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Rezension / 27.10.2017

Klaus Bachmann: Der Bruch. Ursachen und Konsequenzen des Umsturzes der Verfassungsordnung Polens 2015-2016

Frankfurt a. M. 2016, Peter Lang Verlag 2016 (Studies in Political Transition 6)

Der Wahlerfolg von PiS sei mit einem politisch wirksamen Gegensatz von Zentrum und Peripherie zu erklären, schreibt Klaus Bachmann, der sich in einem Konflikt zwischen denjenigen, die postmaterialistisch und emanzipatorisch denken, und anderen, die materialistischen Traditionen anhängen, manifestiere. Die PiS-Partei habe sich erfolgreich gegen Wertewandel und mit Fremdenfeindlichkeit positioniert, aber erst durch das Wahlsystem die absolute Mehrheit erlangt. Damit sei sie nicht zu dem Verfassungsbruch legitimiert, durch den Polens Rechtsstaatlichkeit und Demokratie jetzt akut gefährdet seien.

poland 24.7.17 demo Robert Pastryk pixabayOffener Widerspruch: Am 24. Juli 2017 wurde in Warschau gegen die von der PiS-Regierung angestrebte Entmachtung der Justiz demonstriert. Foto: Robert Pastryk (Pixabay)

 

„Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und jede Form der Religion bekämpfen. Das hat mit traditionellen, polnischen Werten nichts mehr zu tun.“ (81) – Der heutige Außenminister Witold Waszczykowski hat im Januar 2015 in einem BILD-Interview plakativ und auch für das deutsche Publikum verständlich erklärt, wogegen er und die anderen Mitglieder der rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) sind: gegen die Modernisierung und Pluralisierung der Gesellschaft. Ihren Wahlkampf vor den Präsidentschafts- und dann Parlamentswahlen 2015 hat die Partei allerdings anders bestritten, wie Klaus Bachmann, der an der Universität Warschau lehrt, rekapituliert: mit Versprechungen sozialer Wohltaten. Und damit gewann erst, für die PiS selbst überraschend, ihr Kandidat Andrzej Duda das Rennen um die Präsidentschaft, dann die Partei selbst die Mehrheit im Parlament – und warf anschließend Teile ihres Wahlprogramms über Bord und setzte anderes, das nie angekündigt worden war, um. Die PiS brach, so zeigt Bachmann, mit den konservativen Traditionen in Polen und mit der Verfassungsordnung. In seiner gründlichen, wo immer möglich auf Daten basierenden Analyse zeichnet er die Ursachen und Folgen dieser beiden Wahlerfolge nach und ordnet sie in die polnische (Parteien-)Geschichte ein, die durch Sozialismus und Systemumbruch einige Spezifika aufweist.

Zentrum versus Peripherie

Bachmanns zentrale These lautet, dass die PiS-Partei nicht aufgrund von gesellschaftlichen Verwerfungen oder einer antiwestlichen Stimmung in der Bevölkerung die Wahlen gewonnen, sondern von dem Zentrum-Peripherie-Gegensatz profitiert habe, der derzeit (wieder) die wichtigste politische Determinante sei. Ein für ein postsozialistisches Land zu erwartender Gegensatz zwischen Anti- und Postkommunisten sei dagegen zu vernachlässigen – die linken Parteien seien ohne Einfluss und die einzig ernstzunehmende Widersacherin von PiS sei die Bürgerplattform, eine konservativ-liberale Partei. Der politische Streit finde mithin innerhalb des rechten Spektrums statt. Bachmann betont, dass eine Beschreibung der PiS als national-konservativ, wie dies in deutschen Medien häufig geschehe, völlig unzutreffend sei.

Der Zentrum-Peripherie-Gegensatz, wobei mit Letztere Land und Kleinstädte umschrieben ist, sei eine Kontinuität in der polnischen Geschichte – seine Überbrückung zwecks Konfliktvermeidung habe im Kommunismus die Staatsfinanzen ruiniert und auch nach 1989 sei dieser nicht aufgehoben worden, obwohl insbesondere der ländliche Raum enorm von den Transferleistungen der EU profitiert habe. Festzustellen sei zudem, dass sich von Anfang an ein erstaunlich hoher Prozentsatz der Bevölkerung nicht von der neuen Ordnung nach 1989 repräsentiert gefühlt habe. Bachmann vertieft seine Argumentation unter Hinweis auf den Wertewandel in Westeuropa, der sich seit den 1960er-Jahren vollziehe und mit dem sich die Gesellschaften an die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels anpassten. Polen sei Ende der 1980er-Jahre mit diesem wirtschaftlichen wie kulturellen Wandel ad hoc konfrontiert worden, die Gesellschaft habe bis in die Gegenwart nicht zu Westeuropa aufgeschlossen: „Soweit diese postmaterialistischen und emanzipatorischen Wertorientierungen in Polen überhaupt messbar sind, bleiben sie weit hinter den entsprechenden westeuropäischen Trends zurück und steigen auch nur sehr, sehr langsam.“ (81) Die Wahlerfolge der PiS könnten, so eine mögliche Erklärung, auf die auch Regierungspolitiker selbst verwiesen, Anzeichen für einen Zusammenprall von materialistischen Werten mit postmaterialistischen und emanzipatorischen Haltungen sein – auf dem Land wurde PiS stärkste Kraft, in den Städten sind postmaterialistische Haltungen fünf Mal stärker verbreitet als in den Dörfern. Damit ist die polnische Gesellschaft gegenwärtig durch den Konflikt zweier ungleicher Minderheiten geprägt: eine postmaterialistische Wertewandel-Avantgarde und materialistische Traditionalisten. Letztere haben augenscheinlich bei der PiS eine politische Heimat gefunden, vor allem nachdem diese die konservativ-liberale Bürgerplattform als kaltherzig und liberal brandmarkte.

PiS radikalisiert sich gezielt selbst

Der eigentliche Wandel hat sich nach Beobachtungen Bachmanns also nicht in der Gesellschaft oder in der politischen Landschaft vollzogen, sondern in der PiS selbst. Ausführlich zeichnet er ihre erfolgreiche Strategie nach, die Wählerbasis ihrer vorherigen Koalitionspartner zu übernehmen, radikaler und populistischer zu werden sowie sich im Parteiensystem zu isolieren. Auch in ihrem Auftreten nach außen nahm PiS einen strikten rechten Kurs ein und schloss sich nach der Wahl ihrer Kandidaten in das Europäische Parlament der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer an – und isolierte sich damit selbst von den Mehrheiten.

Die Frage nach den Motiven führender PiS-Vertreter läuft in dieser Analyse eindeutig auf den Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński zu. Die von ihm betriebene Radikalisierung seiner Partei sieht Bachmann insbesondere auch als eine Reaktion auf den Flugzeugunfall 2010 bei Smolensk, bei dem sein Bruder, der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński (und mit ihm ein großer Teil der Führungselite des Landes) umkam – ohne sich in psychologische Deutungen zu versteigen, zeigt Baumann die Plausibilität einer eigenwilligen Trauerarbeit. Das daraus folgende Vorhaben, die nächste Republik unter anderen Vorzeichen als denen einer liberalen, pluralistischen Demokratie im Kontext der EU zu gründen, sei von einer kleinen Männerclique um Kaczyński erdacht und der Öffentlichkeit weitgehend verborgen geblieben.

Warum aber konnte die PiS-Partei den Zentrum-Peripherie-Gegensatz tatsächlich rechtspopulistisch ausspielen? Bachmann zieht zur Erklärung empirische Daten über gesellschaftliche Repressivität und autoritäre Haltungen heran – die in Polen nicht durch die tatsächliche Kriminalitätsrate zu erklären seien – sowie die im Wahlkampfzunächst durch die Vorgängerregierung ins Spiel gebrachte Verknüpfung von islamistischem Terrorismus und Flüchtlingsbewegungen. PiS sei es gelungen, durch entsprechende vorurteilsbeladene Thematisierungen Stimmung zu machen.

Die Wahlen

2015 gewann Andrzej Duda für die PiS die Präsidentschaftswahlen überraschend und auch der Erfolg der Partei bei den Parlamentswahlen war eigentlich keineswegs überragend: Zwar sei es ihr gelungen, so Bachmann, ihre Stammwähler zu erhalten und Stimmen von der Bürgerplattform hinzuzugewinnen. Vor allem aber seien die anderen Parteien – die Bürgerplattform wie die linken Parteien – an sich selbst gescheitert. Die Parteien des linken Spektrums seien gar so zersplittert gewesen, dass sie alle an der Fünf- beziehungsweise Acht-Prozent-Hürde scheiterten. Die PiS erhielt 37 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung um die 51 Prozent) und profitierte so stark von der Umrechnung der Stimmen in Mandate nach dem d’Hondt-Verfahren, dass sie in Senat und Parlament die Mehrheit erhielt. Für Bachmann steht außer Frage, dass diese Partei damit nicht für Umwälzungen des politischen und verfassungsrechtlichen Systems legitimiert ist.

Der Verfassungsbruch

Dass sich die PiS sogleich daran machte, die Verfassung zu revidieren, wäre an sich verständlich gewesen, so Bachmann, denn politisches System und Institutionengefüge basierten auf Entwicklungen in der späten Volksrepublik, auf Entscheidungen des Runden Tisches sowie auf der Verfassung von 1997 und könnten durchaus als modernisierungsbedürftig angesehen werden. Allerdings hatte mit der PiS zum ersten Mal seit dem Systemumbruch eine Partei die absolute Mehrheit erlangt und setzte sich über den bisherigen Konsens, für tiefgreifende Änderungen im Parlament eine Zweidrittelmehrheit zu suchen, hinweg.

Als Rückgrat des polnischen Verfassungssystems stellt Bachmann das Verfassungstribunal heraus, das bereits 1985 gesetzlich verankert wurde. Diesem obliegt die verfassungsrechtliche Überprüfung der Regierungsarbeit. Um ihre Vorstellungen ungehindert durchsetzen zu können, arbeitet die PiS seit der gewonnenen Wahl an der Entmachtung dieser Institution – durch die verfassungswidrige Verweigerung des Präsidenten, nicht genehme Richter zu vereidigen, sowie durch die Ankündigung der Regierung, die Urteile nicht mehr zu akzeptieren. Richtern auf unteren Ebenen wurde die Strafverfolgung angedroht, sollten sie weiterhin dem Verfassungstribunal folgen und nicht den – möglicherweise verfassungswidrigen – Regierungsanweisungen. Die EU eröffnete daraufhin die Debatte über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen und gab eine kritische Stellungnahme ab, ebenso die sogenannte Venedig-Kommission des Europarats. Auch die USA unter Obama kritisierten das Vorgehen der PiS-Regierung und vermieden in der Konsequenz Gespräche auf Regierungsebene.

Ungesteuerte Dynamik

Bachmann lässt keinen Zweifel daran, wie leichtsinnig es gerade angesichts der gegenwärtigen russischen Außenpolitik und des Kriegs in der Ost-Ukraine ist, die Unterstützung durch die USA zu riskieren. Mit dem Verfassungsbruch und der Weigerung, angesichts der Flüchtlingsbewegungen andere EU-Länder zu unterstützen, habe PiS Polen auch in der EU isoliert und als xenophobes und unsolidarisches Mitglied positioniert. Befeuert werde diese Außenseiterposition mit der Argumentation, man sei so etwas wie eine Kolonie der westlichen EU-Staaten und müsse die Selbstbestimmung zurückerlangen. Bachmann sieht diese Haltung an keine stringente Politik geknüpft, zumal die EU-Transferleistungen und der Zufluss an ausländischem Kapital erst den wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Leistungen ermöglichten. Dennoch versuche PiS die Zuständigkeiten der EU zu reduzieren. Dabei stehe außer Frage, dass in einer nur losen Union die Transferleistungen wegfallen würden und mit einer Rückkehr der klassischen Großmachtpolitik zum Nachteil Polens zu rechnen wäre.

Welche Ziele also verfolgt die PiS-Regierung, die wirtschaftlich mehr Autarkie propagiert, obwohl Polen Investitionen aus dem Ausland benötigt, die außenpolitisch mehr Gewicht erlangen will, aber sich in der EU isoliert und nicht einmal mehr bei Vermittlungen in der Ukraine-Krise eine Rolle spielt? Außenpolitisch sei die Wahrheit banal, schreibt Bachmann: „Die Regierung Szydlo hat nicht nur keine Strategie zum Verlassen der EU, sie hat überhaupt keine Strategie in der Außenpolitik und reagiert deshalb nur, nachlässig und oft verspätet, auf Impulse, die von außen auf sie herangetragen werden.“ (223) So werde sogar – trotz einer prowestlich eingestellten Bevölkerung – ein Austritt aus der EU, ein Polexit, denkbar: als Alternative zum eigenen Machtverlust.

Ähnlich banal erscheint die Vision eines neuen Polen: Angestrebt werde, dem eigenen Wählerklientel entsprechend, eine wirtschaftliche Modernisierung ohne kulturellen Wertewandel. Die Klimapolitik werde folglich als Intrige zur Marginalisierung polnischer Kohlegruben dargestellt, die illegale Einwanderung ins Land ignoriert und akzeptiert, dass Hochschulen und Forschung im internationalen Vergleich weit abgeschlagen seien. Abgerundet werde das Bild durch eine Geschichtspolitik, mit der PiS versuche, kritische Darstellungen, die dem Heldentum des Volkes widersprächen, zu kriminalisieren.

Insgesamt ist das Buch in zweierlei Hinsicht sehr empfehlenswert: Für deutsche Beobachter*innen, die verstehen wollen, was in Polen derzeit passiert, legt Bachmann ein gut geschriebenes Vademecum vor. Zugleich reicht seine Erklärung des Wahlerfolgs der PiS-Partei deutlich über die Landesgrenzen hinaus – die These, dass Zentrum und Peripherie unterschiedlich ticken, postmaterialistische und emanzipatorische Haltungen gegen materialistische Traditionen stehen, ist sicher die am besten geeignete, um die tieferen Ursachen rechtspopulistischer Wahlerfolge zu verstehen. Der Wahlerfolg der PiS-Partei mag auf den ersten Blick mit dem von Donald Trump oder dem Brexit-Votum in einer Reihe stehen. Der schwerwiegende Unterschied ist allerdings, dass weder in den USA noch in Großbritannien anschließend die Verfassungsordnung angegriffen worden ist. Der Verfassungsbruch in Polen wirft daher ein Schlaglicht auf die immense Bedeutung stabiler Institutionen und der Zivilgesellschaft als Basis der Demokratie.

 

CC-BY-NC-SA
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