Martyna Linartas: Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann
In kaum einem anderen westlichen Land ist das Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland – und ein Großteil davon wird vererbt. In ihrem Buch seziert die Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas anschaulich und fundiert die Gründe, Ausmaße und Folgen der immer weiter steigenden Ungleichheit. Außerdem erklärt sie, wie eine Besteuerung von Superreichen konkret aussehen könnte. Christoph Butterwegge, Koryphäe der Ungleichheitsforschung, lobt das Buch in seiner Rezension und fordert: „Die Eigentumsfrage muss endlich auf den Tisch!”
Eine Rezension von Christoph Butterwegge
Seit einiger Zeit gewinnt die soziale Ungleichheit in der politischen, wissenschaftlichen und Medienöffentlichkeit unseres Landes größere Aufmerksamkeit. Als ein Beleg für diese Feststellung kann die Veröffentlichung des Buches von Martyna Linartas, das aus der englischsprachigen Dissertation seiner Verfasserin hervorgegangen ist, ebenso gelten wie die Resonanz auf diese Publikation weit über akademische Fachkreise hinaus.[1]
In dem Buch, das unter den jüngsten Veröffentlichungen zum Thema „Ungleichheit“ durch seine fundierte Argumentation, seine prägnante Darstellungsweise und seine verständliche Sprache hervorsticht, geht es nicht bloß um die Weitergabe des Privatvermögens und deren gesetzliche Regelung einschließlich seiner Besteuerung, sondern auch um den Charakter der Bundesrepublik. Linartas nennt Deutschland, das sich traditionell als Erwerbsgesellschaft versteht, eine „Erbengesellschaft“, was dem Leitsatz „Leistung muss sich lohnen“ der neuen Bundesregierung diametral widerspricht. Der private Reichtum beruht immer seltener auf persönlicher Leistung, ist es doch keine Leistung, das Kind eines Millionärs, Multimillionärs bzw. Milliardärs zu sein, der heute einen ganzen Konzern auf die nächste Generation übertragen kann, ohne dass Erbschaft- oder Schenkungsteuer anfällt.
Mit überzeugenden Argumenten kritisiert Linartas die in der Öffentlichkeit vorherrschende Konzentration auf das Einkommen, wenn es um die Kluft zwischen Arm und Reich geht. Denn die Einkommensquelle kann versiegen, wie Lockdowns während der Covid-19-Pandemie zur Genüge bewiesen haben. Dagegen verschwindet ein Vermögen, das für den Reichtum konstitutiv ist, Arme jedoch gar nicht haben, sehr viel seltener. Entscheidend ist neben seiner Quantität auch die Qualität: Betriebsvermögen bildet die Krönung des Reichtums in einem kapitalistischen Industriestaat wie der Bundesrepublik.
Mythen über Ungleichheit
Linartas hat für ihre Forschungsarbeit mehrere Spitzenmanager von DAX-Konzernen befragt und zitiert viele Passagen aus den Interviews, um die Narrative, mit denen die Wirtschaftselite ihre privilegierte Stellung rechtfertigt und die Ablehnung von Umverteilungsmaßnahmen begründet, anschließend einer überzeugenden Kritik zu unterziehen. Hervorragend gelungen ist ihr auch die Nachzeichnung der wechselhaften Entwicklung, welche die Erbschafts- und Vermögensbesteuerung während der vergangenen hundert Jahre genommen hat.
Eine weitere Stärke des Buches von Linartas besteht darin, nicht bloß die Ungleichheit erzeugenden Verteilungsmechanismen der Gesellschaft aufzudecken, sondern auch zahlreiche Mythen zu entlarven, mit denen Umverteilung von Unten nach Oben legitimiert wird. Überzeugend widerlegt Linartas beispielsweise die Legende, dass der Aufstieg durch Bildung ein für alle gangbarer Weg aus der Armut und der Schlüssel zur Verringerung der sozialen Ungleichheit sei.
Nur an ganz wenigen Stellen geht Linartas fehl oder drückt sich zumindest unglücklich aus. So etwa, wenn sie schreibt: „Soziale Mobilität? Gibt es nicht länger in Deutschland“ (47). Doch, aber vornehmlich in Form der Abwärtsmobilität! Zustimmend zitiert die Autorin den Soziologen Ulrich Beck,[2] dessen berühmter „Fahrstuhl-Effekt“ (70) auch in den frühen „Wirtschaftswunder“-Zeiten der Bundesrepublik allerdings eher ein Paternostereffekt war: Während die einen nach oben fuhren, fuhren die anderen nach unten. Auch warum Antonio Gramsci, Begründer der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), kein Marxist gewesen sein soll (60), leuchtet nicht recht ein. Weil er die Hegemonietheorie im faschistischen Gefängnis schrieb, musste sich Gramsci jedoch einer gemäßigten Ausdrucksweise bedienen, was seinen politischen Standpunkt weniger erkennbar machte.
An einer Stelle irrt Linartas gewaltig: „Der Neoliberalismus liegt bereits im Sterben“ (167). Denn bekanntlich leben Totgesagte länger, und eher hat sich der Neoliberalismus dadurch normalisiert, dass er mittlerweile tief ins Alltagsbewusstsein vieler Menschen eingedrungen ist. Wer fragt sich heute denn nicht, ob sich etwas rechnet, wie man den (eigenen) Marktwert steigern kann und wie sich effizienter arbeiten lässt?
Warum das Grunderbe keine „Wunderwaffe“ ist
Wie dem Untertitel des Buches zu entnehmen ist, liegt ein Schwerpunkt auf den politischen Gegenmaßnahmen, mit denen sich Ungleichheit bekämpfen lässt. Neben der Erbschaftsteuer (für Firmenerben) favorisiert Martyna Linartas unter Berufung auf Anthony Atkinson und Thomas Piketty das Grunderbe, in dem sie „eine Wunderwaffe gegen Ungleichheit“ (17) sieht. Bei Erreichen der Volljährigkeit sollen alle Gesellschaftsmitglieder vom Staat mindestens 20.000 Euro erhalten. Allerdings teilt das Grunderbe mit den übrigen Spielarten eines bedingungslosen Grundeinkommens dessen zentrale Schwachstellen, ohne dass sich Linartas mit der Kritik an ihm auseinandersetzt.
Einerseits würde sich an der hierzulande bestehenden Verteilungsschieflage wenig ändern. Ein junger Millionär würde sogar noch reicher, während ein junger Müllwerker oder eine junge Minijobberin zwar ein kleines Vermögen bilden könnte, ohne dass sich ihr finanzieller Abstand zu dem Millionär verringern würde. Dass der junge Millionär zur Refinanzierung des Grunderbes beitragen müsste, erscheint angesichts der bei den politisch Verantwortlichen gegenüber Steuererhöhungen jedweder Art bestehenden Vorbehalte unwahrscheinlich.
Andererseits löst es das drängende Problem der Kinderarmut nicht, weil die Unter-18-Jährigen (zunächst) leer ausgingen. Darüber hinaus müsste es Millionen armen Familien, Rentner*innen und Minijobber*innen wie Hohn erscheinen, wenn der Staat junge Erwachsene über Nacht zu „kleinen Kapitalisten“ machen würde, während sie kaum über die Runden kommen und auch keinen Anspruch auf solch eine großzügige Leistung hätten.
Weil das Grunderbe alle Menschen, die es bekommen sollen, über einen Leisten schlägt, schafft es keine Gerechtigkeit. Weder spielt der individuelle Bedarf noch die unterschiedliche Leistung eine Rolle. Schon Aristoteles wusste aber, dass man Gleiche gleich und Ungleiche ungleich behandeln muss, soll es gerecht zugehen. Mit einer Verteilungspolitik nach dem Gießkannenprinzip ist sozial Benachteiligten kaum gedient, weil sich die Kluft zwischen Arm und Reich nur schließt, wenn Umverteilung von Oben nach Unten stattfindet. Überdies erweckt das Grunderbe den falschen Eindruck, die soziale Scheidelinie verlaufe in unserem Land nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Jung und Alt.
Die Eigentumsfrage muss auf den Tisch
Linartas geht zu Recht davon aus, dass die Ungleichheit durch Wiedererhebung der Vermögensteuer selbst dann nicht beseitigt werden kann, wenn man diese durch eine Vermögensabgabe nach dem Vorbild des 1952 von einer CDU/CSU/FDP-Koalition geschaffenen Lastenausgleichs ergänzen würde, weil die Renditen großer Vermögen einfach zu hoch sind. Das vorausgesetzt, stellt sich die Systemfrage, der Linartas jedoch ausweicht. Umverteilung von Oben nach Unten ist überfällig, aber mitnichten genug, weil die sozioökonomische Ungleichheit selbst im Falle einer konsequenteren Besteuerung großer Vermögen zementiert würde.[3] Längerfristig sollte die Umverteilung des Reichtums in eine tiefgreifende Umgestaltung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems münden, wenn man die durch seine Funktionsweise erzeugte sozioökonomische Ungleichheit für immer beseitigen will. Dauerhaft lässt sich die Ungleichheit nur verringern, wenn die Eigentumsfrage gestellt und durch die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien ebenso wie der Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung und eine Verstaatlichung von Banken und Versicherungen beantwortet wird.
Armut und Reichtum reproduzieren sich unter der Voraussetzung, dass sich an den Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen nichts Wesentliches ändert. Korrekturen der Sekundärverteilung genügen längst nicht mehr, um die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Vielmehr sind grundlegende Strukturveränderungen nötig, was in der politischen Öffentlichkeit bisher kaum thematisiert wird, sondern weitgehend tabuisiert ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Linartas, Martyna (2023): Different But Same. The Role of The Inheritance Tax and Narratives of the Economic Elites for Wealth Inequality in OECD States: The Cases of Mexico and Germany, Diss. FU Berlin.
[2] Vgl. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[3] Vgl. hierzu: Butterwegge, Christoph (2024): Umverteilung des Reichtums, Köln: PapyRossa Verlag.