Rapic, Smail (Hg.): Wege aus dem Kapitalismus? Autorengespräche mit Colin Crouch, Nancy Fraser, Claus Offe, Wolfgang Streeck und Joseph Vogl
Wie könnte ein Ausstieg aus dem Kapitalismus aussehen – und ist er überhaupt möglich? In Gesprächen mit Colin Crouch, Nancy Fraser, Claus Offe, Wolfgang Streeck und Joseph Vogl werden zentrale Krisenerscheinungen des Kapitalismus diskutiert: wachsende soziale Spaltung, ökologische Zerstörung, Machtverschiebungen zugunsten ökonomischer Eliten und die Erosion demokratischer Strukturen. Unser Rezensent Thomas Mirbach schätzt den Band vor allem wegen seiner dialogischen Form, durch die zentrale Kapitalismuskritiken prägnant und vielschichtig herausgearbeitet werden.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Lange Zeit schien es, so leiten Immanuel Wallerstein et al. ihre Entwürfe für Szenarien des 21. Jahrhunderts ein[1], als ob es mit dem Ende des Kalten Krieges vor gut drei Jahrzehnten unzeitgemäß, wenn nicht anstößig geworden wäre, über die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus sprechen zu wollen. Aber spätestens seit der Weltfinanzkrise 2008 und deren Folgen – so die Autoren – hätten weltweit tiefgreifende interne und externe Strukturkrisen die Frage nach einem Ende des Kapitalismus wieder relevant werden lassen. Während Michael Mann und Craig Calhoun dessen Fortbestand von einer entschiedenen Revitalisierung sozialstaatlicher Programmatik abhängig machen, gehen Immanuel Wallerstein und Randall Collins davon aus, dass das kapitalistische System nicht in der Lage sein werde, die notwendige „Internalisierung der gesellschaftlichen und ökologischen Reproduktionskosten auf wirklich planetarischer Ebene“ zu leisten[2]. Der von Smail Rapic, Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal, herausgegebene Sammelband[3] möchte die Fragestellung von Wallerstein et al. in einer interdisziplinären Perspektive fortführen (14), wobei die Blickrichtung jetzt mit „Wegen aus dem Kapitalismus“ etwas offener gehalten ist als die an die Weltfinanzkrise anschließende Diskussion über ein Ende des kapitalistischen Systems.
Anders als bei thematisch vergleichbaren Publikationen (wie auch der von Wallerstein et al.) bietet der Band keine Sammlung von Abhandlungen, die die Zukunftsaussichten des Kapitalismus an einzelnen Aspekten diskutieren. Stattdessen wird der Zugang über eine Befragung relevanter theoretischer Perspektiven gesucht, die sich – in einem weiteren Sinne marxistisch inspiriert – kritisch mit kapitalistischer Dynamik und deren Konsequenzen für Vergesellschaftung auseinandersetzen. Zwischen 2016 und 2022 sind Autorengespräche mit Nancy Fraser, Joseph Vogl, Colin Crouch, Claus Offe und Wolfgang Streeck geführt worden. Dem Format nach folgen die einzelnen Gespräche einem lockeren Rahmen: Inhaltliche Einleitung durch die jeweilige Referenzautor*in, Kommentare und Nachfragen seitens der Diskussionsrunde sowie Stellungnahmen der befragten Autor*innen. An den Gesprächen mit den Autor*innen haben sich Jens Beckert, Maria Behrens, Christoph Deutschmann, Peter Imbusch, Tobias Nikolaus Klass, Regina Kreide, David Löw Beer, Georg Lohmann, Jo Moran-Ellis, Patrizia Nanz, Frank Nullmeier, William Outhwaite, Reinhard Pfriem, Smail Rapic, Anne Reichold, Darrow Schecter, David Strecker und Lutz Wingert beteiligt.
Zum Zusammenhang von Weltfinanzkrise, Demokratie und Zukunft des Kapitalismus
Einleitend bezieht der Herausgeber und Initiator der Autorengespräche die vorgetragenen Positionen resümierend auf die inhaltlichen Schwerpunkte des Rahmenthemas (15 ff.). Das von ihm entworfene Bild zeigt etliche Entsprechungen in der Kapitalismusdiagnose und eher wenige Unterschiede in den Erwartungen künftiger Entwicklung. Wesentliche Ursache der Weltfinanzkrise sei der von der neoliberalen Wende der Wirtschaftspolitik ausgelöste Anstieg privater und öffentlicher Schulden gewesen. Der Versuch, das ausbleibende Wachstum der Realwirtschaft durch Lockerung von Konditionen der Kreditvergabe zu kompensieren, habe in den angelsächsischen Ländern zu verheerenden Verschuldungen von Privathaushalten geführt. Diesem gleichsam „privatisierten Keynesianismus“ (Crouch) entsprach eine steigende Verschuldung öffentlicher Haushalte in Kontinentaleuropa, die auf Produktionsverlagerungen mit der Senkung von Unternehmenssteuern antworteten (Streeck). Diese Schuldenspirale habe aktuell die politischen Widersprüche des Finanzkapitalismus offengelegt (Fraser) und zeige strukturell den destruktiven Charakter, den das Kreditwesen im neuzeitlichen Kapitalismus einnimmt (Vogl).
Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus wird von den Autor*innen übereinstimmend im Sinne der von Crouch vertretenen Postdemokratie-These gesehen, die von einer zunehmenden Machtverschiebung zugunsten wirtschaftsnaher Eliten ausgeht. Spezifische Akzente sind hinsichtlich einer systemfunktionalen Einordnung dieser Befunde erkennbar. Die von Offe herausgestellten internen Widersprüche des kapitalistischen Staates hätten gerade unter den Bedingungen eines global operierenden Kapitals das Risiko von Stagflationskrisen verschärft (Streeck) und damit einem Regulationsmodus Geltung verschafft, der zur Krisenbewältigung auf den Abbau von Arbeitnehmerrechten und staatlichen Sozialleistungen zurückgreife. Gesellschaftlich bedeute deshalb die neoliberale Ära sowohl eine zunehmende Unterwerfung sozialer Lebensformen unter die Domäne von Kapitalinteressen (Fraser) als auch die Rücknahme bisheriger Demokratisierungsgewinne (Vogl). Wenig überraschend stehen mit Blick auf die Zukunftsaussichten des Kapitalismus bei den Autor*innen Annahmen über steigende innergesellschaftliche Spaltungen und Radikalisierungen im Vordergrund, die jedoch wenigstens für Crouch, Offe und Vogl nicht auf ein bevorstehendes Ende des Kapitalismus hinweisen. Skeptischer hinsichtlich der Überlebensfähigkeit des kapitalistischen Systems zeigen sich indes Fraser und Streeck, die zugleich in Formen eines aufgeklärten – also ökologisch bewussten und diskriminierungssensiblen – demokratischen Sozialismus eine reale Systemalternative sehen. Unterhalb dieses zeitdiagnostischen Panoramas liegt die eigentliche Substanz des Sammelbandes in den Debatten mit den Autor*innen selbst.
Theoretische Perspektiven: Widersprüche und Pathologien des Kapitalismus
Nancy Fraser ist seit Längerem um die epistemische Erweiterung der Kapitalanalyse von Marx bemüht[4], weil eine primär ökonomiekritische Sicht die Hintergrundbedingungen der Herrschaft des Kapitals – nämlich den permanenten Durchgriff auf die Reproduktionssphäre – nicht ausreichend erfassen könne. Sie votiert deshalb – vereinfachend gesprochen – für eine Verknüpfung der Perspektiven von Marx und Polanyi[5], da erst eine systematische Berücksichtigung der Folgen steigender Ökonomisierung von sozialer Kooperation und Natur den Blick für emanzipatorische Gegenbewegungen öffnen könne.
In der Diskussion wird Frasers Sicht teils kritisch, teils ergänzend aufgegriffen. Mit Bezug auf die späten Schriften Friedrich Engels diskutiert Rapic methodische Anforderungen einer nicht-reduktionistischen Version des Basis-Überbau-Theorems, auf deren Basis das Mensch-Natur-Verhältnis im Kapitalismus zu rekonstruieren wäre. Reichold setzt sich mit den normativen Prämissen der Kritik des Finanzkapitalismus auseinander und betont die Notwendigkeit einer begründeten Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen (rechtspopulistischem) Protest. Lohmann problematisiert unter Rückgriff auf Marx‘ Analyse der ursprünglichen Akkumulation Frasers Unterscheidung von Ausbeutung und Enteignung sowie die daraus abgeleitete Behauptung, Rassismus sei dem Kapitalismus inhärent. Als spezifische Stärke der der jüngeren Publikationen von Fraser hebt Moran-Ellis ihre Auseinandersetzung mit der Sphäre unbezahlter Arbeit als Hintergrundbedingung des Kapitalismus hervor. Frasers Kritik an linken Gruppierungen, sie würden Verteilungs- gegenüber Anerkennungspolitiken vernachlässigen, müsse – so Kreide – angesichts einer Instrumentalisierung der Identitätsthematik seitens des Rechtspopulismus neu überdacht werden. Auch Streeck greift Frasers Kritik am progressiven Neoliberalismus[6] auf und konkretisiert sie an den widersprüchlichen Implikationen steigender Erwerbstätigkeit von Frauen.
Joseph Vogl hat in zwei viel beachteten theorie- und begriffsgeschichtlichen Studien eine entschiedene Dekonstruktion der spezifischen Ontologie des Sozialen vorgenommen, die die Ökonomie als Wissensform kennzeichnet.[7] Diese Kritik betrifft sowohl das Postulat des sich selbst regulierenden, wachstumsgenerierenden Marktes als auch die strikte Unterscheidung von Politik und Ökonomie. Gerade der Umgang mit der Weltfinanzkrise offenbare, so unterstreicht Vogl in seinen einleitenden Thesen,[8] dass die Hyperfinanzialisierung des Wirtschaftsgeschehens einen regulativen Kapitalismus etabliert habe, bei dem politische Entscheidungen durch Vorwegnahme von Marktpräferenzen erfolgen.
In der Debatte mit Vogl wird dessen pointierte Analyse der Dominanz des Finanzwesens bestätigt, aber kontrovers diskutiert, ob diese nicht auch zu konkreten Vorschlägen führen sollte (Pfriem, Streeck). Die von Vogl herausgestellte Verzahnung von politischer und ökonomischer Macht bedürfe jedoch einer klassentheoretischen Konkretisierung (Imbusch). Eher theorievergleichende Kommentare geben Klass mit Blick auf Derrida und Rapic in einer differenzierten Gegenüberstellung des Gouvernementalitätskonzeptes von Foucault und des von Vogl entworfenen Modells der Souveränität des Finanzkapitals.
Colin Crouch, dessen Diagnose einer Ära der Postdemokratie in den Sozialwissenschaften breit rezipiert worden ist, sieht bekanntlich in einem Erstarken der Sozialdemokratie, den Aktivitäten sozialer Bewegungen und einer entsprechenden Unterstützung durch internationale Organisationen mögliche Ansatzpunkte einer Abwehr neoliberaler Hegemoniebestrebungen.
Die Kommentare in dem Autorengespräch setzten sich hauptsächlich mit Chancen und Widerständen einer derartigen Perspektive auseinander. Streeck schreibt gerade den Handlungslogiken supranationaler Institutionen entdemokratisierende Effekte zu und sieht vielmehr in der Stärkung nationalstaatlicher Souveränität eine Voraussetzung zur Eindämmung neoliberaler Politiken. Der Neoliberalismus habe mit seinen Deregulierungen – so Schecter – eine falsche Antwort auf die Koordinationsprobleme polyzentrischer Gesellschaften gegeben; jenseits von Marktsouveränität und Zentralismus seien wirtschaftsdemokratische Modelle eine demokratiekonforme Alternative. Outhwaite bewertet Erneuerungschancen europäischer Sozialdemokratie eher skeptisch, weil diese sich aktuell zu wenig von einem übergreifenden nationalistischen Konservatismus abgrenze. Kreide unterstreicht diese Bedenken, denn die Sozialdemokratie lasse nicht erkennen, ob sie zu substantiellen Eingriffen in die Organisationsformen des Wirtschaftsprozesses bereit sei, die sich an einem fortschrittlichen Modell des demokratischen Sozialismus orientieren. Im Anschluss an Friedrich Engels Prognose, die Systemkrisen des Liberalkapitalismus würden einen Staatskapitalismus unausweichlich machen, diskutiert Rapic die Frage, ob ein Staatskapitalismus jenseits der Herrschaft von Oligarchien als demokratisch kontrollierte Administration denkbar sei.
Claus Offe hat mit seinen Aufsätzen über „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“[9] einen wegweisenden analytischen Rahmen vorgelegt, der den Zusammenhang von Klassenherrschaft und politischem System anhand spezifischer staatlicher Selektionsleistungen identifiziert, die den „Klassencharakter zugleich praktizieren und unsichtbar machen“[10]. Zwar konnte der seinerzeit verwendete Begriff des Spätkapitalismus noch so verstanden werden, als ob die erforderlichen Ressourcen von System- und Sozialintegration limitiert seien, aber Offe hat seine Analysen später stärker auf Fragen gelegt, welche Operationsweisen einem am eigenen Bestand interessierten Staat angesichts widersprüchlicher Funktionsimperative überhaupt offen stehen.[11]
Möglichkeiten einer Aktualisierung der Spätkapitalismustheorie bieten sich für Strecker, wenn man – Habermas’ Diagnose einer Kolonialisierung von Lebenswelten fortführend – genauer untersucht, mit welchen repressiven Mechanismen und Formen der Neoliberalismus in die Sphäre gesellschaftlicher Integration eingreift. Der Neoliberalismus – so Streeck – hat die sozialstaatliche Absicherung des Klassenkompromisses preisgegeben, in der Folge habe sich der Protest von Bürgerinitiativen auf rechtspopulistische Bewegungen verschoben. Mit der Absicht einer begrifflichen Präzisierung des Konzepts „kapitalistischer Staat“ verfolgt Rapic eine funktional an den kapitalistischen Systemkrisen ansetzende Entwicklung unterschiedlicher Formationen von Staatskapitalismus. In progressiven Konzeptionen des Wohlfahrtsstaates (wie auch der von Offe) werden Sozialleistungen als Bestandteil des Staatsbürgerstatus verstanden – Lohmann geht möglichen Implikationen der Argumentation nach, soziale Rechte menschenrechtlich, also universalistisch, zu fundieren. Mit dem Begriff der Null-Option hatte Offe die Überlegung durchgespielt, unter welchen Voraussetzungen moderne Gesellschaften Verfahren verantwortlicher Selbstbeschränkungen institutionalisieren könnten.[12]
Eher skeptisch erörtert Nullmeier gesellschaftstheoretische Grundprobleme, die sich bezogen auf eine Demokratisierung von Ökonomie und die Befriedung von Anerkennungsdynamiken für Selbstbegrenzungsstrategien stellen würden. Unter den Bedingungen der Globalisierung hat sich das Verhältnis von (nationalstaatlicher) Politik und Ökonomie radikal verändert: Am Beispiel der Außenhandelspolitik zeigt Behrens empirisch, dass sich Staaten gegenüber transnationalen Kapitalinteressen mindestens in Teilbereichen auf einen Souveränitätsverzicht einlassen müssen, wenn sie ihre relative Autonomie bewahren wollen. Reformbemühungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft stoßen aus Sicht einer radikalen Systemkritik schnell auf den Vorwurf, sie seien bloßer Reformismus und dienten lediglich der Kaschierung struktureller Widersprüche. In deutlichem Kontrast zu derartigen (linken) Hyper-Generalisierungen entwirft Wingert eine Logik von Reformen, die – bezogen auf zentrale Mängel des Kapitalismus (Ungleichheit, negative Externalitäten) – Kriterien reflexiver Steuerung (wie Verstärkungseffekt, sachliche und soziale Anschlussfähigkeit) einhalten müssten. Empirisch bildet die 2018 eingesetzte Kohlekommission für Löw Beer und Nanz ein Negativbeispiel für die Einbindung von Expertenwissen in politische Entscheidungsprozesse. Die Kohlekommission sei aufgrund ihrer interessenselektiven Zusammensetzung und intransparenten Arbeitsweise nicht in der Lage gewesen, einen breiteren gesellschaftlichen Konsens für den Kohleausstieg herzustellen.
Wolfgang Streeck vertritt wohl am pointiertesten die Einschätzung, der Kapitalismus bewege sich aufgrund seiner sich verschärfenden internen Widersprüche in eine kaum auflösbare Sackgasse.[13] In Anknüpfung an die marxistischen Krisentheorien der 60er- und 70er-Jahre identifiziert er eine Sequenz von Krisen des kapitalistischen Staates, die über die Ablösung des Steuerstaates durch den Schuldenstaat zum europäisch gerahmten Konsolidierungsstaat führt, der die Demokratie den Interessen der Finanzmärkte unterwerfe.[14] Als kontrovers dürfte Streecks Position gelten, eine Strategie der De-Globalisierung durch Stärkung nationalstaatlicher Handlungsspielräume zu verfolgen, die Auflösung der EWU und Rückkehr zu einem System flexibler Wechselkurse in Europa bedeuten würde.[15] Auch in dem Autorengespräch bezogen sich die Kommentare vielfach auf diese strategische Option.
Rapic sieht in den ähnlich ansetzenden Überlegungen Wallersteins und Collins[16] eine Stärkung der Krisendiagnose Streecks, aber wenn man von einem bevorstehenden Ende des westlichen Kapitalismus ausgehe – so fragt er – müsse man dann nicht Spielarten eines autoritären Staatskapitalismus für wahrscheinlich halten? Crouch stimmt zwar Streecks Analyse der sozialen Folgen des Neoliberalismus zu, hält jedoch die Stärkung nationalstaatlicher Souveränität für keine aussichtsreiche Antwort auf die Globalisierung. Ähnlich bilden für Deutschmann supranationale Institutionen eine unverzichtbare Ebene in der Auseinandersetzung mit gesellschaftsübergreifenden Problemen wie Klimawandel, Migration oder Steuerflucht.
Auf Basis einer anregenden Unterscheidung des Phänomens globaler Komplexität gibt Wingert zu bedenken, ob eine Rückkehr zur nationalen Souveränität nicht zu einer letztlich dysfunktionalen Komplexitätsreduktion führen müsse, die auf das Problemlösungspotential transnationaler Verflechtungen verzichte. Beckert unterstreicht die Rolle, die Streeck den Aktivitäten sozialer Bewegungen in Sachen Klimaschutz zuschreibt, diese Ambitionen bedürften jedoch auf staatlicher Ebene einer rechtlichen Verankerung und entsprechender kompensatorischer Verteilungspolitik. Auch Pfriem hält wie Streeck die kapitalistische Globalisierung verantwortlich für die Zuspitzung der Klimakrise und die Verschärfung sozialer Ungleichheit. Bei einer Stärkung demokratischer Entscheidungsprozesse auf nationalstaatlicher Ebene sei jedoch eine Abgrenzung gegenüber protektionistischen und rechtspopulistischen Bewegungen essentiell.
Fazit
Die Stärke des Bandes – und das allein macht ihn sehr lesenswert – beruht auf der argumentativen Befragung relevanter Theorieansätze, die sich mit den Dynamiken und Pathologien des globalen Kapitalismus auseinandersetzen. Auf diesem Wege wird das breite diagnostische Potential der vorgestellten theoretischen Perspektiven gut erkennbar. Anhand der vielfältigen Kommentare lassen sich die diskutierten Theorien danach unterscheiden, ob – je nach Abstraktionshöhe – funktionale Widersprüche zwischen Kapitalismus und Demokratie eher auf systemischer Ebene (Fraser, Vogl) oder stärker mit Blick auf Restriktionen und Folgen für Institutionen und Akteursgruppen hervorgehoben werden (Crouch, Offe, Streeck).
Vor diesem Hintergrund finden vor allem Bedrohungen der Demokratie durch oligarchische und autoritäre Tendenzen Aufmerksamkeit, Herausforderungen der Klimakrise nur fallweise und die Auswirkungen des digitalen Kapitalismus fast gar nicht. Hinsichtlich der Leitfrage der Autorengespräche – „Wege aus dem Kapitalismus“ – erscheint nach der Lektüre immer noch die Einschätzung von Habermas plausibel: „Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik von innen her gehen.“[17] Das würde dann auch die Annahme nahelegen, Antworten weniger von einer Globaltheorie des Kapitalismus zu erwarten als von thematisch enger gefassten Analysen, die sich auf funktionale (Teil-)Systemprobleme beziehen.
Anmerkungen:
[1] Wallerstein, Immanuel; Collins, Randall; Mann, Michael; Derlugian, Georgi; Calhoun, Craig (2014): Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert. Frankfurt a. Main: Campus, S. 7.
[2] Vgl. das gemeinsame Schlusswort in Wallerstein, Immanuel u.a. 203 ff., hier S. 230
[3] Rapic, Smail (Hg.) (2023): Wege aus dem Kapitalismus? Autorengespräche mit Colin Crouch, Nancy Fraser, Claus Offe, Wolfgang Streeck und Joseph Vogl. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
[4] Vgl. Fraser, Nancy (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Berlin: Suhrkamp
[5] So auch explizit ihr einleitender Vortrag „Why Two Karls are Better than One: Integrating Polanyi and Marx in a Critical Theory of the Current Crisis“, S. 49 ff.
[6] Fraser, Nancy (2017): Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 77 - 91
[7] Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals. Zürich diaphanes. Ders. (2015): Der Souveränitätseffekt. Zürich: diaphanes.
[8] Vgl. Vogl: Einleitung. In Rapic (Hg.), S. 123 ff.
[9] Claus Offe (1972): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp
[10] Offe (1972): Strukturprobleme, S. 92
[11] Vgl. Claus Offe (2003): Herausforderungen der Demokratie. Zur Integrations- und Leistungsfähigkeit politischer Institutionen. Frankfurt am Main: Campus.
[12] Vgl. Offe, Claus (1989) Fessel und Bremse. Moralische und institutionelle Aspekte "intelligenter Selbstbeschränkung", in: Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Axel Honneth / Thomas McCarthy / Claus Offe /Albrecht Wellmer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 739 - 774.
[13] Streeck, Wolfgang (2017): Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus. In: Geiselberger, Heinrich (Hg.) Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 253 – 273.
[14] Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012. Berlin: Suhrkamp 2013
[15] Vgl. Habermas, Jürgen (2013): Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII. Berlin Suhrkamp Verlag, S. 142 ff. Offe, Claus (2016): Europa in der Falle. Berlin: Suhrkamp Verlag, S.73 ff.
[16] Vgl. Wallerstein, Immanuel; Collins, Randall; Mann, Michael; Derlugian, Georgi; Calhoun, Craig (2014): Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert. Frankfurt a. Main: Campus.
[17] Habermas, Jürgen (2012): Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp, S. 102.
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