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Interview / 21.02.2025

Fluch der schlechten Zahl: Wie Umfragewerte die Wahlchancen kleiner Parteien beeinflussen

Bilder: Sandro Halank, Steffen Prößdorf und Martin Kraft via Wikimedia Commons

Mit der FDP, dem BSW und der Linken gibt es gleich drei Parteien, die in Umfragen im Bereich der Fünf-Prozent-Hürde liegen und um den Einzug in den Bundestag kämpfen. Im Interview erklären Werner Krause (Universität Potsdam) und Christina Gahn (Universität Wien), welchen Einfluss es auf den Wahlerfolg von Parteien hat, wenn sie in Umfragen vor einer Wahl unter der Sperrklausel liegen und was man als Wähler*in über die statistischen Unsicherheiten von Umfragen wissen sollte.

Sie haben empirisch untersucht, welchen Einfluss es auf die Wahlchancen von Parteien hat, wenn sie kurz vor einer Wahl knapp unter der Sperrklausel liegen. Was haben Sie herausgefunden?[1]

Krause: Es gibt schon länger die Diskussion, ob Umfragen die öffentliche Meinung nicht nur abbilden, sondern auch das Wahlverhalten beeinflussen können. Unser Ausgangspunkt war die Annahme, dass insbesondere die Umfragewerte von Parteien, die knapp über oder knapp unter der Sperrklausel liegen, starke Signale an strategische Wähler*innen senden. Denn die Unsicherheit darüber, ob es eine Partei ins Parlament schafft, könnte ein wichtiger Faktor für deren Wahlentscheidung sein. Um das zu untersuchen, haben wir Parteien in 19 Ländern verglichen, die kurz vor einer Wahl in den Umfragen knapp über oder unter der Sperrklausel lagen und analysiert, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie tatsächlich ins Parlament einziehen. Unser Kernbefund lautet, dass eine Partei, die in Umfragen knapp unter der Sperrklausel lag, eine 50 Prozentpunkte geringere Chance hatte, ins Parlament einzuziehen als eine Partei, die in den Umfragen knapp darüber lag. Vereinfacht gesagt: Von den Parteien, die vor der Wahl knapp unter der Sperrklausel lagen, schafften nur 25 Prozent den Sprung ins Parlament; von denen, die knapp darüber lagen, waren es dagegen 75 Prozent.

Auf welche Weise wirken die Umfragen auf Wahlentscheidungen, insbesondere auf diejenigen von strategischen Wähler*innen?

Krause: Für Parteien nahe der Sperrklausel kennen wir aus der bestehenden Forschung zwei gut etablierte Mechanismen. Der erste ist der „Wasted Vote“-Mechanismus, der davon ausgeht, dass Wähler*innen ihre Stimmen nicht verschenken wollen und daher davor zurückschrecken, eine Partei zu wählen, die am Ende den Sprung ins Parlament vielleicht nicht schafft. Dies beeinträchtigt die Chancen einer Partei, die in Deutschland beispielsweise bei 4,5 Prozent in den Umfragen liegt. Die Kehrseite zu diesem Mechanismus ist der Mobilisierungseffekt für Parteien, bei denen potentielle Wähler*innen davon ausgehen, dass sie den Einzug ins Parlament schaffen. Liegt eine Partei bei 5,5 Prozent in den Umfragen, fühlen sich Wähler*innen möglicherweise ermutigt, dass ihre Stimme für diese Partei nicht verschenkt ist. Gerade für Wähler*innen, die zwischen verschiedenen Parteien schwanken, sind das wichtige Erwägungen bei ihrer Wahlentscheidung.

In einem zweiten Schritt haben sie diese Befunde anhand der österreichischen Nationalratswahlen 2024 geprüft. Was kam dabei heraus?

Gahn: Ein halbes Jahr vor der österreichischen Nationalratswahl lagen einige Parteien knapp unter der Vier-Prozent-Hürde, unter anderem auch die KPÖ (Kommunistische Partei Österreich). Wir haben zu diesem Zeitpunkt ein Experiment durchgeführt, bei dem wir die Teilnehmer*innen einer Umfrage zufällig in Gruppen geteilt haben. Einer Gruppe legten wir die Umfragewerte ohne Schwankungsbreite vor, sprich so wie es die Wähler*innen aus den Medien gewohnt sind. Da hieß es dann beispielsweise, dass die KPÖ bei 3,5 Prozent liegt. Der anderen Gruppe präsentierten wir die gleiche Umfrage mit Abbildung der Schwankungsbreiten, sodass klar wurde, dass es keineswegs ausgemacht ist, ob die KPÖ über oder unter der Sperrklausel liegt. Das Ergebnis war, dass vor allem linke Wähler*innen mit höherer Wahrscheinlichkeit bereit waren, die KPÖ zu wählen, wenn die statistische Unsicherheit über die Einzugswahrscheinlichkeit der Partei dargestellt wurde. Dazu gehörte in unserem Experiment beispielsweise auch, dass zusätzlich zu der Umfrage als Überschrift explizit darauf hingewiesen wurde, dass der Einzug der KPÖ in den Nationalrat durchaus gelingen könnte. So konnten wir zeigen, dass die transparente Kommunikation statistischer Unsicherheiten einen Einfluss auf Wahlentscheidungen haben kann.

Sie sprechen es an: Die Darstellung, Interpretation und Berichterstattung zu den demoskopischen Befunden, die von den Meinungsforschungsinstituten erhoben werden, erfolgt medial. Welche Möglichkeiten haben die Medien, um Schwankungsbereiche und statistischen Unsicherheiten angemessen zu kommunizieren?

Gahn: Das eine Patentrezept dafür gibt es nicht. Wir wissen aus unserer Studie, dass es wichtig ist, die Schwankungsbreiten nicht nur zu erwähnen, sondern auch graphisch darzustellen und bei der Interpretation der Umfrage zu helfen. Zudem wäre es sinnvoll, zu berichten, wie viele Wähler*innen sich noch gar nicht für eine Partei entschieden haben. Wenn 30 Prozent der Wähler*innen noch gar nicht wissen, wo sie am Wahltag ihr Kreuzchen machen werden, ist das für die Unsicherheit über den Wahlausgang eine sehr relevante Information.

Krause: Ich würde mich bei beiden Vorschlägen anschließen. Entscheidend ist, den Wähler*innen ein stärkeres Gefühl für die Unsicherheiten von Wahlumfragen zu vermitteln. Es kommt nicht darauf an, dass Schwankungsbreiten im letzten technischen Detail verstanden werden, sondern darum, eine stärkere Sensibilität für die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Meinungsumfragen zu entwickeln. Dazu sollte Wähler*innen beispielsweise wissen, dass die Schwankungsbreite nur ein Teil der Unsicherheiten von Umfragewerten ausmacht. Hinzu kommen weitere Punkte wie nicht immer repräsentative Stichproben, unentschlossene Wähler*innen oder das Problem der sozialen Erwünschtheit im Antwortverhalten der Befragten. Das sind alles Dinge, die über die rein mathematisch-statistische Unsicherheiten hinausgehen und die kaum zu quantifizieren sind.

In welchem Bereich liegt die rein statistische Schwankungsbreite, alle sozialen Faktoren ausgeklammert?

Krause: Das hängt von der Zahl der Befragten und der Stärke der Parteien ab. Bei einer Stichprobe von 1000 Befragten läge die rein statistische Schwankungsbreite für eine 30%-Partei bei etwa drei Prozentpunkten und für eine 5%-Partei bei ein bis zwei Prozentpunkten. Allerdings gilt dies für ungewichtete Zufallsstichproben. Da bei der Sonntagsfrage meist mit komplexen Gewichtungsverfahren gearbeitet wird, ist die tatsächliche statistische Unsicherheit meist etwas größer.

Die Schwankungsbreite gibt an, in welchem Bereich sich der tatsächliche Wert einer Partei mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegt. Das bedeutet auch: Wenn sich die Werte von zwei Parteien nur um einige Prozentpunkte unterscheiden, muss dies keinen tatsächlichen Unterschied in der Wählergunst bedeuten - es kann sich um eine rein zufällige Schwankung handeln.

Ein häufiges Argument gegen das transparente Ausweisen der statistischen Fehlerbereiche lautet, dass dies die Graphiken überladen und die Wähler*innen überfordern würde. Gibt es Forschung zu diesem Thema?

Krause: Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen, aber zum jetzigen Zeitpunkt finden wir wenig Anhaltspunkte dafür, dass die graphische Darstellung von Schwankungsbreiten die Wähler*innen verwirren würde. Das kann man daraus schließen, dass wir diejenigen Effekte sehen, die wir auch theoretisch erwarten würden. Wie geschildert, verändert sich das Wahlverhalten erwartungsgemäß zugunsten von Parteien knapp unter der Sperrklausel, wenn die Schwankungsbreiten kommuniziert werden. Auch in einer weiteren Studie finden wir, dass die Darstellung der Schwankungsbreiten bei größeren Parteien dazu führt, dass Wähler*innen statistische Unsicherheiten eher berücksichtigen und ihre Wahlabsichten entsprechend verändern.[2] 

Kurzum, wir brauchen mehr Forschung zu diesem Thema, aber ich wäre nicht so skeptisch, dass das die Wähler*innen per se überfordern würde. Eine entscheidende Rolle spielt dabei sicherlich die mediale Kommunikation, Vermittlung und Kontextualisierung der Umfragewerte. Um ein anderes Beispiel zu geben: Eigentlich sollten Veränderungen von ein oder zwei Prozentpunkten zur Vorwoche gar nicht als Veränderung gelesen werden, sondern als Teil einer natürlichen Schwankung von Werten, aber dies widerspricht natürlich ein Stück weit der aktuellen Dynamik der Politikberichterstattung.

Wahlprognose von zweitstimme.org. In dieser Darstellung geben die Schwankungsbreiten an, in welchem Bereich der tatsächlichen Wert mit 83% Wahrscheinlichkeit vermutet wird. 

 
Sie sprechen das Mediensystem und die Form politischer Öffentlichkeit an, die von den „neuesten Zahlen“ und schnelllebigen politischen Trends gar nicht genug bekommen kann. Dazu kommt, dass stabile Parteibindungen zurückgehen, die Zahl von Wechselwähler*innen wächst und sich der Zeitpunkt der Wahlentscheidung immer weiter nach hinten verschiebt. Auf einer theoretischen Ebene könnte man erwarten, dass Wahlumfragen heute daher einen größeren Einfluss haben sollten als vor dreißig Jahren. Gibt es empirische Hinweise dafür?

Das ist eine wichtige Frage, die wir gerade anhand unserer Daten untersuchen. Die große Herausforderung dabei ist, den Einfluss von Umfragen zu isolieren, da Wahlentscheidungen von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst werden. Die Vermutung, dass der Einfluss von Umfragen aufgrund der genannten Faktoren zugenommen hat, ist plausibel, aber der empirische Nachweis ist herausfordernd. Dabei müssen wir verschiedene mögliche Effekte unterscheiden: Umfragen könnten beispielsweise strategisches Wahlverhalten beeinflussen, einen Bandwagon-Effekt oder auch einen so genannten Underdog-Effekt auslösen.

Wir haben allerdings einige interessante Hinweise: Bei Wahlen, bei denen unmittelbar vor dem Wahltag keine Umfragen mehr veröffentlicht werden, gehen die umfragegetriebenen Effekte zurück. Das deutet darauf hin, dass die heutige mediale Dauerpräsenz von Umfragen, die es in dieser Form früher nicht gab, tatsächlich einen Einfluss haben könnte.

Ihre Forschung zeigt, dass Umfragen nicht einfach nur die Präferenzen der Wähler*innen neutral abbilden, sondern selbst präferenzbildendend in den politischen Prozess intervenieren und sogar Einfluss auf den Ausgang von Wahlen nehmen. Dabei täuschen sie eine Genauigkeit der Umfragen vor, die so nicht gegeben ist und die Wahlchancen kleiner Parteien beeinträchtigt. Ist das nicht ein veritables Problem für die demokratische Willensbildung und die Chancengleichheit zwischen den Parteien?

Gahn: Es gibt die Gefahr, dass Umfragen zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung werden können, weil sich die Wechselwirkungen zwischen Umfragen und politischen Einstellungen immer weiter verstärken. Trotzdem würde ich grundsätzlich sagen, dass es legitim ist, wenn Wähler*innen ihre Wahl auch von Umfragewerten abhängig machen und strategisch wählen. Strategisches Wählen kann dann problematisch werden, wenn Wähler*innen glauben, ihre Stimme strategisch zu vergeben, dies aber irrtümlich geschieht, weil sie sich der Unsicherheiten in den Umfragewerten nicht bewusst sind. Deshalb ist es so wichtig, dass Medien Umfragen angemessen aufbereiten, um den Bürger*innen kein falsches Bild zu vermitteln. Dies könnte auch bedeuten, dass vor allem Qualitätsmedien vielleicht auf die eine oder andere Schlagzeile verzichten sollten, wenn diese nur darauf basiert, dass eine Partei in einer Umfrage um ein oder zwei Prozent abgerutscht ist.

Krause: Ich würde an dieser Stelle nochmal auf die Rolle von Sperrklauseln zu sprechen kommen. Deren demokratische Legitimation liegt darin, dass sie eine zu starke politische Fragmentierung des Parlaments verhindern und so die Regierungsbildung erleichtern sollen. Gleichzeitig können gerade kleine Parteien Motoren für politische Innovationen und neue Debatten sein. Zum Problem für das demokratische System wird es, wenn diese kleinen Parteien einen systematischen Nachteil erfahren, weil bestimmte Informationen nicht ausreichend mitgeliefert werden oder Wähler*innen sich bestimmter Effekte nicht bewusst sind.

Die Lösung liegt in der Transparenz: Auch wenn Umfragen nur einer von vielen Faktoren bei der Wahlentscheidung sind, müssen wir die damit verbundenen Unsicherheiten klar kommunizieren. Wenn das gelingt, spricht nichts dagegen, dass sich Bürger*innen durch Umfragen über den Stand der öffentlichen Meinung informieren und als Hilfe für ihre Wahlentscheidung heranziehen.


Anmerkungen:

[1] Krause, Werner/Gahn, Christina (2025): Parties’ Path to Parliament. The Influential Role of Public Opinion Polls, Working Paper online unter: https://www.dropbox.com/scl/fi/0kbs6fnaukoaozi4e72m6/KrauseGahn_PartiesPathToParliament_20250204.pdf?rlkey=h4trgfgq5yetfpxqjvvh54op5&e=1&dl=

[2] Siehe auch: Krause, Werner/Gahn, Christina (2024). Should We Include Margins of Error in Public Opinion Polls? European Journal of Political Research 63 (3), 1082-1107. http://doi.org/10.1111/1475-6765.12633

 

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