Ursula Münch (Hg.), Heinrich Oberreuter (Hg.), Jörg Siegmund (Hg.): Im Land der Scheinriesen? Die Bundestagswahl 2021 in der Analyse
In diesem Sammelband wird die Bundestagswahl 2021 aus politikwissenschaftlicher und praxisorientierter Perspektive untersucht. Dabei stehen die Erfolgsfaktoren der SPD, die Schwächen der Union, der Einfluss von Personalisierung und medialem Wandel sowie die politischen Folgen der Wahl, einschließlich der Herausforderungen der Ampel-Koalition und der Wahlrechtsreform, im Mittelpunkt. Unser Rezensent Michael Kolkmann lobt das Buch als eine willkommene, substanziell überzeugende und sehr gut lesbare Ergänzung zum Literaturbestand rund um die Bundestagswahl 2021.
Eine Rezension von Michael Kolkmann
Die nächste Bundestagswahl findet am 23. Februar 2025 statt, ist uns also deutlich näher als die Wahl 2021 – aber manchmal ergeben sich profunde und nachhaltige Einschätzungen erst mit etwas größerem zeitlichen Abstand. Mit dem kürzlich im Campus-Verlag erschienenen Buch „Im Land der Scheinriesen?“ legen Ursula Münch, Heinrich Oberreuter und Jörg Siegmund einen knappen Sammelband mit breit angelegten Analysen der Bundestagswahl 2021 vor. Bei den Beiträgen handelt es sich um Vorträge der Autor*innen im Rahmen einer gemeinsamen Tagung der Akademie für politische Bildung in Tutzing sowie der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen im Nachgang zur letzten Bundestagswahl, die dort, wo es aus Sicht des Jahres 2023, in dem die Endredaktion des Bandes erfolgte, notwendig war, entsprechend aktualisiert worden sind.
Der Band hebt sich von anderen Analysen zum Thema vor allem dadurch ab, dass neben politikwissenschaftlichen Autoren*innen auch Praktiker und politische Beobachter zu Wort kommen, etwa Journalisten*innen und professionelle Wahlkämpfer*innen. Damit stellt der Band eine gute und sinnvolle Ergänzung der bislang publizierten Werke, etwa von Karl-Rudolf Korte („Die Bundestagswahl 2021“), Uwe Jun und Oskar Niedermayer („Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021“) oder Christina Holtz-Bacha („Die (Massen-)Medien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2021“) dar.
Im Vorwort identifizieren die Herausgeber*innen mit Blick auf die Bundestagswahl 2021 sowohl neue Aspekte als auch längerfristige Tendenzen. Die Frage, ob es sich bei der Wahl um eine Zäsur handelte oder nicht, wird gleich im ersten Absatz mit einem eindeutigen „Beides!“ beantwortet (7): „Denn unter den zahlreichen Befunden findet sich vieles, das sich in längerfristige Trends einreiht, aber auch manches, das auf neuere Entwicklungen hindeutet. Und überraschend können ohnehin sowohl die Kontinuität als auch der Richtungswechsel sein, je nach Blickwinkel und Erwartungshaltung“ (ebd.).
Die Zeit der Riesen ist vorüber
Der Band ist in drei große Teile gegliedert. Im ersten Teil „Einführung“ blickt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter unter der Überschrift „Die Zeit der Riesen ist vorbei“ zunächst auf die Wahl von 2021 und ihr Umfeld. Dabei präsentiert er eine Fülle an Zahlen, Daten und Fakten rund um die Wahl und den Wahlkampf, einschließlich einer ganzen Reihe von Tabellen und Schaubildern etwa zu Koalitionsoptionen, Wählerwanderungen, Volks- und Kleinparteien oder dem Wahlverhalten in Ost und West. Auch Einschätzungen der Bürger*innen zur Kompetenz der Kanzlerkandidat*innen oder zu den wichtigsten Themen im Wahlkampf werden in diesem Beitrag berücksichtigt. Als zentrale Befunde bzw. Zukunftsaussichten hält er fest: Die „Gesellschaft der Singularitäten“ (26), ein von Andreas Reckwitz geprägter Begriff, schaffe sich ein fragmentiertes Parteiensystem. Die Netzkommunikation unterminiere ein Klima von gesellschaftlicher Mäßigung und Konsensbereitschaft und erhöhe Themenvielfalt und Dynamik. Eine zentrale Rolle spielten die neuen Kommunikationsmedien und zwar nicht nur in Bezug auf das politische Agenda Setting. Die „Idee der Bewegung“ gewinne gegenüber der „Institution Partei“ (27) an Bedeutung. Angesichts dieser Entwicklungen sei es eine umso wichtigere Aufgabe der Parteien, ein Führungspersonal zu generieren, „das die Balance zwischen sich stetig differenzierenden politischen Optionen und unumgehbarer Sachrationalität zu finden vermag“ (27).
Der FAZ-Journalist Jasper von Altenbockum thematisiert anschließend „populistische Versuchungen in Zeiten schwacher Volksparteien“ (29). Er beleuchtet die Wirkung der Ankündigung Angela Merkels, nicht erneut als Kanzlerkandidatin ihrer Partei antreten zu wollen („Im Schatten Angela Merkels“). Danach legt er sein Augenmerk auf den aktuellen Zustand der Volksparteien und ihre Herausforderungen („Aus den Trümmern der Volkspartei“). Diesen Gegenstand verbindet er mit der Rolle des Spitzenpersonals in Zeiten der Personalisierung der Politik („Doppelkopf und Leadership“). Und er bilanziert, dass es einer der Stärken der Volkspartei gewesen sei, den Typus des „entfesselten“ Politikers zu verhindern. Politiker*innen in Deutschland müssten demnach „Integrationsfiguren“ sein, nicht „Polarisierungsfiguren“ (38) – anders etwa, als es in einigen anderen europäischen Ländern zu beobachten sei: „Ein Solitär bleibt Deutschland nur, wenn es sich diese Parteiform bewahren kann“ (38).
Wahlkämpfe und Wahlverhalten
Der zweite Teil des Bandes behandelt den Wahlkampf und das Wahlverhalten. Roman Deininger von der Süddeutschen Zeitung, der den Wahlkampf 2021 mit Blick auf die Union sehr eng begleitete, lässt das „Ringen der Unionsparteien um Einigkeit“ (41) Revue passieren und nimmt dabei insbesondere den Wettbewerb von Armin Laschet und Markus Söder um die Kanzlerkandidatur der Union in den Blick. Laschet attestiert er dabei einen „Grottenolm“-Wahlkampf: Von Grottenolmen „weiß die Wissenschaft, dass sie in dunklen Höhlen leben und sich bis zu sieben Jahre nicht bewegen“ (41). Damit spielt er auf den Ansatz Laschets an, ab Frühsommer 2021 „praktisch jede Bewegung“ eingestellt zu haben. In den Umfragen lag die Union zu diesem Zeitpunkt deutlich vorne, Konkurrentin Annalena Baerbock von den Grünen hatte mit Plagiatsvorwürfen zu kämpfen und der SPD-Kandidat Olaf Scholz war samt seiner Partei weit abgeschlagen: „[E]s wirkte, als wäre Laschet das Kanzleramt nicht mehr zu nehmen“ (41). Der Rest der Geschichte ist bekannt, nach Deiningers Einschätzung ein beispielloser Absturz der Union und ihres Kanzlerkandidaten (vgl. 42). Er attestiert der Union strategische und handwerkliche Fehler im Wahlkampf, persönliche Schwächen des Kandidaten sowie eine „in dieser Form neuartige, brutale Stimmungsdynamik“, „die sich gegen Laschet entwickelte und einen weithin als integer bekannten Politiker in der öffentlichen Wahrnehmung zeitweise auf eine Karikatur seiner selbst reduzierte“ (43). Er hält am Ende des Beitrages fest: „Fehler kann man machen in einem Wahlkampf. Ernst wird die Lage, wenn man einen Gegner hat, der diese Fehler auszunutzen versteht – und selbst keine macht“ (43).
Deininger zeichnet die großen Linien der damaligen Auseinandersetzung im Wahlkampf nach und berichtet sehr erfrischend vom Duell von Laschet und Söder: „Für die Idee, dass Söder Kanzler werden könnte, wäre man ja keine zwei Jahre vorher noch zum Arzt geschickt worden“ (45) bemerkt er augenzwinkernd mit Blick auf dessen Rolle im vorangegangenen Asylstreit zwischen CDU und CSU. So vermutet der Autor auch, dass Söders Kandidatur „eher plötzlicher Ambition entsprang“ (ebd.), er habe die Kandidatur eher mit dem Bauch als mit dem Kopf gewollt. Der inzwischen legendär gewordene Lacher Laschets am 14. Juli in Erftstadt wurde dann zum „Wendepunkt des Wahlkampfes“ (50). Von da an „musste Laschet auf einer schiefen Ebene agieren“ (ebd.). Deininger fasst die Verfehlungen der Unionskampagne wie folgt zusammen: mangelnde strategische Vorbereitung, misslungene öffentliche Definition des eigenen Bildes, der Versuch, eine Kampagne als gefühlter Amtsinhaber zu führen (der man nicht war), ein zu starker Fokus auf einen „Schlafwagen-Wahlkampf“ (54), Verzicht auf Zuspitzung politischer Themen, mangelnde Berücksichtigung visueller Wirkungsmechanismen der Medien, Fehlen eines Gewinnerthemas, kein klar definiertes Entscheidungszentrum der Kampagne sowie fehlende Flexibilität während des Wahlkampfes. Dieses Fazit könnte in zukünftigen Wahlkämpfen wichtige Handlungsempfehlungen nicht nur für die Union, sondern für alle anderen Parteien liefern.
Der langjährige Wahlkampfexperte Frank Stauss, der bereits erfolgreiche Wahlkämpfe für Gerhard Schröder, Klaus Wowereit, Olaf Scholz, Malu Dreyer und viele andere SPD-Größen organisiert hat, erörtert in seinem Beitrag die „Einzigartigkeit der Bundestagswahl 2021“ und konstatiert, dass die SPD als einzige Partei wirklich auf die Wahl bzw. den Wahlkampf vorbereitet war. Seiner Einschätzung nach ist Wahlkampf vor allem „Handwerk“ (59), aber auch ein „hoch kompliziertes Gebilde“ (ebd.): „[A]uf Grundlage einer hoffentlich vorhandenen Strategie greifen zahlreiche Gewerke ineinander und müssen perfekt geplant, koordiniert und exekutiert werden“ (ebd.). Entsprechend sei es ratsam, sich sehr gut vorzubereiten, denn „jeder Patzer auf der Strecke kann entscheidend sein“ (60). Wichtig seien klare Kompetenzen und Abläufe sowie ein eingespieltes und sich vertrauendes Team: „Das wiederum braucht Zeit. Selbstverständlich kann man auch trotz stimmiger Organisation Wahlen verlieren. Es ist bei fehlender Organisation aber nahezu unmöglich, eine Wahl zu gewinnen. Ganz besonders gilt dies für die Bundestagswahl 2021“ (ebd.). Als Blaupause für einen erfolgreichen Wahlkampf dient Stauss die Studie „Aus Fehlern lernen“ (2018), in der die Fehler der SPD in den Wahlkämpfen von 2017 und 2013 aufgearbeitet wurden. Als wichtigste Kriterien wurden darin der zeitliche Vorlauf und der organisatorische Aufbau, die Policy-Entwicklung, eine geschlossene Führung, die Kampagnenentwicklung sowie die Spitzenkandidatur thematisiert (vgl. 62 f.).
Anschließend beschreibt Stauss die Kampagnen der drei Parteien mit Kanzlerkandidaturen. Auf der Metaebene beschreibt er schließlich die zunehmende Volatilität in Zeiten multipler Krisen und medialer Überreizung sowie die Auswirkungen von Medienwandel und Polarisierung auf demokratische Prozesse. Am Ende sei es auf den zukünftigen Kanzler angekommen: Scholz hatte in Kompetenzfragen die größten Zustimmungswerte zu verzeichnen, damit habe er nicht nur seine Partei, sondern auch deren Themen nach vorne gezogen (vgl. 73 f.): „Die Bundestagswahl 2021 wurde eine Persönlichkeitswahl. Sie war keine Richtungswahl. Aus ihr ließ und lässt sich kein politisches Mandat ableiten“ (74).
„Fortschrittskoalition“ und die Rolle der TV-Trielle
Die neue Regierung beschrieb sich selbst als „Fortschrittskoalition“ (75). Stauss gibt zu bedenken: „Der Verlauf des Wahlkampfes lässt daran zweifeln, dass dies ein Wählerwunsch war. Eher liegt die Vermutung nahe, dass viele Wählerinnen und Wähler eigentlich ein ‚Weiter so‘ wie mit Merkel wünschten, nur eben mit Olaf Scholz und der SPD diesmal auf Platz 1 und der Union auf Platz 2. In über 16 Jahren hatten die Deutschen gelernt, dass sie am besten damit fahren, wenn der Fortschritt eine Schnecke ist und die Politik nicht weiter stört“ (75). Am Ende schaut Stauss auf die Performanz der – wir heute wissen, inzwischen gescheiterten – Ampel-Koalition und konstatiert, dass „neben den programmatischen Unwuchten zwischen den Koalitionspartnern“ der Bevölkerung auch „massive Transformationsprozesse“ zugemutet werden müssten – „ohne dass die Bevölkerung im Wahlkampf darauf vorbereitet worden wäre, geschweige denn, dass das Volk damit sein Votum verbunden hätte“ (75). Und er schließt mit den Worten: „Stil, Inhalt, Personalisierung und Professionalität eines Wahlkampfes beeinflussen nicht nur das Ergebnis am Wahltag, sondern auch die folgenschweren Entscheidungen zwischen Stagnation und Fortschrittsbereitschaft danach“ (75). Thorsten Faas und Anton Könneke von der Freien Universität Berlin legen ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle der Medien im vergangenen Bundestagswahlkampf. Dabei skizzieren sie die politische Informationsversorgung im Wandel der Generationen; aus Platzgründen sei hier auf den Beitrag lediglich hingewiesen.
Der frühere ARD-Chefredakteur und heutige Leiter des Auslandsstudios Genf Rainald Becker analysiert die TV-Trielle des Jahres 2021 und wagt einen Blick auf die Zukunft dieses Formats. Er kritisiert gleich eingangs, dass die drei Trielle zu „gleichartig“ (93) gewesen seien: „Vor allem deshalb entstand der Eindruck, weniger wäre mehr gewesen“ (ebd.). Und er konkretisiert: „Hätten die Sender und Reaktionen sich besser inhaltlich und thematisch abgestimmt, und hätten die Moderatorenpaare ihren Job anders, genauer gesagt harmonischer, gemacht, wäre vermutlich ein anderes Bild entstanden“ (93). Nachdem er die drei Veranstaltungen durchdekliniert hat, kommt Becker zu dem Schluss, dass die Moderation von Peter Klöppel und Pinar Atalay von RTL und n-tv „am besten funktionierte“ (96). Insgesamt habe aber bei der Analyse der Trielle ein „Déjà-vu“-Effekt (96) überwogen. Für zukünftige Duelle bzw. Trielle, etwa im Vorfeld der Bundestagswahl 2025, erhofft sich Becker einen „Lernfaktor“ (99). Konkret präsentiert er die folgenden Vorschläge: „Die Sender sollten ein strafferes redaktionelles Konzept mit gut aufeinander abgestimmten Moderatoren entwickeln, sollten ein deutlich breiteres Themenspektrum gut untereinander aufteilen, sollten auf die nervende und oft fehlerhafte Redezeitmessung verzichten und stattdessen eher die zur Verfügung stehende Sendezeit thematisch einteilen und gewichten“ (99). Vor allem solle auf die sich üblicherweise daran anschließende Talksendung verzichtet werden: „Diese Sendungen sind die Hochzeit der Meinungsmacher, Spin-Doktoren und Parteigänger der jeweiligen politischen Lager. Ob diese Art der Nachbereitung sinnvoll ist für die politische Meinungsbildung bei Wählerinnen und Wählern, ist erst noch nachzuweisen“ (100). Daher schlägt Becker vor, in Zukunft, etwa im Bundestagswahlkampf 2025, auf solche Sendungen zu verzichten – aber er betont zugleich, dass diese Meinung vermutlich „nicht mehrheitsfähig“ (99) sei.
Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach beschließt den zweiten großen Teil des Sammelbands mit einem Blick auf das politische Klima der Wahl. Neben dem Ende der „Stunde der Exekutive“ im Gefolge der abflauenden Corona-Pandemie und dem damit korrespondierenden Stimmungsabfall der Bevölkerung gegenüber der damaligen Bundesregierung präsentiert er empirische Befunde aus der Umfrageforschung zur Frage, ob es vor der Bundestagswahl 2021 eine „Wechselstimmung“ (110) gegeben habe. Die Einschätzungen der Bürger*innen seien dadurch beeinflusst worden, dass, wie oben erwähnt, zur Wahl kein/e Amtsinhaber/in antrat. Immerhin 61 Prozent der Befragten stimmten im Mai 2021 der Aussage zu, dass es „gut“ sei, wenn die Regierung wechseln würde, das entspricht dem höchsten Wert seit Einführung dieser Frage im Jahr 1994. Schließlich bricht Petersen die Frage einer Wechselstimmung auf einzelne Politikfelder herunter und präsentiert detaillierte Ergebnisse einer Befragung, in welchen Policy-Bereichen sich die Bürger*innen am ehesten einen Wandel wünschten. Dabei macht er deutlich, wie stark diese Einschätzungen von der konkreten Lebenssituation der Befragten beeinflusst wird (vgl. 113). Am Ende hält er fest: „Der Umstand, dass sich die Hälfte der Befragten auf neun verschiedenen Politikfeldern einen ‚Neustart‘ wünschte, korrespondiert mit dem oben beschriebenen Befund, dass die allgemeine Wechselstimmung in der Bevölkerung sehr ausgeprägt war“ (115). Noch stärker ausgeprägt als eine Wechselstimmung war laut Petersen die Überzeugung der Befragten, dass in der Bevölkerung eine Wechselstimmung herrsche – was eine wichtige Nuancierung der oben erwähnten Frage darstellt. Er bezeichnet dieses Phänomen als „pluralistische Ignoranz“ (ebd.), ein Zustand, bei dem sich die Mehrheit über die Mehrheit täusche. Petersen betont in diesem Kontext schließlich die Rolle des Medientenors, der die vermeintliche Mehrheitsmeinung stütze (vgl. ebd.) – und bietet damit Anschlussmöglichkeiten für einige der übrigen Beiträge in diesem Band. Abschließend streicht er die Bedeutung der innerparteilichen Geschlossenheit für den Erfolg der Volksparteien heraus: Keine wirklich neue Erkenntnis, aber dieser Befund wird mit entsprechend einschlägigen Zahlen und Daten der Bundestagswahl 2021 eindrucksvoll illustriert.
Fortschrittsanspruch und Wirklichkeit der Koalition
Im dritten Teil des Buches stehen „Auswirkungen und Perspektiven“ im Fokus. Jörg Siegmund unterzieht das reformierte Wahlsystem zur Bundestagswahl 2021 einem Praxistest. Für die vergangenen anderthalb Dekaden konstatiert er eine wahre „Reformkaskade“ (127) an Wahlrechtsreformen. Dafür macht er gleich mehrere Gründe aus: Zunächst haben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Reformen durch den Gesetzgeber geführt. Darüber hinaus kamen Anstöße aus der Wissenschaft, aber auch von den Parteien selbst, „die zunehmend gewillt erscheinen, die eigenen politischen Interessenlagen bei der Gestaltung des Wahlrechts zur Geltung zu bringen“ (ebd.). Das macht er insbesondere an dem Umstand fest, dass mehrere Änderungen Bundeswahlgesetzes in der letzten Zeit – entgegen einer langjährigen Tradition – „nur von der jeweiligen Parlamentsmehrheit gegen das Votum der Opposition durchgesetzt wurden“ (127).
Siegmund rekapituliert in seinem Beitrag die wesentlichen Stationen der vergangenen Jahre, angefangen mit dem Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2008. Mit Blick auf die jüngste Reform stellt er zunächst die grundsätzliche Systematik der personalisierten Verhältniswahl vor und thematisiert den Umgang mit Überhangmandaten. Anschließend unterzieht er das Wahlrecht anhand der Bundestagswahl von 2021 einem „Praxistest“ (139). Nach einer ausführlichen Schilderung der Mandatsvergabe vollzieht er eine kritische Würdigung dieses Systems und präsentiert im Nachtrag schließlich die wesentlichen Faktoren der von der Ampel-Koalition beschlossenen Wahlrechtsreform. Die Vielfältigkeit und Komplexität des behandelten Untersuchungsgegenstandes spiegeln sich nicht zuletzt in dem Fakt wider, dass es sich bei diesem Beitrag um das mit Abstand längste Kapitel handelt.
Abschließend schaut die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach auf die Agenda der Bundesregierung („Wenn Wunsch auf Wirklichkeit trifft“). Sie stellt den Kontrast zwischen der ursprünglichen Reformagenda der Ampelkoalition und der dann tatsächlich erfolgten Regierungspolitik in den Mittelpunkt ihres Beitrages. Einleitend betont sie, dass, wäre der Beitrag direkt nach der Wahl bzw. der erwähnten Tagung entstanden, das „Bild einer neuartigen, ambitionierten Bundesregierung gezeichnet“ worden wäre, „die sich viel – womöglich sich selbst und für das Land zu viel – vorgenommen hat“ (159). Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, einem Energiekrisenwinter und „tektonischen Verschiebungen in der Prioritätensetzung in der Politik könnte die Beschreibung kaum andersartiger ausfallen“ (ebd.). Reuschenbach betont, dass es sich bei der Ampel um „keine Liebesheirat“ (160) gehandelt habe und dies auch gar nicht sein müsse. Entscheidend sei, „ob die Zusammenarbeit von einer gemeinsamen Idee und der Überzeugung getragen wird, dass die Beteiligten zusammen etwas bewegen können“ (ebd.). Spätestens aus heutiger Sicht, nachdem die Scheidung der Ampel vollzogen ist, kann das Vorhandensein eines solchen Zusammenhalts klar verneint werden. Mit der neuartigen Dreier-Konstellation der Ampel gingen laut Reuschenbach „gesteigerte Erfordernisse von Kompromissfähigkeit, komplexe Aushandlungsprozesse und die Fähigkeit zur wechselseitigen Wahrnehmung und Akzeptanz parteipolitischer Profile und Profilierungsbedürfnisse“ (161) einher. Dass dies schwierig umzusetzen gewesen sei, hat für Reuschenbach insbesondere mit der (ersten) lagerübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der Koalition zu tun. Hinzu sei eine veränderte Arithmetik gekommen, da mit der FDP und den Grünen die beiden kleineren Koalitionspartner zusammen über mehr Mandate im Parlament verfügten als der größere Partner SPD. Das alte Prinzip von „Koch und Kellner“ sei damit „nahezu obsolet“ (ebd.) geworden, im weiteren Verlauf illustriert Reuschenbach dieses Phänomen anhand der Wirkmächtigkeit der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Was auch in anderen Beiträgen anklingt, ist die Einschätzung der Autorin, „dass es der Koalition nicht ausreichend gelungen ist, mit ihrem Narrativ der ‚Fortschrittskoalition‘ in der Breite der Gesellschaft Loyalität zu entwickeln“ (162). Anhand der Politikfelder Klimaschutz und Finanzen dekliniert Reuschenbach zentrale Bestandteile des Koalitionsvertrages durch und kontrastiert diese Aspekte mit der konkreten Regierungspolitik.
Ein Fazit, das die einzelnen Beiträge (noch) stärker hätte miteinander verschränken können, findet sich nicht. So wird leider die Chance vergeben, die zentralen Bestimmungsfaktoren der vergangenen Bundestagswahl, die in den einzelnen Beiträgen in ihrer Vielfalt herausgestellt werden, noch einmal bündig auf den Punkt zu bringen. Gleichzeitig werden Themen, Aspekte und Herausforderungen präsentiert, die es mit Blick auf die kommende Bundestagswahl im Auge zu behalten gilt.
Interessant zu beobachten ist, dass in gleich mehreren Beiträgen ähnliche inhaltliche Aspekte anklingen, etwa die Tatsache, dass in der Bundestagswahl 2021 kein/e Amtsinhaber*in antrat und was das für den Wahlkampf und das Wahlverhalten bedeutete. Auch längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen und – damit zusammenhängend – die zunehmende Schwäche und mangelnde Integrationskraft der Volksparteien finden sich an unterschiedlichen Punkten des Buches. Natürlich ist die eine oder andere Einschätzung in den Beiträgen inzwischen überholt und/oder korrekturbedürftig. Aber das ist bei Buchpublikationen (insbesondere bei Sammelbänden) stets eine Herausforderung. Wie aber schlaglichtartig zentrale Aspekte jener Wahl 2021 thematisiert und mit größeren, systematischen Themen in Verbindung gebracht werden, ist nahezu durchgehend lesenswert. Deshalb handelt es sich bei „Im Land der Scheinriesen?“ um eine willkommene, substanziell überzeugende und sehr gut lesbare Ergänzung zum Literaturbestand rund um die Bundestagswahl 2021.
Repräsentation und Parlamentarismus
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