Sergei Guriev, Daniel Treisman: Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century
Diese Analyse von Sergei Guriev und Daniel Treisman zeigt, mit welchen Mitteln heutige Autokraten ihre politische Macht sichern: Als Spin Dictators kreierten sie in Gesellschaften rund um den Globus wirkmächtige Narrative und setzten innenpolitisch auf Restriktionen oder die Privatisierung von Gewalt. Damit unterschieden sie sich von den „Angst-Diktatoren“ vorangegangener Tage. Stefan Matern lobt in seiner Rezension insbesondere die „analytische Seriosität und Konsequenz“ dieser 2022 bei Princeton University Press erschienenen Analyse“, die akademische Erwartungen (über)erfülle und zugleich kurzweilig formuliert und mit Anekdoten versehen für ihre Leser*innen zugänglich bleibe.
Eine Rezension von Stefan Matern
„Why, after all the brutal manias of the twentieth century […] have been discredited, do we still see new autocracies rising from the ashes?“ (xxi) fragen Sergei Guriev, Professor für Ökonomie an der Sciences Po in Paris, und Daniel Treisman, Professor für Politikwissenschaft an der University of California, im neuen Vorwort zur Paperback-Version von Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century[1] und geben sogleich die Antwort: „The key to this is deception: most dictators today conceal their true nature“ (xxii). Den beiden Autoren ist auf der Grundlage der Kombination theoriegeleiteter Erklärungen und empirischer Untersuchungen ein äußerst fundiert recherchierter, aktueller und lesenswerter Blickwinkel auf autoritäre Staatlichkeit der Gegenwart gelungen. Die Hauptthese lautet, dass „klassische“ Diktatoren der Vergangenheit durch Spin-Diktatoren ersetzt wurden. Erstere, wie beispielsweise Hitler oder Stalin, regierten durch Angst: Sie übten öffentlich Gewalt aus, erzwangen Loyalität und vernichteten ihre Gegner*innen physisch. Im Gegensatz dazu bauten Spin-Diktatoren heutzutage auf Manipulation, Täuschung und die Souveränität über Informationen, inszenierten sich als beliebte und kompetente Führer und vermieden offene Gewaltanwendung. Sie versuchen sich Guriev und Treisman zufolge an einer Imitation von Demokratie, lassen einige oppositionelle Medien zu und führen vorgeblich kompetitive Wahlen durch.
Während das Ziel jedes Diktators die Monopolisierung politischer Macht bleibt, konstatieren die Autoren im ersten Kapitel für das Ende des 20. Jahrhunderts eine Abwendung von Gewalt und Terror hin zur Macht der Wirklichkeitskonstruktion. Der absichtlich öffentlich dargestellten Gewalt zur Einschüchterung stehe die umfassende Kontrolle über die öffentliche Kommunikation gegenüber. Dieser Wandel zu Spin-Diktatoren erkläre den im zweiten Kapitel empirisch erfassten Rückgang politischer Gewalt und Unterdrückung in autoritären Staaten (61). Die korrespondierende und umfangreiche empirische Überprüfung aller autoritären Regierungen seit 1946 (55 ff.), gepaart mit der Illustration zentraler Thesen durch Einzelfallbeispiele durch das gesamte Buch hinweg, machen die Lektüre besonders unterhaltsam. So wird beispielsweise Muammar al-Gaddafi zur Illustration der Gewalt-Affinität klassischer Diktatoren mit den Worten zitiert, wenn er jemanden exekutiert habe, dann aber „on television“ (39). Dem entgegen setzen Spin-Diktatoren auf Regulierungen, Restriktionen, eine Privatisierung von Gewalt und die Ausschaltung der Opposition durch Anklage aufgrund von nichtpolitischen Verbrechen. So habe beispielsweise Kasachstans Nursultan Nasarbajew kritische Journalist*innen aufgrund von angeblicher Geldwäsche und der Vergewaltigung Minderjähriger verhaften lassen (51).
Selbstredend ist den Autoren bewusst, dass auch die Angst-Diktatoren der Vergangenheit Propaganda nutzten, sodass sie sich im dritten Kapitel dem diesbezüglichen Unterschied zu den Spin-Diktatoren widmen. Während sich bei Angst-Diktatoren Gewalt und Propaganda ergänzten, Ideologie zur Repression beigetragen, Propaganda Demobilisierung und Isolation von Dissident*innen geleistet und erzwungene oder freiwillige Folgsamkeit nach sich gezogen habe, diene die neue Propaganda vor allem dazu, ein Bild des kompetenten und beliebten Diktators aufrechtzuerhalten: „Just as fear dictators work to spread not just fear but also the belief that others are afraid, spin dictators seek not just admiration but the appearance of being admired“ (75). An die Stelle einer einheitlichen Ideologie rücke eine Pluralität von Appellen an verschiedene Publika. Während Angst-Diktatoren Zensur öffentlich und teilweise gewaltsam durchführten und sie selbst so zur Nachricht wurde, die ihrerseits Macht demonstrieren und Konformität mit dem Regime durchsetzen sollte, versuche der Ansatz der Spin-Diktatoren Gewalt zu vermeiden. Deshalb duldeten sie zumindest einige freie Medien, machten Journalist*innen die Arbeit aber vor allem durch Regulierungen, Geldbußen oder Anklagen aufgrund angeblicher Verleumdung oder übler Nachrede schwer, wie die Autoren im vierten Kapitel aufzeigen. Eingriffe in die Pressefreiheit würden getarnt und als Funktionsweise des Marktes geframed sowie unerwünschte Nachrichten in einer Flut aus Gegen-Nachrichten ertränkt. Mit dieser Funktionsweise korrespondierend zeigen die empirischen Daten, dass offene Medienkontrolle und Gewalt gegen Journalist*innen rückläufig seien (105 ff.). Das fünfte Kapitel befasst sich schließlich mit dem zentralen Merkmal der Fassadendemokratie von Spin-Diktatoren: den Wahlen. Während Angst-Diktatoren selten Wahlen durchführten und sie dann mit Zustimmungswerten nahe der 100 Prozent gewännen, nutzten Spin-Diktatoren Wahlen nuancierter. Sie ließen Oppositionsparteien zu, um den Schein zu wahren. Durch weniger deutliche Wahlsiege minimierten sie so das Risiko internationaler Kritik oder Ächtung und präsentierten sich als überzeugte und engagierte Demokraten.
Während sich die Überlegungen bis hierhin um das Verhalten der neuen Art von Diktatoren innerhalb von Staaten drehen, blicken die Autoren im sechsten Kapitel auf die Beziehung zur Außenwelt. Spin-Diktatoren schotteten sich nicht ab, sondern nutzten den Fluss von Informationen und Menschen über Grenzen hinweg, um sich als offene Demokraten zu inszenieren. Ausländische Medien würden bis zu einem gewissen Grad toleriert. Spin-Diktatoren seien Gastgeber internationaler Gipfel, kooperierten mit dem Westen und nutzten ihn gleichermaßen aus. Um im Kampf um die herrschenden Ideen zu bestehen, gründeten sie eigene TV-Sender, wie beispielsweise Russia Today, befreundeten sich mit westlichen Eliten – beispielsweise Wladimir Putin mit Silvio Berlusconi und Gerhard Schröder –, unterschrieben Abkommen zur Förderung von Demokratie und hielten diese gleichzeitig klein. Die von den Autoren überzeugend entfaltete Empirie belegt diese Entwicklungen und sie wird an verschiedenen Stellen um besonders interessante Beobachtungen ergänzt, wie beispielsweise, dass Spin-Diktatoren im Durchschnitt nur alle 164 Jahre einen Krieg bestritten, während Demokratien alle 114 Jahre im Krieg stünden (165).
Bleibt für die Autoren abschließend die Frage zu klären, welche Mechanismen hinter dem beobachteten Wechsel von der Angst zum Spin stehen. Eine Antwort darauf kündigen sie bereits im ersten Kapitel an: „Modernization and globalization create pressures for political openness. Spin dictatorship is the way rulers resist“ (28). Der „modernization cocktail“ (170) bestehe aus drei Zutaten: dem Übergang von der industriellen zur post-industriellen Gesellschaft (1), der ökonomischen und informationellen Globalisierung (2) sowie dem Aufstieg der liberalen Weltordnung (3). Die erste Entwicklung habe aufgrund der größeren Rolle, die kreativer und informationsbezogener Arbeit zukommt, gemeinsam mit der damit einhergehenden Zunahme höherer Bildung dazu geführt, dass der Kreis informierter Eliten erweitert worden sei, deren Unterdrückung sich zunehmend schwieriger gestalte: „One simply cannot ask a highly educated work force to stop thinking when it leaves the factory“ (173). Die liberale Weltordnung, die sich in der Zunahme internationaler Organisationen, Regelungen, Institutionen, Gesetze, der Verbreitung der Demokratie und der Ratifizierung der Menschenrechte widerspiegele, habe derweil wirkmächtige Gegenanreize geschaffen, zumindest auf offene Repression zu verzichten. Die drei Zutaten des „Cocktails“ interagierten untereinander und wirkten sowohl innerhalb von Staaten als auch auf internationaler Ebene. Dass dieser Cocktail aber auf China überhaupt keinen oder nur einen kaum messbaren Effekt hat, erklären die Autoren damit, dass China die Techniken der Angst-Diktatur weiterentwickelt habe (192). Allerdings hätte man sich hier eine schärfere und ausführlichere Problemverarbeitung gewünscht, da China gerade aufgrund der Verbindung von Kapitalismus und Angst-Diktatur die liberal-demokratische Symbiose mit dem Kapitalismus auch als Idee in ihrer lange angenommenen Alternativlosigkeit in Frage stellt und in Teilen des globalen Südens als ordnungspolitische Alternative angesehen wird[2]. Die Diskussion der Triebkräfte des konstatierten Wandels bleibt eben eher eine Interpretation, denn eine kausal fundierte Analyse der Entwicklung, die gerade im Vergleich zu der überzeugend und mit breiten Daten untermauerten Herausarbeitung und Beschreibung des neuen Typus der Spin-Diktatoren etwas abfällt. Hier kann künftige Forschung ansetzen und dieses Desiderat einer Lösung zuführen.
Abschließend wagen die Autoren einen vergleichsweise optimistischen Ausblick in die Zukunft. Zwar hätten Globalisierung und liberale Weltordnung einige Rückschläge hinnehmen müssen, doch die Situation sei in der Interpretation der Autoren lediglich eine temporäre: Demokratien hätten demnach gegenüber Diktaturen einen wichtigen Vorteil, der in der Idee der liberalen Demokratie selbst bestehe. Dieser Idee könnten auch die Spin Dictators keine konkurrierende Idee entgegenstellen. Doch hier ist einzuwenden, dass sich gerade der Liberalismus mit einem überzeugenden Narrativ der Demokratie schwertut. Denn der Liberalismus klammert Emotionen als ein die Vernunft verunreinigendes Element aus der Politik tendenziell aus und fokussiert vielmehr auf pragmatische Lösungen für konkrete Problemstellungen als Inhalt der liberal-demokratischen Politik[3]. Gleichermaßen ist die Forderung nach einer Reform der Institutionen der liberalen Weltordnung zwar eingängig (215), doch aufgrund des Einflusses von China und Russland innerhalb der Vereinten Nationen oder auch der institutionellen Abläufe innerhalb der Europäischen Union und der Probleme mit Ungarn oder Polen, für Letztgenanntes unter Vorbehalt der laufenden Regierungsbildungsverhandlungen im Nachgang der Wahlen vom Oktober 2023, in absehbarer Zeit kaum erwartbar. Aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine[4] ist darüber hinaus die Frage, wie mit Spin-Diktatoren umgegangen werden soll, die sich wieder zurück in Richtung der Angst-Diktatoren (193 ff.) entwickeln, entscheidend und sie bedarf einer separaten Untersuchung: Wie ist das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Sanktionen und der These des Modernisierungscocktails? Wann fördert internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit die Demokratisierung und wann wird (indirekt) die Vorbereitung eines Krieges unterstützt?
Trotz dieser offenen Fragen ist Guriev und Treisman mit Spin Dictators ein instruktiver Blick auf moderne Autokratien und deren Funktionsweise gelungen. Sie fügen der vornehmlich institutionellen Perspektive des elektoralen/kompetitiven Autoritarismus[5] den Fokus auf Personen und deren PR-Techniken hinzu. Darüber hinaus zeigt ihre Analyse von Regimewechseln, dass neben der Bedeutung von Institutionen die wichtige Rolle von informierten Eliten nicht unterschätzt werden sollte. Ferner weiten die Autoren den Blick für eine umfassendere historische Perspektive, die aktuellen Einzelereignissen weniger Bedeutung zuschreibt. Gesondert hervorzuheben ist die analytische Seriosität und Konsequenz der wissenschaftlichen Analyse, deren zahlreiche Daten, verschiedene Methoden, Forschungsartikel und Studien des wissenschaftlichen Forschungsstandes akademische Standards übererfüllt und gleichzeitig aufgrund des kurzweiligen und leichten Schreibstils sowie der unterhaltsamen empirischen Beispiele und Anekdoten für Nicht-Akademiker*innen zugänglich bleibt – und damit eine kurzweilige und gewinnbringende Leseerfahrung bietet.
Anmerkungen
Demokratie und Frieden
Rezension / Thomas Mirbach / 18.08.2016
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hrsg.): Machthaber der Moderne. Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit
Dass politische Symbolik – also die ganze Welt der Bilder, Mythen und Inszenierungen – eine wichtige Dimension in Fragen des Erwerbs und der Stabilisierung von Macht darstellt, ist der Politikwissenschaft durchaus geläufig. Gleichwohl können Perspektiven der Kulturwissenschaft, die sich im Rahmen ihrer Methoden mit diesen Phänomen befassen, sehr wohl inspirierend für die Disziplin wirken. Das gilt auch für die überwiegend von Kulturwissenschaftlern und Historikern verfassten Beiträge dieses Sammelbandes, die Praktiken der politischen Repräsentation von der Vormoderne bis in die Moderne untersuchen.
Weiterführende Links
Diktaturen und Autokratien im 20. Jahrhundert und ihre Aufarbeitung
In diesem Forschungsfeld untersucht das HAIT an der Technischen Universität Dresden autokratische und totalitäre Systeme des 20. Jahrhunderts und ihre Folgen.
Externe Veröffentlichungen
Thomas Assheuer / 01.01.2023
Blätter für deutsche und internationale Politik
Vanessa Boese, Sebastian Hellmeier / 05.07.2022
WZB Berlin Social Science Center
Sabine Fischer, Janis Kluge / 04.05.2022
Stiftung Wissenschaft und Politik