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Rezension / 12.10.2023

Richard Rorty: Pragmatismus als Antiautoritarismus

Berlin, Suhrkamp Verlag 2023

Das posthum erschienene Buch umfasst Vorträge Richard Rortys aus dem Jahr 1997, in denen jener ein menschliches Zusammenleben, das noch vielfach vom Streben nach Erhabenheit strukturiert sei, ablehnt: Gott, Wahrheit, Moral, all diese Größen seien nur schwerlich hinterfragbar. In pluralistischen Gesellschaften gelte es dagegen zur Verbesserung der Lebensumstände und für den Aufbau von Vertrauen vielmehr auf das zu schauen, was konkret in den alltäglichen Beziehungen zwischen den Menschen vorhanden sei – fern ab von metaphysischen Autoritäten und Utopien. Ein philosophisches Plädoyer für das Machbare.

„[Ich] versuche […] mir auszumalen, wie die Philosophie aussähe, wenn unsere Kultur durch und durch säkularisiert würde“ (42), eröffnet Richard Rorty sein Werk. Und darum geht es ihm in dieser Textsammlung, für Rorty steht das Bekenntnis zur Selbstbestimmung des Menschen im Mittelpunkt. Der Autor verweigert sich jeder höheren Instanz, für ihn ist der Pragmatismus der „Weg zu jener Art von Freiheit, die darin besteht, dass die Menschen die vollständige rationale Verantwortung für ihre eigenen Taten und Behauptungen übernehmen“ (7). Damit beschließt Rorty sein Lebenswerk, es ist sein letztes Buch.

Das Werk ist eine Sammlung von Texten einer Vortragsreihe, die durch die Einordnung von Vor- und Nachwort in Form gebracht werden und durch kluge Aneinanderreihung eine inhaltliche Stringenz darbieten. Rorty selbst möchte mit dieser Textsammlung sowohl der Ewigkeit als auch der Erhabenheit als übernatürlicher Kraft eine Absage erteilen und eine philosophische Anschauung anbieten, die durch und durch auf das Endliche gerichtet ist. „Für uns Menschen gebe es nichts zu wissen außer unseren wechselseitigen Beziehungen und den Beziehungen zwischen uns und anderen endlichen Wesen“ (47). Rorty präsentiert mit diesem Werk im Grunde eine antiautoritäre Kritik des Repräsentationalismus.

Der Anspruch ist groß: Der Pragmatismus ziele auf eine zweite Aufklärung. Entgegen der etablierten Auffassung, geht Rorty davon aus, dass die große Leistung der ursprünglichen Aufklärung im Bereich der Ethik liege und formuliert das wie folgt: Der Pragmatismus werde durch die Verpflichtung definiert, eine zweite Aufklärung herbeizuführen. Dies solle aber über Ethik, und auch Politik, hinausgehen und auch für die Erkenntnistheorie gelten. Konkret heißt das: Genauso wie Menschen sich in der Ethik antiautoritär verhalten sollten, so sollte auch das Verhalten in der Erkenntnistheorie antiautoritär sein. Wir sollten daher die Autorität einer objektiven Realität im Hinblick auf die Richtigkeit unserer Überzeugungen ablehnen. Das bedeutet, „dass wir den mit dem Begriff der ‚alles übertrumpfenden nichtmenschlichen Autorität‘ zusammenhängenden normativen Begriff der ‚ultimativen Richtigkeit‘ […] sowohl im Bereich der Praxis als auch im Bereich der Erkenntnis preisgeben sollten“ (37). Damit ist das Antiautoritäre das Zurückweisen jedes Übernatürlichen.

Rorty liefert dabei praktische Vorschläge, wie dies im Umgang geschehen kann. So plädiert er dafür, sich von „erzeugten universellen moralischen Pflichten zu lösen“ (336). Stattdessen sollten wir eine Gemeinschaft des Vertrauens aufbauen, die den Mehrwert des eigenen Wertekonstrukts, statt auf einem Universalismus zu bestehen, auf die konkreten Vorteile zurückführt. So ließen sich viel eher Menschen anderer Gemeinschaften in die eigene Werte-Gemeinschaft holen. Nur so sei der Aufbau einer globalen moralischen Gemeinschaft, wie sie John Rawls vor Augen gehabt habe, möglich. Die Rolle des auf Augenhöhe befindlichen Erzählers einer lehrreichen Geschichte sei dafür effektiver als die rationalistische Rhetorik der Aufklärungsphilosophie.

Der Antiautoritarismus von Rorty kennt keine Autorität, die bestimmt, was als wahr und richtig anzusehen ist. Stattdessen gibt es nur uns und unsere individuellen Meinungen, Ideen und Traditionen. Der Wert einer Idee zeigt sich darin, wie sie zum allgemeinen Wohl beiträgt. Um festzustellen, was dieses Wohl bedeutet, ist es notwendig, sich mit den Ansichten und Wünschen anderer auseinanderzusetzen und bereit zu sein, die eigenen Überzeugungen zu überdenken. Der Antiautoritarismus, den Rorty vertritt, beginnt bei jedem Einzelnen von uns. Die politische Botschaft des Pragmatismus als Antiautoritarismus besteht darin, dass Vertrauen als Grundlage dient, das Gespräch als Mittel genutzt wird und das Ziel die Emanzipation ist.

Ein langer Gang durch die Philosophiegeschichte untermauert Rortys Position zum Pragmatismus: Denken ohne Autorität muss sein. Dafür bindet Rorty die kontinentale mit der analytischen Philosophie zusammen, handelt Jacques Lacan, Slavoj Žižek und Jacques Derrida in einem Kapitel ab, John Dewey, Bertrand Russell und Charles Sanders Pierce im anderen. Rorty weist jeglichen Respekt vor dem Erhabenen zurück, und fordert Skepsis gegenüber dem Willen Gottes wie auch politischen Vorschlägen, die auf großen Theorien des Wesens der Moderne fußen. Sein Antiautoritarismus ist „die Verdrängung der Objektivität […] durch Intersubjektivität“ (86), also das Zurückweisen eines Gehorsams gegenüber einer höheren Macht für den freien Konsens zwischen den Angehörigen einer Gruppe derer, die neugierig genug sind, um zu forschen.
Das Werk wird von einem umfassenden Vorwort von Robert B. Brandon und einem ausführlichen Nachwort von Eduardo Mendieta flankiert. Vor allem das Vorwort kann dabei als Zusammenfassung und Einordnung verstanden werden. Für Brandon ist Rorty ein „Prophet einer bestimmten Form der emanzipatorischen, reflektierenden Vernunft“ (40) in einer Linie mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Ganz so weit muss man nicht gehen, aber Rortys Plädoyer für einen säkularen und somit antiautoritären Zugang zur Erkenntnistheorie ist überzeugend. Damit hat Rorty nicht an Aktualität eingebüßt und bereichert aktuelle Debatten über die Wahrheit und den Zugang zu derselben.
Das Nachwort von Mendieta führt alle aufgenommenen Fäden des Buches klar zusammen: „zum Antiautoritarismus in Erkenntnistheorie und Ethik gelangen wir, sobald wir den Pragmatismus das unvollendete Projekt der Aufklärung voranbringen lassen […] sobald wir von nichts anderem ausgehen können als der Horizontalität der sprachlichen und sozialen Praktiken des Menschen“ (405).

Mit diesem abschließenden Buch schafft Rorty damit ein hoffentlich bleibendes Vermächtnis. Sein Plädoyer für das Zurückweisen des Erhabenen und jeder höheren Instanz und sein Aufruf, skeptisch zu bleiben – ohne Überzeugungen aufzugeben –, ist notwendiger denn je.

 

CC-BY-NC-SA
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