Tanja Carstensen, Simon Schaupp, Sebastian Sevignani (Hrsg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt
Das Schlagwort „Digitalisierung“ ist in aller Munde, doch wie steht es um das Verhältnis von Digitalisierung und Kapitalismus? Antworten gibt der von Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani herausgegebene Sammelband, der Formen und Auswirkungen des Kapitalismus im Zeitalter der Digitalisierung auslotet. Rezensent Thomas Mirbach zeigt sich von dem Sammelband begeistert, weil es den inhaltlich und methodisch sehr unterschiedlichen Beiträgen gelinge, eine fruchtbare Analyseperspektive zu entwickeln, indem sie Digitalisierung als kapitalistische Landnahme begreifen.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Schon ein kurzer Blick in neuere Schwerpunktausgaben sozialwissenschaftlicher Fachzeitschriften – beispielsweise: Berliner Journal für Soziologie (2023, Heft 3), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft 2022), Behemoth (2022, Heft 2), Soziale Welt (2021, Heft 4), Zeitschrift für Politikwissenschaft (2020, Heft 2) – kann zeigen, dass die Debatte über Digitalisierung und deren gesellschaftliche Folgen jetzt auch im deutschsprachigen Raum intensiv geführt wird. Aus naheliegenden Gründen weist die aktuelle Diskussion methodisch wie inhaltlich ein breites Spektrum an Bezügen auf, die von informationstechnologischen, organisationssoziologischen und demokratietheoretischen Fragestellungen bis zu umfassenden zeitdiagnostischen Perspektiven reichen. Vor dem Hintergrund dieser noch sehr offenen Debatte haben Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani einen anregenden Sammelband vorgelegt, der das Verhältnis von Digitalisierung und Kapitalismus in den Mittelpunkt stellt. Bei der Auswahl der 25 Beiträge – davon sind 18 Originalbeiträge – waren die Herausgeber*innen daran interessiert, Ansätze der kritischen Politischen Ökonomie und des Forschungsfeldes der Science and Technology Studies (STS) besonders zu berücksichtigen (leider fehlt ein Autor*innenverzeichnis). Einleitend erläutern die Herausgeber*innen ihren Ordnungsvorschlag der aufgenommenen Beiträge, der, ausgehend von den „kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (11), thematische Verbindungen der disparaten analytischen Perspektiven erkennbar machen soll. Folgt man dieser Strukturierung, so bietet die Lektüre fast aller Beiträge vielfach Impulse für gewinnbringende Synthesen höchst unterschiedlicher Ansätze.
Produktivkraftentwicklung und Arbeit
Am Beispiel verschiedener Typen von Dienstleistungsarbeit zeigt Ursula Huws, in welcher Weise sich auch der moderne Kapitalismus den Bereich der sozialen Reproduktion aneignet. Der Einsatz von digitalen Technologien unterstütze in vielfältigen Formen Kommerzialisierungen und Externalisierungen haushaltsnaher Dienstleistungen, wobei Prekarisierungen und intersektionale Diskriminierungen oftmals zu einer Aushöhlung des Solidaritätspotentials der „atomisierten Arbeiter:innenklasse“ beitrügen (63).
Eine sehr differenzierte Analyse der von digitalisierter Arbeit ausgelösten Subjektivierungseffekte im Sinne einer zunehmenden „Feminisierung“ nimmt Kylie Jarrett vor. Dieser Prozess lasse sich in die lange „vergeschlechtlichte Geschichte“ der Akkumulation unbezahlter Arbeit durch die Ausbeutung des Nichtökonomischen einreihen, die den Kapitalismus strukturell kennzeichne (73). Im Kontext digitaler Arbeit werde diese Verwischung von Produktion und Reproduktion, von Arbeit und Leben offensichtlich, weil hier Aspekte der persönlichen Subjektivität in die Verwertungsprozess einbezogen werden. Ablesbar sei das an den von Plattformunternehmen geforderten Anpassungsleistungen, die auf Basis von Algorithmen und Kundenbewertungen eine disziplinierte, auf Affektkontrolle und Reputationskapital ausgerichtete Subjektivität erwarten (77 ff.).
Plattformen, deren zentrale Funktion in der technologisch basierten Vermittlung zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen besteht, bilden – so Jamie Woodcock – die „Speerspitze des digitalen Wandels“ (99), weil mit ihnen eine Reorganisation des Arbeitsprozesses auf ganzer Breite eingeleitet werde. Die dabei zu beobachtende Verknüpfung technologischer und ökonomischer Faktoren stelle in gewisser Weise eine Wiederkehr des Handelskapitalismus mit seinen Praktiken des Verlagssystems dar, die heute als Ausweitung von Outsourcing und Subunternehmertum und der Auflösung von Normalarbeitsverhältnissen erscheinen.
Auf Basis eigener Erhebungen beleuchtet Sarah T. Roberts Praktiken kommerzieller Inhaltsmoderation, die für Plattformen und Websites die Rolle eines digitalen Gatekeepings übernimmt. Die Arbeiten selbst – für die Beschäftigten aufgrund der täglichen Konfrontation mit pornografischen, gewalttätigen oder verstörenden Inhalten außerordentlich belastend – finden verdeckt statt. Diese systematische Intransparenz erfülle zwei Funktionen. Intern würde die Handhabung der jeweils geltenden Richtlinien – also die konkrete Grenzziehung zwischen befürchteter Anstößigkeit von Inhalten und ihrer potentiellen Vermarktbarkeit – vor dem Publikum verborgen. Extern werde der Schein erzeugt, die veröffentlichten Inhalte seien jenseits von Entscheidungsprozessen Ausdruck einer „Art natürlicher Ordnung der Dinge“ (119).
Florian Butollo macht darauf aufmerksam, dass sich die bisherige Diskussion des digitalisierten Kapitalismus in der Hauptsache auf die weltweit dominierenden Plattformunternehmen in den Bereichen Handel, Medien und Kommunikation beziehe. Einschätzungen des Verhältnisses von „neuer“ zu „alter“ Ökonomie würden demgegenüber nur sehr pauschal vorgenommen (122). Eine Analyse relevanter Plattformtypen im industriellen Bereich (Produkt-, produktionszentrierte, distributionszentrierte Plattformen) könne zeigen, dass die Übernahme digitaler Geschäftsmodelle in der „alten“ Ökonomie noch sehr heterogen verlaufe und eher einem Suchprozess mit offenem Ausgang ähnele (139). Folglich seien wir von einer „integrierte[n] Betrachtung der Veränderung kapitalistischer Wertschöpfung in ihrer Gesamtheit“ noch weit entfernt (122).
Gegen technizistisch verkürzte Darstellungen der Digitalisierung, die die Differenz von Information und Daten ignorieren, richten Andreas Boes und Tobias Kämpf ihren Vorschlag, Informatisierung als Element der Produktivkraftentwicklung, zumal der Entwicklung von „Kopfarbeit“, zu konzeptualisieren. Das Neue des digitalen Kapitalismus könne nur erklärt werden, wenn man den Aufstieg des Internets als Produktivkraftsprung verstehe. Denn erst in dieser Phase eröffne sich ein sozialer Handlungsraum, dem sich perspektivisch im Marxschen Sinne das Potential eines „General Intellects“ als „egalitärer Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (158) zusprechen lasse.
Wertschöpfung und Ökonomie
In seinen Anmerkungen zum Begriff des digitalen Kapitalismus gibt Christian Fuchs einen kursorischen Überblick über kritische, gesellschaftstheoretisch fundierte Perspektiven, die auch die „Interaktion von Klasse, Rassismus und Patriarchat im Kontext der Digitalisierung“ berücksichtigen (186).
Nick Srnicek unterstreicht die Bedeutung der politischen Ökonomie in der Analyse von KI. Auf Basis einer Diskussion der zentralen Faktoren des KI-Produktionsprozesses – Daten, Datenverarbeitung, Arbeitskräfte – hält er die heutigen KI-Verfahren für eine monopolisierende Technologie. Vor allem die für die Datenverarbeitung und die Sicherung von Fachkräften erforderlichen Ressourcen stärkten die Wettbewerbsvorteile der größten KI-Anbieter. Angesichts der gegenwärtigen Rahmenbedingungen erscheine fraglich, ob die Open-Source-Strategie eine wirksame Alternative gegenüber den KI-Plattformen bilden könne.
Anhand von Beispielen aus dem britischen Kontext setzt sich Emma Dowling mit Verwendung und Geschäftsmodellen digitaler Plattformen im Care-Bereich auseinander. Besonders vor dem Hintergrund des Sozialstaatsrückbaus in Großbritannien würden die digitalen Sorgearrangements eine zunehmende Privatisierung der sozialen Reproduktion durch die Individualisierung von Verantwortlichkeiten und die Vermarktlichung von Dienstleistungen betreiben.
Ohne Bezug auf die gesellschaftsstrukturelle Ebene – so stellt Thomas Barth heraus – lasse sich das Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit nicht verstehen. Zwar werde der Digitalisierung vielfach ein erhebliches Potential für eine sozioökologische Transformation zugeschrieben – beispielsweise im Rahmen von Ressourceneinsparungen in der Produktion oder dem Management von Ökosystemen – faktisch aber verschärfe sie die Nachhaltigkeitskrise (unter anderem durch den wachsenden Energieverbrauch und die steigende Produktion von Endgeräten). Angesichts derartiger Diskrepanzen betreffe die Frage nach den „kapitalistischen Grenzen einer nachhaltigen Digitalisierung“ die Grundmuster einer auf Wachstum und Gewinnmaximierung ausgerichteten Marktökonomie (239).
Die Big Five der Technologieunternehmen (Alphabet, Amazon, Apple, Meta Platforms und Microsoft) sollten – so argumentieren Kean Birch und D. T. Cochrane – weniger als Plattformen denn als breit abgelegte Systeme mit weitgehenden Kontrollmöglichkeiten verstanden werden. Diese Konfiguration erlaube ihnen Monopolrenten – die Autoren unterscheiden vier Typen digitaler Rentenerträge – mit denen sie ihre techno-ökonomische Macht ausbauen und die Handlungsmöglichkeiten von Konkurrenten untergraben könnten. Sie befürchten, kartellrechtliche Regulierungen würden nicht ausreichen, diese Monopolisierungstendenzen einzudämmen. Erforderlich seien vielmehr Eingriffe in die durch das Vertragsrecht gewährleistete private Herrschaft (263).
Inwiefern Privateigentum im Informationskapitalismus Profite ermöglicht, ist zumal unter rechtlichen Aspekten eine höchst kontroverse Frage, lässt sich doch die Erzeugung von Wissen nur mit Mühe unter die Kategorie exklusiver Güter subsumieren. Tilman Reitz, Sebastian Sevignani und Marlen van den Ecker zeigen an differenzierten Beispielen, dass und wie digitale Ökosysteme zur Verwendung von Wissen, Informationen und Daten auf funktionale Äquivalente zum Eigentum zurückgreifen. Dabei komme es zu paradoxen Effekten, wenn Datenschutzregelungen zwar formal individuelle Eigentumsrechte sichern wollen, faktisch aber die Nutzer*innen dieses Eigentum in einem Quasi-Tauschakt (der sogenannten informierten Zustimmung) den dominanten Internetdiensten zur weiteren Verwendung überlassen.
Auf Unterschiede zwischen der chinesischen und US-amerikanischen Variante des digitalen Kapitalismus geht Stefan Schmalz in seinem vergleichenden Beitrag ein. Wesentliche Differenzen seien bei den jeweiligen Kontroll- und Steuerungsmodi zu beobachten. Während in den USA unternehmerische Freiheit, globale Skaleneffekte und eine Empire-Logik im Vordergrund stünden, erfolge die Regulierung in China auf Basis von nationaler Sicherheit, Merkantilismus und Überwachung (302). Hinsichtlich der Konkurrenz zwischen beiden Modellen sei künftig vermutlich die Entwicklung der Digitalsysteme in Regionen jenseits der USA und Chinas ein wichtiger Faktor.
Politische Regulation und Öffentlichkeit
Philipp Staab entwickelt einen Vorschlag zur Systematisierung typischer Kritiken des digitalen Kapitalismus. Ausgangspunkt ist seine These, die Konzentration ökonomischer und gesellschaftlicher Macht im digitalen Kapitalismus vollziehe sich auf Basis adaptiver Märkte in Privatbesitz und stelle damit eine Herausforderung der liberalen Marktrationalität dar. Die damit angesprochene Fähigkeit digitaler Selbstregulation der Plattformen werde von aktuellen Kritiken entweder skeptisch oder affirmativ aufgegriffen. Skeptische Positionen wollen die digitalen Monopolisierungsprozesse etwa durch kooperative Modelle und politische Regulation einhegen. Affirmative Perspektiven setzen dagegen auf Transformation zu einer „grünen“ digitalen Planwirtschaft oder aber in der autoritären Variante auf eine Kontrollgesellschaft nach chinesischem Vorbild. Bei beiden Spielarten der Kritik handele es sich aber um Elitenprojekte, bei denen nicht zu sehen sei, wie sie an soziale Bewegungen anschließen könnten.
Völlig zu Recht hält es Simon Schaupp für eine wesentliche Aufgabe soziologischer Aufklärung im digitalen Kapitalismus, „die politische Natur des Digitalen“ offenzulegen (327). Der von ihm präferierte Ansatz der Technopolitik konzeptualisiert (hier am Beispiel der Arbeitswelt) Einführung und Gestaltung von digitalen Technologien als Ergebnis politischer Aushandlungen in drei unterschiedlichen, aber sich überlappenden Arenen: Regulation politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen, Implementierung im organisationalen Kontext und Aneignung auf betrieblicher Ebene. Auf allen drei Ebenen lasse sich zeigen, dass technische Entwicklungspfade keineswegs nur davon abhängig seien, was technisch als möglich gelte. Besonders vielversprechend erscheint sein ethnografischer Zugang zu Verhandlungen und Kommunikationen innerhalb von Aneignungsarenen, mit dem sich subkutane Alltagspraktiken technologischen Ungehorsams sichtbar machen ließen.
Um Rolle und Funktion zu verstehen, die Plattformen bei der digitalen Transformation des Kapitalismus spielen, sollte – so argumentieren Ulrich Dolata und Felix Schrape – analytisch zwischen der organisatorisch-strukturellen Unternehmensebene und den von ihnen kontrollierten sozialen Handlungsräumen unterschieden werden. Die führenden Internetkonzerne besäßen alle für ihr Geschäft wesentlichen Produktionsmittel, auf dieser Basis gelinge es ihnen durch Regelsetzung, Kuratierung und Kontrolle nicht verhandelbare Vertragsbeziehungen zur Welt der Nutzer*innen – Kollektiven, Organisationen, Individuen – zu etablieren. Die durchgehende Kommodifizierung des Nutzerverhaltens vollziehe sich unter der Oberfläche einer vermeintlichen Offenheit der Systeme durch einen Verwertungsprozess, der digital aufgezeichnete Verhaltensspuren auf Basis aufwändiger algorithmischer Verarbeitung in Waren transformiere.
An Habermas Analyse von Vermachtungstendenzen innerhalb der klassischen Öffentlichkeit anschließend setzen sich Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski mit dem gegenwärtigen plattformökonomischen Strukturwandel von Öffentlichkeit auseinander. Dieser führe zunächst auf Basis technologisch fundierter Affizierungs- und Kommerzialisierungspraktiken zu einer Fragmentierung in Teil- und Suböffentlichkeiten, die eine kollektiv-geteilte Basis für öffentliche Debatten erodieren lassen (369). Darüber hinaus sei zu befürchten, dass die gerade aufkommenden „Augmented-, Virtual- und Mixed-Reality-Technologien“ ein gouvernementales System etablieren, in dem die Nutzer*innen vermittelt über „nun auch haptisches und Bio-Feedback mehr denn je Teil eines überwachungskapitalistischen Netzes“ werden (380).
Sehr anregend diskutiert Marisol Sandoval Praktiken, mithilfe genossenschaftlicher Kooperationsformen Plattformen eine andere – demokratische – Architektur zu geben. Im Kern beruhten derartige Ansätze darauf, kapitalistische Zwischenhändler auszuschalten und eigene Strategien zur Monetarisierung der Online-Zusammenarbeit zu entwickeln. Dies könne – angesichts vielfältiger marktbedingter Restriktionen (Beschaffung von Startkapital, Sicherung auskömmlicher Einnahmen) – nicht ohne Ambivalenzen bleiben, die sich zumeist in Spannungen zwischen politischen Zielen und wirtschaftlichem Druck, zwischen Kommerzialisierung und unbezahlter Eigenarbeit ausdrückten.
Wie viele Studien belegen, ist das Internet ein Kommunikationsraum, in dem Diskriminierungen und soziale Ungleichheiten mit Bezug auf gender, class, race und ability scheinbar naturwüchsig verbreitet und reproduziert werden. Vor diesem Hintergrund stellt Tanja Carstensen Ansatzpunkte aktivistischer Gegenbewegungen dar, mit denen Ungleichheitskategorien benannt und zum Thema von Aushandlungsprozessen gemacht werden. Diese bezögen sich einerseits auf Kämpfe um Inhalte, Sichtbarkeiten und Öffentlichkeiten marginalisierter Gruppen, andererseits gehe es aber auch um kritische Alternativen zu konkreten Aspekten digitalen Designs. An diesen Auseinandersetzungen werde deutlich, dass der digitale Kapitalismus die Subjekte permanent herausfordere, Souveränität und Wiedererlangung von Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen auszuhandeln.
Helen Hester setzt sich mit der paradoxen Entwicklung des Cyberfeminismus seit den 1990er-Jahren auseinander. Paradigmatisch für die frühen Jahre stehe die vom Old Boys Network – einer Allianz, die zwischen 1997 und 2001 Experimentierräume für künstlerisch-aktivistische Projekte eröffnete – vertretene Strategie der Disidentifikation, die im Umgang mit dem Internet potentiell ausschließende (Selbst-)Definitionen vermeiden wollte. Angesichts der raschen technologischen Weiterentwicklung habe sich jedoch gezeigt, dass eine derartig offene Strategie keine Möglichkeiten für eine Koordination kollektiver Aktionen biete. Für eine technikaffine und politische informierte feministische Praxis sei heute jedoch der Entwurf einer zwar revisionsfähigen, aber positiven Formulierung einer eigenen kollektiven Identität erforderlich (432).
Kulturelle Regulation und Subjekte
Für Jodi Dean führt die Logik der Digitalisierung zu einem Neofeudalismus. Allerdings bleibt die Bestimmung des Neofeudalen eher metaphorisch: Wir agieren als abhängige Vasallen unter der Herrschaft der Plattformen. Aufschlussreicher ist indes ihre Analyse der Eigendynamik des kommunikativen Kapitalismus. Zu den wesentlichen Änderungen, die die Digitalisierung in der kommunikativen Praxis hervorgebracht habe, zähle die Ausbildung affektiver Netzwerke, in denen der Zirkulationswert der Beiträge dominiere und Wahrheit und Lügen kommunikativ gleichwertig behandelt würden. Weil die Auseinandersetzung mit den Beiträgen nicht mehr auf Basis gemeinsam geteilter Bedeutung erfolge, komme es zu einer Parzellierung der (Nutzer*innen-)Souveränität.
Oliver Nachtwey, Johannes Truffer und Timo Seidl entwerfen eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des kapitalistischen Geistes, der heute gleichsam als ethischer Unterbau des digitalen Kapitalismus fungiere. In seiner aktuellen Ausprägung als „Solutionismus“ – einer Mischung von informationstechnischer Logik und libertärer Technikutopie – seien gesellschaftliche Probleme generell in technische Probleme übersetzbar und als solche lösbar. Diese Rechtfertigungsordnung biete für die maßgeblichen Akteursgruppen motivierende und legitimierende Effekte, weil die Verheißung globaler problemlösender Innovationen eine Überwindung der – durch den Neoliberalismus erzeugten – moralischen Entleerung des Kapitalismus verspreche.
Intuitiv einleuchtend erscheint gewiss vielen der Befund einschlägiger Studien, die Beschleunigung und in deren Folge wachsende Zeitknappheit als wesentliche Effekte digitaler Technologien hervorheben. Derartig generalisierende Thesen jedoch – so die Kritik von Judy Wajcman – unterstellen einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen technologischer Beschleunigung und alltagsweltlicher Erfahrung gelebter Zeit. Der darin aufscheinende Technikdeterminismus operiere mit einem „universellen, abstrakten Subjekt“ (487) und übersehe, dass Verwendung und Erleben von Zeit durch die „Dynamik der Macht“ strukturiert werde und je nach Klasse, Geschlecht und anderen Dimensionen der Ungleichheit variiere (489).
Als Konsens kritischer Perspektiven auf den digitalen Kapitalismus könnte sicher gelten, dass dessen Durchsetzung die Kommodifizierung des sozialen Lebens weiter vorantreibt. Da lohnt es sich mit Felix Stalder über aktuelle Prozesse der Dekommodifizierung nachzudenken, zu denen er – neben den widersprüchlichen Phänomenen von Entprofessionalisierung – in erster Linie das Commoning zählt. Commons sind soziale Praktiken, die sich jenseits individueller Eigentumsrechte der Herstellung von Gemeinschaftsgütern widmen; im digitalen Raum bilden offene Softwareentwicklung oder Vorhaben wie Creative Commons (als Grundlage für Open Access Modelle) entsprechende Ansätze. Zwar ließen sich diese kooperativen Praktiken – so Stalders Resümee – einer akapitalistischen Produktionsform zurechnen, aber sie seien aufgrund der die Digitalisierung bestimmenden Verwertungslogik vielfältigen Einhegungen unterworfen, sodass bisher etliche Commons in den sozialen Medien nur in „korrumpierten, verkrüppelten Formen“ existierten (511).
Ausgehend von der Annahme, dass digitale Plattformen Art und Weise ändern, „wie wir wissen und was bedeutet, zu wissen“ (514), entwickelt Eran Fisher eine starke These über die subjektivierenden Effekte, die von der Verwendung epistemischer Medien ausgehen. Während die klassischen (schriftgebundenen) Medien reflektiertes Wissen über das Selbst ermöglichten, würden digitale Medien Selbstreflexion umgehen und damit die Bildung von Subjektivität untergraben (516). Diese Differenz erläutert er unter Rückgriff auf den frühen Habermas (Erkenntnis und Interesse 1968): Sprachliche Objektivierungen von Sachverhalten seien immer auch mit Selbstinterpretationen verschränkt, digitale Medien aber, bei denen Algorithmen die verarbeiteten Daten als Indikatoren des Verhaltens der Nutzer*innen präsentieren, schließen eine Beteiligung des objektivierenden Subjektes aus.
Fazit
Dem breiten Spektrum der inhaltlich wie methodisch sehr unterschiedlichen Beiträge lässt sich entnehmen, dass das Digitale in jeweils spezifischer Weise alle Dimensionen von Gesellschaft betrifft. Für die Herausgeber*innen ist das ein Indiz der Unmöglichkeit einer „integrative[n] Theorie des digitalen Kapitalismus, die alle Dimensionen zugleich erfasst“ (10). Aber jenseits derartig uneinlösbarer Ambitionen lassen die Beiträge die thematische Prämisse des Sammelbandes als ertragreiche Analyseperspektive erscheinen: Unter den bestehenden gesellschaftsstrukturellen Rahmenbedingungen trägt Digitalisierung – durch Unterwanderung des Politischen wie durch Kommerzialisierung des Nicht-Ökonomischen – zu dem bei, was man als kapitalistische Landnahme bezeichnen kann. Zur Analyse dieses Modus der Vergesellschaftung – auch darin ist den Herausgeber*innen zuzustimmen (30 ff.) – sollte sich künftige Forschung auf Basis produktivkrafttheoretischer Überlegungen intensiver mit dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion auseinandersetzen und intersektionale Perspektiven berücksichtigen.
Demokratie und Frieden