19. Jahrhundert ins US-amerikanische 20. Jahrhundert. Doch während damals die normative Weltordnung von Liberalismus, Rechtstaatlichkeit und Demokratie Kontinuität und Vertiefung erfahren habe, drohten beim Wandel zum chinesischen 21. Jahrhundert ein Bruch und ein normativer Paradigmenwechsel. China widerlege die Annahmen der Modernisierungstheorie, wonach die Steigerung von Freihandel und Wohlstand mit der Demokratisierung einhergehe – und genau dies mache das Land so attraktiv für andere autoritär regierte und rentenbasierte Staaten. Immerhin sei die chinesische Expansion (Neue Seidenstraße etc.) „von keinem Missionarismus begleitet, gibt es kein ‚yellow man’s burden‘[1] […], keine humanitäre Konditionierung“ (197). Jene translatio imperii – die Ablösung eines Weltreichs durch ein anders – könne „schrittweise und kooperativ oder abrupt und gewaltsam“ (188) erfolgen. Die USA seien nicht mehr willens und/oder in der Lage, der Hegemon einer unipolaren Welt zu sein, China werde laut Staatschef Xi Jinping erst im Jahr 2049 – zum hundertjährigen Bestehen der Volksrepublik – die Führungsmacht übernehmen. Die Übergangsepoche sei ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts erfüllt von der Anarchie der Staatenwelt und somit der Rückkehr der Theorie des politischen Realismus.

Für die Positionierung der Europäischen Union im 21. Jahrhundert entwirft Ulrich Menzel fünf Szenarien, die von Aufrüstung und Protektionismus über die Unterwerfung unter die normativen Vorstellungen Chinas (mitsamt Preisgabe der liberalen und menschenrechtlichen Überzeugungen) bis hin zur Etablierung eines hegemonial agierenden Kerneuropas reichen. Das letzte, von Menzel favorisierte Szenario, besteht in einer finanziell und militärisch tatkräftigen Unterstützung, ja Kooperation mit den USA für deren Eintritt in einen dritten Hegemonialzyklus. Jedes Szenario müsse den „Ost-West-Konflikt 2.0“ (345) verhandeln, der auf einen Huntingtonschen clash of civilisations hinauslaufe. Dies bedeute politisch betrachtet: die liberale Welt gegen die autoritäre; wirtschaftlich betrachtet: neoliberaler Washington-Konsens gegen bürokratisch-autoritären „Beijing-Konsens“ (54). In einer rentenbasierten Weltwirtschaft sei nicht „die überlegene Wettbewerbsfähigkeit, sondern politische Macht die entscheidende Variable“ (223), weswegen privates Unternehmertum in China, den ölexportierenden Staaten oder in der rohstoffbasierten russischen Exportökonomie ebenso verpönt sei wie politische Partizipation der Bürger*innen zur Legitimation des Staates. Demokratie sei in der „Logik der Rente“ (205) nicht nur unnötig, sondern störend.

Jene neuen, mit China immer enger kooperierenden Mächte entlang der Neuen Seidenstraße, aber auch auf dem gesamten afrikanischen Kontinent seien laut Menzel Ausdruck einer nicht vollendeten Globalisierung des Kapitalismus. Eben weil sich der Kapitalismus nicht weltweit durchgesetzt und daher auch nicht jene sozialen Voraussetzungen geschaffen habe, die im Westen die Herausbildung liberaler, demokratischen Rechtsstaaten bedingten, stünden wir nun vor der Neuauflage eines alten Systemkonflikts. Schließlich habe die Coronakrise in aller Deutlichkeit belegt, dass „der Staat mit seinen Steuerungsfunktionen auf allen Ebenen zurückgekehrt“ (11) sei. Diese neuen Freiheitseingriffe stießen in der Bevölkerung, die auf das unternehmerische Selbst getrimmt sei, auf beträchtlichen Widerstand, wie jüngst Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ beschrieben. Die Krisenkaskade der vergangenen Jahre – von 9/11 über die Finanzkrise 2008, Flüchtlingskrise 2015, Coronakrise 2020 und zuletzt Ukrainekrieg samt Inflation und Energie(preis)krise – führe auch zu einer Krise der Demokratie. Sie habe sich zuerst im Anstieg der Nichtwähler*innen und im Parteimitgliederschwund geäußert und präge laut Menzel mittlerweile klare neue gesellschaftliche Bruchlinien („cleavages“): Diese würden zwischen den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung sowie zwischen Ökonomie und Ökologie verlaufen, sodass sich neue Milieus herausbildeten – „das kosmopolitische und das populistische“ (295). Die Etablierung des populistischen Milieus beschreibt der Autor als eine Reaktion auf die Globalisierung „in sozioökonomischer Hinsicht durch den Verdrängungswettbewerb, in kultureller Hinsicht durch die Migration insbesondere dann, wenn der Faktor Islam hinzukommt“ (296). Parteien wie die AfD oder die FPÖ griffen jene Themen auf und liebäugelten mit autoritären Systemen, die mehr Gestaltungsmacht und rasche Steuerung, ja „Führung“ zuließen als die von Liberalismus und Rechtstaatlichkeit eingehegten und somit eingeschränkten, langsamen Demokratien.

Hoffnung und Zuversicht, so der Eindruck der Leserin, lassen sich jedoch gerade im Systemkonflikt finden: Wenn es die westlichen Demokratien schaffen, auf die Probleme von Repräsentation bis Identität liberale Antworten zu geben, und das politische System durch eine Demokratisierung der Demokratie erneuern, nicht zuletzt „ein degrowth sozialverträglich realisieren“ (347), wie Menzel formuliert, können sie im Wettbewerb mit der autoritären Versuchung bestehen. Denn dass Freiheit, Bürgerrechte und Partizipation noch immer ein hohes Gut seien, habe der Arabische Frühling bewiesen, zeigten die Proteste im Iran, Demonstrationen der urbanen Mittelschicht in China gegen die Coronapolitik, und selbst in Russland brodele es trotz Zensur merklich (343).

Ulrich Menzel bietet mit seiner Aufsatzsammlung eine Ideenzeitgeschichte, indem er Diskussionen und Literatur der vergangenen 40 Jahre neu aufbereitet und in einen zeitgenössischen Kontext setzt. Das Buch ist deshalb nicht bloß ein Best-of mit Wiederabdrucken, sondern vereint überarbeitete Texte mit Originalbeiträgen, die die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche des jungen 21. Jahrhunderts mithilfe der Hegemonietheorie des politischen Realismus analysieren. „Wendepunkte“ kann als Collage des enormen Wissensfundus von Ulrich Menzel bezeichnet werden, der politikwissenschaftliche Diskussionslinien zieht und Debattenstränge aufnimmt, die nach dem Ende des Kalten Krieges, als man sich mit Francis Fukuyama am „Ende der Geschichte“ glaubte, nicht gründlich bearbeitet worden waren und deshalb heute mit umso größerer Wucht zurückkehren.


Anmerkungen

[1] Der Begriff der ‚yellow man’s burden‘ ist eine Anspielung auf die vermeintliche „white man's burden“, die historisch als eine Kurzformel für die Legitimation des Imperialismus diente.


Literatur

CC-BY-NC-SA
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