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Rezension / 16.01.2024

Eckhard Jesse: Interventionen. Zur (Zeit-)Geschichte und zur Politikwissenschaft: Extremismus, Parteien und Wahlen

Baden-Baden, Nomos Verlag 2023

Eckhard Jesse präsentiert in diesem 500-seitigen Band eine Zusammenführung seiner akademischen Schwerpunkte: Extremismus, Parteien, Wahlen und Zeitgeschichte. Analytisch „überzeugend und konstruktiv streitbar“ erkläre Jesse deutsche politische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, diskutiere historische Zäsuren, politikwissenschaftliche Schulen sowie aktuelle Themen wie die Krise der Volksparteien. Unser Rezensent bilanziert: Der Band ermögliche einen Zugang zu Jesses umfassendem Werk und überzeuge dabei durch provokative „Interventionen“ und prägnante Analysen.

Eckhard Jesse ist selbst im hohen Alter ein Vielschreiber. Der emeritierte Professor für Politikwissenschaft und ehemalige Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme an der Technischen Universität Chemnitz meldet sich immer wieder mit wissenschaftlichen und publizistischen Beiträgen zu Wort. Sein wissenschaftliches Schaffensfeld – eigentlich sind es mehrere Felder – ist breit und von anhaltender politischer und gesellschaftlicher Relevanz. Hierzu zählen die Parteien- und Wahlsystemforschung, der Extremismus in all seinen Facetten und die politische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Mit Sicherheit am streitbarsten sind Jesses theoretische Beiträge (Hufeisen-Modell) und seine zahlreichen vergleichenden Analysen zum Rechts- und Linksextremismus – seit einiger Zeit auch zum Islamismus. Um dieses Gesamtwerk angemessen zu fassen, bräuchte es mehrere /index.php?option=com_content&view=article&id=41317spezifische Bände. Mit seinem neuesten, 500 Seiten starken Band – Interventionen. Zur (Zeit-)Geschichte und zur Politikwissenschaft: Extremismus, Parteien und Wahlen – wagt Jesse den Spagat und bindet seine akademischen Leib- und Magen/index.php?option=com_content&view=article&id=41317 zusammen. Dabei lernt man nicht nur das (neuere) akademische und publizistische Werk kennen, sondern erfährt auch allerlei Privates über die Person und den Fußballliebhaber (nicht Spieler) Eckhard Jesse.

Das Buch gliedert sich in sechs Teile und umfasst insgesamt 25 Beiträge sowie einen Anhang unter anderem zu seinen mittlerweile über 100 promovierten Schülerinnen und Schülern (Die Zahl wächst weiter). Jesse habe, wie er im einleitenden Vorwort zum Band schreibt, „die Qual der Wahl“ (9) gehabt. Alle Beiträge thematisieren deutschlandspezifische Probleme, die „über den Tag hinaus“ relevant seien (9). Schon das Vorwort ist mehr als nur eine Kurzzusammenfassung nachfolgender Beiträge. Vielmehr ist es eine gleichermaßen analytische wie stilistische Gebrauchsanweisung des und zum Politologen Jesse. Schnell lernt man sein politikwissenschaftliches Analyseverständnis kennen, das an der Schnittstelle zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft angesiedelt und qualitativ-explorativ ausgerichtet ist. Jesse legt großen Wert auf das begründete Fach- und Werturteil und gehört damit zu den – im besten Sinne – streitbaren Politologen in Deutschland, die keine Scheu haben, sich normativ zu positionieren. Gemäß diesem Ansatz sind Nachvollziehbarkeit in der Analyse und Verständlichkeit im Stil wichtiger als methodische Raffinesse. Seine knappen Leitsätze können daher immer wieder gelesen werden – für Studienanfängerinnen und -anfänger sowie für Fortgeschrittene. So heißt es zur Ergebnisoffenheit der Forschung: „Der jeweilige Ansatz präjudiziert nicht das Ergebnis der Analyse. Wer die Auswahl der zu untersuchenden Aspekte nach dem gewünschten Resultat ausrichtet, verstößt gegen wissenschaftliche Gepflogenheiten“ (22). Und zur Funktion der Wissenschaftssprache: „Wissenschaft soll verstanden werden. Mithin sind Schwurbeleien, Floskeln und Modeworte unangebracht. Einfachheit in der Sprache läuft nicht zwangsläufig auf das Vereinfachen des Inhalts hinaus. Wer dem Leser zumutet, verschachtelte Sätze mehrfach zu studieren, muss Kritik akzeptieren“ (ebd.). Sicher, bereits an dieser Stelle kann dem Verfasser zugestimmt oder eine zu große Nähe zur – nicht selten als unwissenschaftlich gescholtenen – Publizistik unterstellt werden. Egal, wie man hierzu steht, eines ist offenkundig: Jesses Beiträge sind ein geschliffen eleganter Lesegenuss. Der Fußnotenapparat zeugt von der beeindruckenden, beinahe obsessiven Belesenheit des Autors. Im akademischen Kontext würde man dazu wohl „(gute) alte deutsche Politologenschule“ sagen.

Den gesamten Band muss man nicht von vorn bis hinten studieren. Die Teile bauen zwar in gewisser Weise aufeinander auf, können aber auch selektiv gelesen werden. Wer sich für historische Zäsuren und deren Nachdauern in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, ist in Teil 1 – spartanisch übertitelt mit „(Zeit-)Geschichte“ – gut aufgehoben. Hier werden am Beispiel von Nationalfeiertagen, Nationalfarben und Nationalhymnen die sich wandelnden politischen Identitäten Deutschlands behandelt. Der nachfolgende Beitrag nimmt die Chiffre 1968 in den Blick und zeigt deren 50-jährige Wirkgeschichte. Das politiksystemische Doppelepochenjahr 1989/90 steht im Zentrum des dritten Beitrags des historischen Teils. Diese Aufsätze bewegen sich alle an der Schnittstelle von Politikwissenschaft und Gesellschaftsgeschichte. In Teil 2 („Politikwissenschaft“) sticht der Beitrag über politikwissenschaftliche Schulen in Deutschland seit Gründung der BRD und der Etablierung des Fachs Politikwissenschaft hervor. Der Überblick anhand dreier politikwissenschaftlicher Schulen ist in biographischer wie institutionenhistorischer Hinsicht aufschlussreich. Er zeigt nicht nur, was eine politikwissenschaftliche Schule konstituiert, sondern auch die fachlichen wie persönlichen Verbindungen zwischen Professorinnen und Professoren sowie Schülerinnen und Schülern, deren Netzwerke Lehrstühle und Institute geprägt haben. Deutlich wird auch der Wandel von der ersten Generation westdeutscher Politikwissenschafts-Professoren (fast ausschließlich Männer), die oft aus den Nachbarfächern (Geschichte, Rechtswissenschaft) kamen und dadurch andere Denk- und Wissenschaftskulturen einbrachten. Heutzutage ist diese fächerübergreifende Sozialisierung kaum noch vorhanden, was sich etwa am Fehlen von Doppellehrstühlen für Politikwissenschaft und (Zeit-)Geschichte zeigt. Jesse bedauert diese Entwicklung und beklagt vornweg eine „weitgehende Abkehr von historischen Ansätzen“ (13) in der neueren Politikwissenschaft. Ob dadurch das gesamte Fach gleich in einer „Identitätskrise“ (13) stecke, darf diskutiert werden. Zuzustimmen ist Jesse, dass Politikwissenschaft ohne fundierte historische Kenntnisse ohne Fundament ist. Viele Entwicklungen und Phänomene in der Welt der Politik(-wissenschaft) lassen sich nur durch Bezugnahme auf historische Zusammenhänge erklären und deuten. Durch ein Übermaß quantitativer Methoden würde sich die moderne Politikwissenschaft ihrer Wurzeln entledigen und diesen teils bewusst entsagen. An diesem Punkt kann ein großer Sprung zu Teil 6 („Interviews, Briefwechsel – und Messi“) gemacht werden, wo ein Gespräch zwischen Jesse und dem Politikwissenschaftler Klaus von Beyme eben diesen Konflikt zwischen (quantitativen) „Fliegenbeinzählern“ und (qualitativen) „Märchenonkeln“ (467 ff.) einfängt. Dieser Methodenstreit ist im Grunde jahrzehntealt, und Jesse lässt keinen Zweifel, welcher Tradition er sich verbunden fühlt.

Wer sich positioniert, trägt das Risiko zu provozieren. Ein gewisses, argumentativ begründetes Provokationspotenzial kann man dem Aufsatz Corona und die stickige Debattenkultur (83-99) attestieren. Der Beitrag ist ein Stück weit symptomatisch für die generelle Rezeption seiner Extremismusforschung inklusive des populären Hufeisen-Modells. Wer den analytischen Vergleich zwischen Rechts- und Linksextremismus – aus welchen Gründen auch immer – ablehnt und verteufelt, wird hier genügend ‚Futter‘ finden, Jesse wahlweise wissenschaftlich-konzeptionelle Ungenauigkeit oder einen politischen ‚Rechtsdrall‘ zu unterstellen. Dies beginnt bei der positiven Bezugnahme auf Sahra Wagenknechts Buch Die Selbstgerechten (ein „fulminantes Buch“, 83) und endet mit einigen, teils scharfen Zuspitzungen. Exemplarisch seien hier genannt: „In Deutschland ist die Angst vor dem ‚Beifall von der falschen Seite‘ verbreitet. […] Das ist ein Zeichen für eine höchst problematische Diskussionskultur“ (97). Und weiter: „Allerdings ist die Angst vor dem ‚falschen Beifall‘ asymmetrisch. Kommt die Zustimmung von links(außen), so sieht darin niemand ein Problem. Wer allerdings von rechts(außen) Anerkennung erfährt, gerät in die Defensive. Die Befürchtung, in die ‚rechte Ecke‘ gerückt zu werden, trägt dazu [bei], dass die eigene Position zuweilen nicht angemessen Ausdruck findet“ (97). Für einige ist hier bereits sprichwörtlich ‚dünnes Eis‘ erreicht, für andere innere Genugtuung aufgrund der klaren Worte. Dessen ungeachtet sind solche Passagen im besten Sinne – getreu dem Titel des Bandes – Interventionen, die stimulieren und provozieren (dürfen). Eine offene, plurale und Sachargumenten zugeneigte Gesellschaft muss damit umgehen können. Wer sich ständig gleich bis ins Extreme provozieren – neudeutsch: triggern – lässt, verliert die notwendige sachbezogene Nüchternheit, denn die Probleme, über die Jesse schreibt, existieren nun einmal.

Die Beiträge in den Teilen 4 („Parteien“) und 5 („Wahlen“) enthalten für mit der Materie Vertraute nicht allzu viel Neues. Der Aufsatz Krise (und Ende?) der Volksparteien (307-320) wird wohl so lange aktuell bleiben, bis die letzten Volksparteien in Deutschland verschwunden oder in anderer Weise wiederauferstanden sind. Seine Beobachtung einer Bedeutungszunahme der politischen Persönlichkeit(en) bei gleichzeitig abnehmender Parteienbindung ist zutreffend. Ob dadurch das deutsche Parteiensystem ebenso von Grund auf erschüttert wird wie in mehreren anderen europäischen Staaten, bleibt abzuwarten. Garantiert wird diese Frage nach den nächsten Wahlen wieder vielfach gestellt werden. Jesse wird mit Sicherheit auch hierzu Stellung beziehen. Der letzte sechste Teil des Bands ist der privateste. Man erfährt, dass Jesse ein „Stubenhocker“ (500) in einem Haus voller Bücher sei, dass er sich leidenschaftlich für Sport, vor allem für Fußball begeistere (Lionel Messi ist ein detaillierter Beitrag gewidmet, 501-514) und dass er zwar einen Führerschein besitze, aber ohne seine Frau als Fahrerin aufgeschmissen wäre. Es sind diese Schmunzel-Details, die den Politikwissenschaftler Jesse am Ende authentisch(er) und nahbar(er) machen.

Insgesamt bietet der Sammelband einen reichhaltigen Fundus an Themen, Befunden und Beobachtungen, die analytisch überzeugen und konstruktiv streitbar sind. Die Betrachtungen zum Fach Politikwissenschaft mögen an der einen oder anderen Stelle überzogen sein; im Kern sind die Befunde aber noch viel mehr die Qualitätsempfehlungen für kommende Generationen bedenkenswert. So lange der Mensch über die Gesellschaft nachdenkt, so lange muss er in ihr und über sie urteilen. Jesse zeigt anhand diverser Streit/index.php?option=com_content&view=article&id=41317, wie dies gehen kann und wo blinde Flecken in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte vorhanden sind. Wem dies zu normativ ist, der wird hierin einen großen Kritikpunkt, mitunter die entscheidende Schwachstelle des Buchs sehen. Eine weitere Schwachstelle ist, dass Jesse zwar ungemein belesen ist, der Forschungsstand aber fast ausschließlich deutsche (Fach-)Beiträge berücksichtigt. Auch ein Sammelband zu deutschlandspezifischen Problemen kann und sollte Untersuchungen aus dem angelsächsischen Raum umfassen. Wäre es denn – allgemein wie auch für Jesse – nicht interessant zu wissen, ob und wie seine Extremismusforschung außerhalb des deutschsprachigen Wissenschaftsraums rezipiert wird? Und wie wird die politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland und der Wandel des hiesigen Parteiensystems in US-amerikanischen und britischen Fachjournals bewertet? Dieser Bezug auf die internationale Forschung fehlt, was schade ist, denn aus ihnen hätten sich womöglich wertvolle Impulse für die eigenen Diagnosen und Therapievorschläge ergeben können. Vielleicht werden diese in einem zweiten Interventionsband berücksichtigt. An zu behandelnden Themen mit Konfliktpotenzial wird jedenfalls auch in Zukunft kein Mangel herrschen.

 

CC-BY-NC-SA
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