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Rezension / 12.02.2025

Martin Stark: Die Quadratur des Wahlrechts. Das Bundeswahlgesetz zwischen Demokratietheorie, Staatsrecht und Parteiinteressen

Baden-Baden, Nomos 2024

Was sind die demokratietheoretischen Implikationen des Dauerthemas Wahlrechtsreform? Martin Stark erörtert die demokratietheoretischen Implikationen des Wahlrechts, rekapituliert die bisherigen Debatten und vergleicht zuletzt verschiedene Reformvorschläge miteinander. Sein zentrales Argument lautet, dass Verhältniswahl und Proporz überschätzt werden. Daniel Hellmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Parlamentarismusforschung, ist nicht überzeugt, da Starks Argumentation einseitig ausfalle und die Ausformulierung eines eigenen Reformvorschlags zu kurz komme.

Eine Rezension von Daniel Hellmann

Suzanne S. Schüttemeyer bezeichnete einst die Reform des Bundestagswahlrechts als „eierlegende Wollmilchsau“[1] und brachte damit zum Ausdruck, dass eine für alle zufriedenstellende Reform des Wahlrechts unmöglich sei. Parteien- und föderaler Proporz, Einfachheit und viele andere Anforderungen sollen im institutionellen Arrangement des personalisierten Verhältniswahlsystems zusammengefügt werden. Das Unterfangen gleicht der Quadratur des Kreises. Genau darauf spielt der Titel des Werkes von Martin Stark an. Stark möchte zur Wahlrechtsdebatte beitragen, indem er auf die demokratietheoretischen Implikationen des Wahlrechts hinweist und auf dieser Grundlage Reformvorschläge beurteilt. Dabei teilt sich das Werk grob in drei Teile. Zunächst erörtert er demokratietheoretische und verfassungsrechtliche Grundlagen für die Wahlrechtsdebatte. Anschließend wird der bisherige Reformprozess und der ihn umgebende Diskurs rekapituliert. Und zuletzt werden verschiedene Reformvorschläge miteinander verglichen und bewertet. Dabei stellt Stark die Hypothese in den Raum, dass der Verhältniswahlcharakter und mit ihm der Proporz und die Wahl von Parteien in der Wahlrechtsdebatte überbewertet werden.

Stark knüpft damit an die aktuelle Reformdebatte an. Während die Fraktionen der Ampelkoalition mit ihrer Wahlrechtsreform deutlich den Verhältniswahlcharakter stärkten, wird diese Gesetzesänderung insbesondere von den Unionsparteien kritisiert. Hintergrund ist, dass durch das neu eingeführte Verfahren der Zweitstimmendeckung künftig die Größe des Bundestages konstant bei 630 Mandaten liegen wird und keine Überhangmandate mehr anfallen.[2] Dies geht allerdings zulasten einiger Wahlkreisgewinner*innen, die künftig nicht mehr direkt in den Bundestag einziehen dürften. Generell folgt aber schon seit Einführung des Wahlsystems 1949 die Mandatsverteilung primär der Logik des Proporzes: Eine Partei erhält Mandate proportional zu ihrem Stimmanteil. Der Personalisierungsanteil tritt demgegenüber zumindest bezüglich der zahlenmäßigen Mandatsverteilung eher zurück.

Wird die Bedeutung der Verhältniswahl überschätzt?

Dabei macht Stark in seinen Ausführungen richtigerweise darauf aufmerksam, dass die reine zahlenmäßige Abbildung von Parteistärkeverhältnissen nicht ausreicht, um Repräsentation zu gewährleisten. Diesem Grundgedanken geht er unter den Schlagworten „Parteienstaat“, „Repräsentation“, „Responsivität“, „das parlamentarische Mandat“ und „empirische Befunde zur Frage von Repräsentation und Responsivität“ nach. Er arbeitet dabei – wenig überraschend – heraus, dass die Verhältniswahl und der Proporzgedanke in der politischen, rechtlichen und öffentlichen Debatte tatsächlich überbewertet werden und dass die Direktwahl von Abgeordneten, etwa in Einerwahlkreisen, in einiger Hinsicht vorzuziehen sei.

Direkt gewählte Abgeordnete wären demnach zumindest weniger Exponent*innen ihrer Partei als über die Liste gewählte Abgeordnete, was ihnen eine direktere Verbindung zur Wahlkreisbevölkerung ermögliche (34). Ihre Aufstellung sei inklusiver (38-39), sie seien essenziell für den Dialogprozess mit der Bevölkerung (48), was auch die empirische Forschung zeige (60). Auch die aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl abgeleitete Erfolgswertgleichheit bewertet Stark kritisch (73-74, 119). Aus all diesen Überlegungen ergibt sich, „[…] dass der in einem Wahlkreis direkt legitimierte Abgeordnete das Sinnbild des responsiven Repräsentanten darstellt“ (61). Dementsprechend bemängelt Stark unter anderem die „Überbetonung der Verhältniswahl als Teilelement eines Mischsystems“ (145) vor dem Bundesverfassungsgericht.

Repräsentationsverhalten und Aufbereitung der bisherigen Reformhistorie

Diese Ausführungen laden zum Streit ein, sowohl politisch als auch politikwissenschaftlich. Ob der sogenannte „mandate divide“, also das unterschiedliche repräsentative Verhalten von direkt- und über die Liste gewählten Abgeordneten, existiert und wie er sich äußert, ist in der Forschung umstritten. Allerdings kommt bei Stark sowohl in der Quellenauswahl als auch in ihrer Wiedergabe ein Bias durch. So wird etwa bezüglich der Kandidat*innenaufstellung die jüngere Forschung gerade zu Deutschland außen vor gelassen.[3] Gleiches gilt für Studien zum Repräsentationsverhalten. Diese sind keineswegs, wie behauptet, alle veraltet (53, 62), sondern neuere Forschung – wie etwa im Rahmen des CITREP-Projekts[4] – wurde im Rahmen der Arbeit schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen.

Positiv hervorzuheben ist indes die Aufbereitung der bisherigen Reformhistorie und der sie umgebenden Debatten, die einen erheblichen Umfang aufweist (147-314). Insbesondere die Haltung der Parteien und der Wandel ihrer Einstellungen zur Wahlrechtsfrage sind aufschlussreich. So lasse sich bei keiner Partei eine feste Präferenz für oder gegen ein bestimmtes Wahlsystem feststellen. Auch die von Stark postulierten demokratietheoretischen Überlegungen fänden in den parlamentarischen und öffentlichen Debatten kaum Niederschlag (314). So interessant und aufschlussreich die Darstellung der Wahlrechtsdebatten der vergangenen Jahrzehnte ist, so sehr ist auch fraglich, inwiefern dies dazu beitragen soll, ein besseres Wahlsystem zu entwerfen.

Keine geglückte Quadratur des Kreises

Diesen Faden nimmt Stark erst im letzten Abschnitt des Buches wieder auf. Aus den Bewertungskriterien für Wahlsysteme nach Nohlen[5] und nach Jesse[6] entwickelt Stark seinen eigenen Bewertungskatalog und untersucht verschiedene Reformvorschläge, die im 19. und 20. Deutschen Bundestag verhandelt oder vorgebracht wurden. Diese reichen von der Reduzierung der Zahl der Wahlkreise über die Einführung von Zweipersonenwahlkreisen, halboffenen Listen, einer Deckelung der auszugleichenden Überhangmandate bis hin zur Verrechnung auf Bundesebene, um nur einige Vorstöße zu benennen. Was indes in Starks Aufzählung keine Erwähnung findet, sind die Vorschläge von Teilen der Unionsfraktion aus der 19. und 20. Wahlperiode, ein Grabenwahlrecht als „echtes Zweistimmensystem“ einzuführen, welches die Mehrheitsverhältnisse deutlich in Richtung der Union verschoben hätte. Warum gerade diese für Starks These von der Überbetonung des Proporzes besonders interessanten Reformvorschläge hier fehlen, ist unklar. Auch ein eigener Reformvorschlag, der eine Modifikation des Bundeswahlgesetzes von 2020 darstellt, wird dabei unterbreitet (384-386). Dieser ist jedoch kaum ausformuliert und daher hinsichtlich seiner Wirkung kaum nachvollziehbar. Da die meisten Vorschläge der letzten Jahre an der Grundstruktur der personalisierten Verhältniswahl als Verhältniswahl festhalten oder diese noch stärker als bisher betonen, kommt Stark zu einem vernichtenden Urteil: „Die Mehrheit der dargestellten Reformvorschläge ist daher als unzureichend für ein Wahlsystem einer repräsentativen-parlamentarischen Demokratie zu werten“ (388).

Folgt man Starks Vermutung, dass Verhältniswahl und Proporz überschätzt werden, so kann man in dem Werk viele gut durchdachte Argumente dafür finden. Die vielen guten Gegenargumente fehlen indes, was die Arbeit sehr einseitig erscheinen lässt.  Dies findet auch in der bereits angeschnittenen Quellennutzung Ausdruck. Zuletzt kann man die Prämisse, dass demokratietheoretische Erwägungen – die ihrerseits auch politisch eingefärbt sind – in der politischen Diskussion zu wenig Beachtung finden, kritisch sehen. Wahlrechtsfragen sind immer Machtfragen und die Frage nach den Mehrheitsauswirkungen einer Reform sind für die handelnden Akteure essenziell. Auch wenn man sich dem Plädoyer von Stark für mehr Reflexion über die demokratietheoretischen Implikationen des Wahlsystems anschließt, darf man dennoch diesen Faktor nicht als bloße Machtspielchen abtun. Da leider die Ausformulierung eines eigenen Reformvorschlags zu kurz kam, kann insgesamt nicht von einer geglückten Quadratur des Kreises gesprochen werden.


Anmerkungen:

[1] Schüttemeyer, Suzanne S. (2012): Editorial, in ZParl, 43. Jg., H. 3, S. 505.

[2] Näheres zum Verfahren und zu den Auswirkungen der Reform: Hellmann, Daniel (2024): Was taugt das neue Wahlgesetz, IParl-Blickpunkt Nr. 13.

[3] Siehe als Auswahl Reiser, Marion (2014): Innerparteilicher Wettbewerb bei der Kandidatenaufstellung: Ausmaß – Organisation – Selektionskriterien. Habilitationsschrift Universität Frankfurt am Main; Steg, Christian (2016): Die Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl. Analyse der Nominierungen von CDU und SPD in Baden-Württemberg zur Bundestagswahl 2009, Baden-Baden: Nomos; Schüttemeyer, Suzanne S. et al. (2024): Die Aufstellung der Kandidaten für den Deutschen Bundestag. Empirische Befunde zur personellen Qualität der parlamentarischen Demokratie, Baden-Baden: Nomos.

[4] Gabriel,  Oscar W. / Kerrouche, Eric / Schüttemeyer , Suzanne S. (2018): Political Representation in France and Germany. Attitudes and Activities of Citizens and MPs, Cham: Palgrave Macmillan.

[5] Nohlen, Dieter (2014): Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme, Opladen: Budrich.

[6] Jesse, Eckhard (1983): Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1983, Düsseldorf: Droste.



DOI: 10.36206/REZ25.9
CC-BY-NC-SA
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