Amtsverlust trotz Amtsbonus? Wechsel im Ministerpräsidentenamt nach Landtagswahlen (1991 bis 2022)
Können amtierende Ministerpräsident*innen hierzulande auf Länderebene bei Wahlen auf den sogenannten ‚Amtsbonus‘ hoffen? Und hat sich dieses Phänomen gegebenenfalls über die Jahre gewandelt? Franziska Carstensen, Jakob Hirn und Kevin W. Settles vom "Institut für Parlamentarismusforschung" (IParl) haben anhand aller Landtagswahlen von 1991 bis Mai 2022 empirisch untersucht, wann von einem Amtsbonus auf Landesebene gesprochen werden kann und welche Faktoren bei einer Ab- bzw. Wiederwahl auftraten. (tt)
Die Bundestagswahl 2021 markierte die erste Wahl auf Bundesebene, bei der kein amtierender Regierungschef zur Wiederwahl antrat. Während für Landesregierungen ein Inhaber-Bonus festgehalten werden konnte, wurde die Frage, ob Landesregierungschefs von einem Amtsbonus profitieren, bisher nur wenig beleuchtet. Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildete die bislang ungeprüfte Wahrnehmung, dass amtierende Ministerpräsidenten vergleichsweise selten bei Landtagswahlen verlieren. Anhand einer Analyse aller Landtagswahlen der vergangenen 31 Jahre (1991 bis Mai 2022) wurde nachvollzogen, wie oft der Fall auftrat, dass von einem Amtsbonus auf Landesebene die Rede sein kann und welche Faktoren verstärkt mit der Ab- bzw. Wiederwahl einhergehen. Im untersuchten Zeitraum stellte der Amtsverlust amtierender Regierungschefs eine Ausnahme dar. Ministerpräsidenten hielten sich demnach länger im Amt als Koalitionen auf Landesebene. Darüber hinaus war es für die nachfolgende Parlamentswahl potentiell eine Bürde, wenn Ministerpräsidenten während einer Wahlperiode vom Landesparlament ins Amt gewählt wurden. Bemerkenswert ist, dass Landesparlamente häufiger während einer Wahlperiode eine neue Person ins Amt wählten als nach einer Landtagswahl.
Das Wichtigste in Kürze:
- Amtierende Ministerpräsidenten verloren zwischen 1991 und Mai 2022 nur relativ selten ihr Amt aufgrund einer Wahlniederlage; dies geschah nach 19 von 112 Landtagswahlen, was einem Anteil von 17 Prozent entspricht.
- Einen neuen Ministerpräsidenten gab es nach ungefähr jeder vierten Landtagswahl, da es auch zu sechs Rücktritten von Amtsinhabern nach Landtagswahlergebnissen, die als nicht erfolgreich genug angesehen wurden, kam und drei Amtsinhaber nicht mehr zur Wahl antraten.
- Es wurden mehr neue Regierungschefs während einer Wahlperiode vom jeweiligen Landesparlament ins Amt gewählt als nach einer Landtagswahl, wobei außer in einem Fall alle während einer Wahlperiode ins Amt Gewählten derselben Partei angehörten wie der oder die Vorgänger/-in.
- Als potentielle Bürde erwies sich die Nachfolge während einer Wahlperiode, nachdem der oder die Vorgänger/-in auf einen anderen Posten, meist in der Bundespolitik, gewechselt war. In fünf von elf Fällen verlor der so ins Amt gekommene Regierungschef den Posten nach der nächsten Landtagswahl.
- Besonders viele Ministerpräsidenten (alle von der SPD) verloren ihr Amt während der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (1998 bis 2005); unter den Bundesländern war Nordrhein-Westfalen am häufigsten von Amtsinhaberwechseln nach Landtagswahlen betroffen, nämlich drei Mal.
Das Amt des Ministerpräsidenten ist als „Kanzlerschmiede“ prädestiniert, künftige Bundeskanzler hervorzubringen. Fünf von neun Regierungschefs standen vor ihrer Kanzlerschaft an der Spitze einer Landesregierung: Kurt-Georg Kiesinger, Helmut Kohl und Gerhard Schröder waren Ministerpräsidenten der Flächenländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, Willy Brandt war Regierender Bürgermeister West-Berlins und Olaf Scholz Erster Bürgermeister in Hamburg; Konrad Adenauer verfügte über exekutive Erfahrung als Bürgermeister Kölns und Helmut Schmidt als Senator, ebenfalls in Hamburg. Auch im Kontext der Diskussion um eine zunehmende Personalisierung sollte interessieren, wer das Amt des Ministerpräsidenten bekleidet und auf welchem Wege er oder sie zu diesem Amt kommt.
In den bisherigen Landtagswahlen des Jahres 2022 verlor mit Tobias Hans ein Amtsinhaber seinen Posten, während Daniel Günther und Hendrik Wüst (alle CDU) Wahlerfolge feiern konnten. Diese kurze Beobachtung lässt aufhorchen: Wie häufig kommt es letztlich zum Wechsel im Ministerpräsidentenamt – und mit welchen Faktoren geht ein Amtsverlust einher? Mit einem gewissen Bekanntheitsgrad in der Wahlbevölkerung und der Möglichkeit, sich im Amt zu bewähren bzw. mit positiven Interpretationen ihrer politischen Bilanz für sich zu werben, liegen die Vorteile der Amtsinhaber auf der Hand. Wenngleich Koalitionen auf Landesebene bereits ein „Amtsinhaber-Bonus“ attestiert werden konnte, wurde der Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten diesbezüglich bislang wenig beleuchtet. Schell analysierte mit der Kandidatenbewertung und Amtsdauer zwei Dimensionen des Bonus, Träger und Oppelland befassten sich ausschließlich mit Kandidatenbewertungen seitens der Wählerschaft. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern ein Amtsbonus auftritt, gemessen daran, ob ein zur Landtagswahl antretender Amtsinhaber auch vom Landesparlament wieder zum Regierungschef gewählt wird. Als Bonus wird demzufolge das Im-Amt-Sein zum Zeitpunkt einer Landtagwahl definiert, während eine Kontinuität im Amt über eine Wahl als Bestätigung dieses Bonus' aufgefasst wird.
Profitieren neben den Regierungskoalitionen auch die ihr vorstehenden Ministerpräsidenten von einem Amtsbonus? Kurzum: Wer verlor das Ministerpräsidentenamt nach Landtagswahlen wann, wo und warum? Zur Klärung dieser Fragen wurden alle Landtagswahlen zwischen der hessischen vom 20. Januar 1991 und der nordrhein-westfälischen vom 15. Mai 2022 untersucht. Zunächst steht im Mittelpunkt, wer unter welchen Umständen das Amt einbüßte, und es wird erläutert, mit welcher Datenbasis und -struktur gearbeitet wird. Daran anschließend geht es um zeitliche und territoriale Muster in den Wechseln. Wie zu zeigen sein wird, gestaltete sich das Aufspüren von Gründen für den Amtsverlust nicht einfach, wobei die Suche aufschlussreiche Auffälligkeiten zutage fördern konnte.
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IParl-Blickpunkt
Blickpunkt Nr. 8, August 2022, 19 Seiten, DOI: 10.36206/BP2022.02
Diesen und weitere Blickpunkte vom "Institut für Parlamentarismusforschung" (IParl), Berlin, zu aktuellen Themen rund um Parlamente und Parteien finden Sie hier.
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