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Rezension / 15.09.2020

William Selinger: Parliamentarism. From Burke to Weber

Cambridge University Press 2019

William Selinger blickt auf die großen ideellen Wegbereiter des Parlamentarismus und spannt einen Bogen vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dabei entwickelt sich die Abhandlung zu einer Art Geistesgeschichte liberaler politischer Ideen. Der am University College London lehrende Selinger führt die unterschiedlichen Denker unter einem Motiv zusammen: dem des Parlamentarismus. Wer sich mit den ideengeschichtlichen Aspekten des Parlamentarismus befassen möchte, der wird dieses Buch mit Gewinn lesen, schreibt Rezensent Michael Kolkmann.

An aktuellen wie grundlegenden Büchern rund um parlamentarische Systeme und deren Funktionslogik herrscht wahrlich kein Mangel, unabhängig davon, ob man auf englisch- oder deutschsprachige Werke schaut. Einen etwas anderen Fokus legt jedoch der am University College London Europäische Geschichte lehrende William Selinger in dieser Publikation, die im Verlag Cambridge University Press erschienen ist. In einigen Kapiteln des Buches greift Selinger auf bereits anderswo veröffentlichte Vorarbeiten zurück, im Jahre 2017 hat er vorab den Montreal Political Theory Manuscript Award gewonnen. Er rekurriert auf die großen ideellen Wegbereiter des Parlamentarismus.

Eingangs steckt Selinger den Fokus seiner Untersuchung ab: „[M]y goal is not to provide a comprehensive intellectual history of parliamentarism but rather to capture what one might call its logic – the chain of interconnected reasons that led so many individuals to believe parliamentarism was the best or even the only framework for securing political liberty in modern European states” (11, Hervorhebung im Original).

Das Buch ist sehr detailliert, ausführlich und durchgehend kenntnisreich ausgefallen. Dabei spannt Selinger einen weiten historischen Bogen, nämlich vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Unter der Hand entwickelt sich die Abhandlung auf diese Art und Weise zu einer Geistesgeschichte liberaler politischer Ideen, und sie lädt ein zur Wiederentdeckung von Autoren, die man zu kennen meint und die sich nach der Lektüre dieses Buches trotz des zeitlichen Abstands als gewissermaßen taufrisch erweisen. Selinger führt alle diese Denker unter einem Motiv zusammen, nämlich dem des Parlamentarismus: „[F]or each of the authors […], the defining feature of a free state was that it contained a space for parliamentary politics – an assembly in which political actions were discussed and deliberated and in which executive officials were held responsible. To create a secure space and a lasting culture of parliamentary politics, they defended a specific political framework, one based on the English constitution” (1).

Selinger fokussiert seinen Begriff von Parlamentarismus auf die folgenden vier Aspekte: eine gewählte legislative Versammlung als einflussreichster Akteur im Staate, die ranghöchsten Mitglieder der Exekutive waren beziehungsweise sind zugleich Mitglieder der Legislative und konnten und können nur so lange in ihren Ämtern verbleiben, wie sie die Unterstützung aus den Reihen des Parlaments genossen, ein konstitutioneller Monarch, der seine offiziellen Prärogativen vielleicht nicht expressis verbis exerziert(e), aber vor allem durch moralische (und manchmal finanzielle) Unterstützung wirkt(e), sowie ein System miteinander konkurrierender Parteien (vgl. 2 f.).

Ein solcherart verstandenes politisches System war im 18. Jahrhundert in England zu finden. An der Wende zum 20. Jahrhundert hatte es sich über Europa, ja über die ganze Welt ausgebreitet. Inhaltlich ge- und unterstützt wurde es durch eine Reihe von Denkern, die sich mit dem Begriff des Liberalismus auseinandersetzten, etwa in Person von Benjamin Constant, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill: „but by putting parliament at the center, I hope to make these canonical authors strange and unfamiliar all over again. I will situate them not only within the wider discourse about parliamentarism that flourished during that period but also within the world of parliamentary politics itself“ (4). Selinger weist darauf hin, dass nahezu alle französischen und britischen Theoretiker des Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts parlamentarische Strukturen und Prozesse auf persönlicher Basis kennengelernt haben. Mit der Ausnahme von Walter Bagehot ist es ihnen allesamt gelungen, selbst in repräsentative Körperschaften gewählt zu werden: „these figures were profoundly shaped by the rhetorical culture of parliament. But they also struggled with the real pathologies of parliamentarism including corruption and cabinet instability“ (4).

Die zunehmende Berücksichtigung des Parlamentarismus in der britischen und der französischen Verfassungstheorie wird in der ersten Hälfte des Buches erörtert. Im ersten ausführlichen Kapitel, das immerhin 40 Seiten umfasst, wendet sich der Autor dabei den Basiselementen des Parlamentarismus im Großbritannien des 18. Jahrhunderts zu. Edmund Burke kommt in Kapitel zwei ins Spiel. Während Burke jeden der zentralen Bestandteile des Parlamentarismus – eine machtvolle repräsentative Körperschaft, die Anwesenheit von verantwortlichen Ministern im Parlament, ein verfassungsmäßig limitierter Monarch sowie ein System politischer Parteien (siehe oben) – verteidigt, bringt er sie gleichwohl in Verbindung zur Französischen Revolution. Zugleich identifiziert Selinger Burke als zentrale Figur, der das britische Parlamentsregime des 18. Jahrhunderts mit dem Modell des Parlamentarismus verbindet, wie es nach der Revolution in Frankreich bekannt wurde.

Im zweiten Teil des Buches fokussiert Selinger auf einige der großen Parlamentarismustheoretiker des 19. Jahrhunderts. Kapitel vier behandelt mit Benjamin Constant den aus Selingers Sicht wichtigsten verfassungsrechtlichen Denker. Alexis de Tocqueville steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels und John Stuart Mill in Part sechs. Diesen Dreien ist gemeinsam, dass sie argumentieren, der Parlamentarismus sei der entscheidende politische Kontext, in dem liberale Ansichten und Werte gesichert werden können. Besonders hervorzuheben ist gerade der anhand der Kapitel fünf und sechs erfolgte Vergleich zwischen dem europäischem Verfassungsmodell und dem Amerikas. Das Ergebnis ist eindeutig: Nicht nur Bagehot, sondern auch Mill und Tocqueville votierten eindeutig für das parlamentarische Modell.

Im Verlauf der Lektüre werden die Dilemmata des Parlamentarismus deutlich, etwa in Bezug auf die historische Rolle des Monarchen zwischen Aktivität und Passivität (um sich am Ende auf die Wendung „the king reigns, but does not govern“ zu verständigen). Ein zweites zentrales Thema war Korruption, changierend zwischen notwendiger Patronage (um etwa das Kabinett zu stabilisieren) und zweifelhafter Vorteilsgewährung sowie – drittens – die Rolle und Bedeutung der öffentlichen Meinung zur Stabilisierung von Parlament und Regierung.

Im Fazit betont Selinger zwei interessante Punkte: zum einen die Frage, worin die „Krise des Parlamentarismus“ am Ende des 19. Jahrhunderts bestand, und zum anderen, worin das Erbe des klassischen Parlamentarismus im 20. Jahrhundert (und darüber hinaus) bestand und besteht.

Zusammengefasst bietet das Buch eine neue und prägnante Geschichte des politischen Liberalismus unter parlamentarischen Vorzeichen. Dabei werden Liberalismus und Parlamentarismus nicht gleichgesetzt: „but if parliamentary liberalism was only one strand of liberal thought in this period, I hope to demonstrate that it was an exceptionally compelling and influential one. As the term liberalism came during the nineteenth century to signify a broad commitment to individual freedom, human progress, and political pluralism, a range of authors believed that parliamentarism was the most realistic institutional method for securing those values” (14; Hervorhebungen im Original). Er führt weiter aus: „Through reckoning with the logic of classical parliamentarism, we might gain a better vantage point on the challenges of contemporary politics – which may prove to be nothing more than the old challenges of parliamentarism in a new form” (17).

Gerade die Verbindung von theoretischem Schrifttum und empirischen Ausprägungen in der Praxis macht den entscheidenden Vorzug dieses Buches aus, genauer: die Verbindung von ganz aktuellen Fragen und Herausforderungen des Regierens in parlamentarischen Systemen und traditionellen politischen Ideen.
Eine umfangreiche Bibliografie sowie ein Index laden am Ende des Buches zum Weiterlesen und -stöbern ein. Das Werk dürfte sich für ein breites Publikum vermutlich nicht als Einführungswerk in das Wesen des Parlamentarismus eignen; wer aber auf der Grundlage einschlägiger Werke über den Tellerrand aktueller Debatten hinausschauen möchte und sich insbesondere mit den ideengeschichtlichen Aspekten des Parlamentarismus befassen möchte, der wird dieses Buch mit viel Gewinn lesen.

 

CC-BY-NC-SA
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Eine dritte, aktualisierte Auflage des Bandes ist 2018 (ebenfalls im Nomos-Verlag) erschienen.


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