Nichts steht mehr fest? Plurale Perspektiven auf politische Kontestation (07.-08.03.2024)
Die 4. DVPW-Perspektivtagung Nichts steht mehr fest? Plurale Perspektiven auf politisch Kontestation, organisiert von Elena Dück, Laura von Allwörden und Falk Ostermann, fand am 07. und 08. März 2024 in Kiel statt. Politikwissenschaftler*innen aus Dänemark, Deutschland und Österreich fanden hier eine Möglichkeit des Austausches über politische Kontestation aus verschiedenen Perspektiven, sowie ihre möglichen (un-)demokratischen Formen und Auswirkungen. Julia Jamila Werner von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel berichtet über die zweitägige Perspektivtagung.
Ein Tagungsbericht von Julia Jamila Werner*
Eröffnet wurde die Perspektivtagung Nichts steht mehr fest? Plurale Perspektiven auf politische Kontestation durch ein Grußwort des Dekans der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät Professor Christian Martin. Dass nichts mehr feststehe, betrachtet Martin als ein Zeichen der Post-, wenn nicht der Spätmoderne. Dabei kann Kontestation, also das Infragestellen bestehender Herrschaftsstrukturen, Ausdruck des Wettbewerbs in einer lebendigen Demokratie sein. Kontestation, verstanden als Pluralisierung des Diskurses, biete die Gelegenheit über elementare Fragen dieser Zeit nachzudenken, wie etwa über die Zukunft des Zusammenlebens in diversen Gesellschaften. Christian Martin formulierte schließlich die Bitte, die normativen und praktischen Implikationen nicht zu übersehen und die Freiheit zur „Kontestation“ in liberalen Demokratien nicht als selbstverständlich zu betrachten.
Die Organisator*innen betonten in ihrer Begrüßung ebenfalls die Herausforderungen der Zeit: den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die globale Covid-19 Pandemie und die Klimakrise. Eben diese strukturellen Krisen sollten den Hintergrund der Tagung bilden und damit zum Verständnis der zu den gegenwärtigen zusammenhängenden Krisenerscheinungen beitragen, für die der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze den Begriff der „Polykrise“ etabliert hat. Mit den Worten „Things will not be okay“ zitierte Falk Ostermann den US-amerikanische Autor und Politikberater Robert Kagan: Zwar gebe es nicht nur pessimistische Stimmen, sondern auch solche, die angesichts der Krisenszenarien entgegneten: „Na und?“. In der Wissenschaft hingegen könne es kein solches „na und?“ geben. Je nach theoretischer Ausrichtung könnte argumentiert werden, dass Kontestation als Kampf um Hegemonie ebenso wie Variation politischer Einstellungen schlichtweg normal sei. Die Kontestationsforschung zeige jedoch klar: Diese Kämpfe haben zugenommen. Ziel der Tagung war demnach, verschiedene Verständnisse zusammenzubringen und zu diskutieren, auch wenn klar war, dass mit politischer Kontestation auch Komplexität einhergehe.
Um diesen Austausch zu beginnen, wurden im Rahmen eines von Laura von Allwörden geleiteten Workshops unterschiedliche Perspektiven auf Kontestation anhand von drei Leitfragen diskutiert:
1. Was ist mein Verständnis von Kontestation?
2. Zu welchen Inhalten und mit welchem Material forsche ich oder meine Fachrichtung insgesamt zu Kontestation?
3. Was wissen wir in meiner Fachrichtung nicht zu Kontestation?
Dabei variierten die Verständnisse des Begriffs der Kontestation der Teilnehmer*innen von abweichenden normativen Lesarten über den Grad der Einbindung der Akteur*innen in Herrschaftsverhältnisse bis hin zu unterschiedlichen Auffassungen der damit verbundenen Normgenerierung und Normerosion. Die Teilnehmenden verorteten ihre Forschungsschwerpunkte etwa in den Bereichen der epistemischen Herrschaft, sozialen Gruppen, normativ geprägten Diskursen, Wissensproduktion, Demokratie, Erinnerung und der politischen Ökonomie. Offene Fragen wurden insbesondere dahingehend formuliert, wann etwas als Kontestation gilt und ob es ein „Außerhalb“ von Kontestation, also ein Nicht-Anfechten, gibt. Dabei zeigte sich, dass in einigen Forschungsbereichen bestimmte Aspekte, wie etwa eine Gegenöffentlichkeit, kontroverse Themen und die Temporalität von Akteur*innen und Kontexten aufgrund anderer Fokussierungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Gemeinsame Herausforderungen wurden in der Gefahr sich verabsolutierender Positionen gesehen. Ein Konsens bestand ebenso darin, dass in demokratischen Aushandlungsprozessen immer ein Mindestmaß an Kommunikation und ein geteiltes Demokratieverständnis notwendig sind.
Im Anschluss an den Workshop, der eine gemeinsame Basis für weitere Reflexion und Austausch ermöglichte, hielt Lisbeth Zimmermann, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Institutionen und Friedensprozesse an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Keynote mit dem Titel Nichts ist mehr sicher? Plurale Perspektiven, ein Ziel?.
Zimmermann definierte Kontestation als „the act of arguing or disagreeing about something”. Unter Bezugnahme auf den Social Science Citation Index zeigte sie, dass die Auseinandersetzung mit der Kontestation von Verfahren, Normen/Politiken, Organisationen, Ordnungen und Systemen seit den 2000er Jahren kontinuierlich an Relevanz gewonnen hat. Insbesondere in den letzten Jahren habe sich die Entwicklung verstärkt. Während Zimmermann zufolge Pluralität in internationalen Organisationen in der Vergangenheit als wichtige Vorratssetzung für die Herausbildung gemeinsamer Normen galt, ist mittlerweile zu beobachten, dass der weltweite Aufstieg der extremen Rechten auch zu Veränderungen in internationalen Organisationen führt. Dem Einfluss von rechten Netzwerken auf internationale Organisationen widmet sich das von Zimmermann geleitete Forschungsprojekt „The Effects of Far-Right Challenges on International Organizations“ (FARRIO).
Der Fokus des zweiten Tages der 4. DVPW-Perspektivtagung lag auf der Präsentation und Diskussion der Konferenzbeiträge.
In Panel I mit dem Titel Demokratie und Politics stellte Stefan Christoph in seinem Vortrag die Frage nach dem Zusammenhang von (De-)Kontestation und Demokratie. Dabei konstatierte er, dass Verschwörungstheorien nicht als demokratische Form der Kontestation zu verstehen seien. Es handle sich bei ihnen weniger um eine Ausgestaltung von Demokratie, sondern vielmehr um ihre Verwerfung.
Julia Simon gab Einblicke in die antipluralistische Kontestation der „Moms for Liberty“, einer Gruppierung vermeintlich „erwachter“ Mütter, deren Anliegen es sei, ihre Kinder vor angeblicher marxistischer Indoktrinierung in Schulen zu schützen. Julia Simon zeigte auf, dass die „Moms for Liberty“ ihr Handeln durch ein vermeintlich überlegenes Wissen von Frauen als Mütter legitimierten und sich dabei auf ein Narrativ stützten, das eine machtvoll-verschwörerische Bedrohung durch Regierung und Schulpersonal behaupte. Zudem bilde die Gruppe Allianzen mit konservativen Interessenverbänden und rechtsradikalen Milizen, um ihre Ziele zu erreichen.
Janina Renard berichtete von ihrer Arbeit zur Infragestellung von Nationalstaatlichkeit durch die Forderung nach Souveränität im Vergleich der Fälle des kanadischen Québecs und des spanischen Kataloniens. Während Renards Untersuchung nahelegt, dass das Dialoge und Verhandlungsbereitschaft das kanadische Beispiel prägen, zeichne sich das spanische Beispiel eher durch einen Konfrontationskurs aus.
Zu Beginn von Panel II, das sich den Organisationen der EU widmete, untersuchten Christiane Cromm, Sven Husmann und Jürgen Neyer , wie sich der Diskurs über die europäische Souveränität seit dem Beginn der Polykrise im Jahr 2006 verändert hat. Ergebnis dieser Analyse ist, dass ein Trend zum anhaltenden Supranationalismus sowohl in der internen als auch in der externen Dimension der Souveränität zu beobachten ist, welcher Desintegration und Fragmentierung standhalte. Dies legt Cromm zufolge die Vermutung nahe, dass die Polykrise der EU die supranationalen Institutionen eher stärkt als schwächt.
Jonas Harbke stellte stellvertretend für seine Co-Autor*innen Simon Koschut und Julia Mehlmann erste Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Affektive Kontestation: Dynamiken einer umkämpften Emotionspolitik in der europäischen Migrationspolitik“ vor. Die drei Autor*innen erörtern mit Hilfe einer qualitativen Diskursanalyse das Emotionsrepertoire von staatlichen Stellen im Gegensatz zu Äußerungen von aktivistischen Netzwerken am Beispiel der Identitären Bewegung Schwaben und der Seebrücke Konstanz. Um affektive Kontestation handele es sich bei der Infragestellung eines angemessenen Ausdrucks von Gefühlen als Gegenentwurf zu bestehenden Machtstrukturen.
Oliver Merschel legt in seiner Untersuchung einen besonderen Fokus auf Verwaltungsakteur*innen und stellte fest, dass die Bürokrat*innen der EU zwar eine Polykrise wahrnehmen, sich durch diese aber nicht als fundamental bedroht betrachten. In der Wahrnehmung, die EU-Bürokrat*innen von der Polykrise haben, stehe vielmehr im Fokus, diese zu bearbeiten. Zu einer Lähmung oder Überforderung der Verwaltungsakteur*innen führt die Polykrise der Untersuchung zufolge nicht.
Ein Forschungsprojekt über grundlegende Normen wurde durch Johanna Speyer präsentiert. Darin ergründet sie den Zusammenhang der Infragestellung von Normen und institutionellen Strukturen der EU am Fallbeispiel Polens, und ging der Frage nach, inwiefern dieser Zusammenhang das Verständnis von Kontestation der globalen Ordnung insgesamt erweitern kann. Damit leistet sie einen Beitrag zur Zusammenführung der konzeptuellen Erkenntnisse und auch Blindstellen der Forschungsstränge der Normenkontestation und der Kontestation internationaler Institutionen.
Panel III mit Beiträgen von Cornelia Baciu, Lukas Hofmann, Florian Hubert und Katja Reuter beschäftigte sich mit Institutionen, Organisationen und Ordnung. Cornelia Baciu präsentierte ihre Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Im Zentrum dieser Untersuchung stehen das Gedächtnis Internationaler Organisationen und das kollektive Gedächtnis in der Weltpolitik sowie deren Verschränkung zur Normenlegitimierung. Als Ergebnis des Beitrags nannte Baciu, dass Internationale Organisationen als Erinnerungsnormen sowie als normative Räume fungieren.
Lukas Hofmann präsentierte eine Untersuchung im Feld der Inlandsnachrichtendienste. Dabei wurde besonders das Spannungsfeld zwischen behördlichen, journalistischen und auch parlamentarischen Interessen deutlich: Während es bei Behörden um Belange wie Geheimhaltung, Sicherheit und Vertraulichkeit geht, stellen Aufklärung, Transparenz und die Befriedigung des öffentlichen Interesses journalistische oder parlamentarische Interessen dar. Anhand der sogenannten Operation Konfetti, bei der es durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zu einer umfangreichen Aktenvernichtung im Rahmen der Aufklärung der NSU-Morde kam, untersuchte Hofmann den Zusammenhang zwischen Kontestation und Staatswohl, welcher das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Stabilisierung der staatlichen Ordnung und dem Recht auf Offenlegung umfasst.
Florian Hubert stellte die konkreten Kontestationspraktiken in den Mittelpunkt. Dabei stellt er fest, dass die Kontestation von Normen nur innerhalb von Ordnungsrahmen gelingt, während zwischen unterschiedlichen politischen Ordnungen ein Mangel an gegenseitigem Verständnis herrscht.
Katja Reuter befasste sich mit der Kontestation im digitalen Zeitalter. Diese Forschung ist eine Anwendung der US-amerikanischen Habermas-Kritik auf die Kontestation der digitalen Öffentlichkeit. Daraus folgt, dass digitale Diskursräume einerseits mit einem Wegbrechen ehemals bestehender Gatekeeping-Strukturen einhergingen, was als Chance für eine emanzipative Erweiterung der Demokratie betrachtet werden könne. Andererseits bedienten sich aber auch reaktionäre Backlash-Öffentlichkeiten dieser Veränderung und gefährdeten damit demokratische Politik.
In Panel IV standen kontestierte Politikfelder im Fokus. Dabei rückten sowohl der Beitrag „Legitimität in der Krise: Eine vergleichende Analyse der deutschen Bundesländer während der Flüchtlingskrise und der Covid-19-Krise“ von Dombrowski als auch der Beitrag von „Making Silence(s) Visible - a Feminist Perspective on Europe‘s (Un)Challenged Nuclear Narratives“ von Wittenfeld und Bandemer den Zusammenhang von Krise und Kontestation in Mittelpunkt der Analyse. Während Wittenfeld und Bandemer argumentieren, dass feministische Ansätze die bestehende nukleare Ordnung herausfordern, diskutiert Eva Rieger in ihrem Beitrag wie feministische Positionen, etwa die Unterstützung von Nicht-Regierungsorganisationen, die zu Schwangerschaftsabbrüchen beraten, durch konservative Politiker*innen unter Druck geraten.
Alles in allem ist es der Perspektivtagung gelungen, durch den pluralen Blick auf politische Kontestation zu beleuchten, wie der Weg zu einer integrierten Kontestationsforschung aussehen kann. Die Perspektivtagung machte deutlich, dass es kein abgeschlossenes, einheitliches Verständnis von Kontestation gibt, sondern plurale Perspektiven, die erst in ihrer Summe ein Bild vom großen Ganzen zeichnen.
*Die Autorin des Berichts war Teil des Organisationsteams der Tagung.
Das Fach Politikwissenschaft
Weiterführende Links
4. DVPW-Perspektivtagung. Nichts steht mehr fest? Plurale Perspektiven auf politische Kontestation
Mehr Informationen zur Tagung der Universität zu Kiel.
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Externe Veröffentlichungen
Katrin Brand / 08.07.2023
Tagesschau
Beat Bumbacher / 22.10.2021
Neue Züricher Zeitung
Antje Wiener / März 2014
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