Julian Krüper, Arne Pilniok (Hrsg.): Mehrheit/Minderheit: Über ein notwendiges Strukturmerkmal des demokratischen Verfassungsstaats
Der Sammelband behandelt aus politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit als „notwendiges Strukturmerkmal des demokratischen Verfassungsstaates“. Diskutiert werden beispielsweise Fragen nach der Rechtfertigungsfähigkeit und den Grenzen (relativer) Mehrheitsherrschaft, nach der Mehrheitsregel als Rationalitätsprinzip kollektiver Entscheidungen in Parlament und Verfassungsgericht sowie nach den parlamentarischen Minderheitenrechten vor dem Hintergrund parteipolitischer Polarisierung. Allerdings fehle es dem Band an ideengeschichtlicher Reflexion, kritisiert unser Rezensent Victor Loxen.
Eine Rezension von Victor Loxen
Das Mehrheitsprinzip bewegt sich seit den Atlantischen Revolutionen zwischen Evidenz und Verdacht.[1] Von der bloß überwiegenden Masse, so die klassisch-konservative Befürchtung, könne Geist niemals zu erwarten sein. Schon in den Jahren 1804/1805 findet diese Position ihren paradigmatischen Ausdruck in Friedrich Schillers Dramenfragment „Demetrius“:
„Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen. […]
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“[2]
Nach der Revolution der „gleichfreien“ Selbstregierung musste sich der Zweifel an der Mehrheit allerdings die verblüffend entwaffnende Gegenfrage gefallen lassen: „Was sonst?“[3]
Noch in Weimarer Zeiten wurden die Voraussetzungen und präzisen Rechtfertigungen des Mehrheitsprinzips in erster Linie von Hans Kelsen und Carl Schmitt[4] ausgefochten. Schmitt desavouierte sich gründlich, Kelsen nicht. Unter dem Grundgesetz erlebte das Thema in Schriften von Ulrich Scheuner (1973) und Werner Heun (1983) eine Renaissance,[5] wodurch das reine Pragma der Mehrheitsentscheidung auch in dieser Republik mit normativ gehaltvollen Begründungen angereichert war.[6] Dass mit Rücksicht auf Schiller Demokratie die Herrschaft der Mehrheit und nicht der Wahrheit bedeutet,[7] gilt daher heute höchstens noch bei denjenigen als Polemik, die sich als irgendwelche „Wen’gen“ wähnen. Der Bundesrepublik und ihrem Verfassungsgericht jedenfalls ist die Mehrheitsherrschaft fraglos geworden.[8] Im modernen Verfassungsstaat hat sich der altliberale „horror majoritatis“[9] (Dolf Sternberger) überlebt. Um die Infragestellung dieses Bestandes geht es deshalb auch dem vorliegenden Sammelband nicht. Das Titelblatt präjudiziert: „Über ein notwendiges Strukturmerkmal des demokratischen Verfassungsstaates“.
Gleich dahinter eröffnet Uwe Volkmann mit der denkbar defensiven Überschrift „Zugänge zu einem Thema, zu dem schon alles gesagt ist“ (1) und begrenzt seinen Untersuchungsgegenstand auf die partikularen Ausformungen der Mehrheitsentscheidung. Anhand der Differenz von popular vote und Wahlergebnis in der US-Präsidentschaftswahl von 2016 weist Volkmann die institutionelle Einbettung jeder Mehrheitsbestimmung auf, so „Mehrheit ihrerseits nur eine abhängige Variable der organisationsförmigen Bestimmung ihrer Ermittlung“ (3) sei. Daher müsse sich die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips einer Perspektivierung aus den Problemstellungen eines spezifischen Entscheidungskontextes unterziehen und könne nicht abstrakt demokratietheoretisch erfolgen. Die erst einmal instrumentell verstandene Mehrheitsregel verarbeite das Problem der Entscheidung, der Zurechnung (siehe Artikel 42 Absatz 2 Grundgesetz), und der Autoritätsproduktion. Auf diese Weise können ganz unterschiedliche Entscheidungsverfahren wie das der Europäischen Zentralbank oder eines Hochschulgremiums – dieses ist wohl besonders verantwortlich für eine ausgeprägte Rationalitätsskepsis des Verfassers – zur Unterfütterung herangezogen werden. Volkmann stellt schließlich einen axiomatischen Charakter des Mehrheitsprinzips fest, das auf unhintergehbarem Glauben („sola fide“, 15) beruhe. In Anbetracht der zuvor angebrachten Erwiderungen auf antiliberale und radikaldemokratische Kritik („beschränkte Vermutung [der] Vernünftigkeit“, 12) verwundert diese Schlussfolgerung etwas. Im Ganzen aber birgt der Beitrag entgegen vermuteter Themenerschöpfung anregende Aspekte.
Eine „Grundlegung eines Organisationsrecht[s] der Stille“ verspricht Albert Ingold. Anfangs nimmt der Verfasser dabei die zwei interessanten Topoi der verstummenden Minderheit und schweigenden Mehrheit in den Blick. Die (umstrittene) Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann behauptet eine Adaptionstendenz zur herrschenden öffentlichen Meinung hin, während die „Sprachpraxis“ (30) der „schweigenden Mehrheit“ eine zentrale rhetorische Figur des sogenannten Populismus[10] ist. Gleichwohl konzediert Ingold, dass es sich bei der Schweigespirale um kein Rechts-, sondern ein Freiwilligkeitsproblem handele (29). Die „schweigende Mehrheit“ wird mithilfe von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean Baudrillard bearbeitet – was durchaus tragfähige Einsichten zum performativen Widerspruch ihrer Anrufung oder zum „machtvolle[n] Zuhören“ (33) zutage fördert –, um zur lesenswerten Typologie[11] emanzipativen Schweigens von Sean Grey überzugehen. Aus diesem Gesichtswinkel kritisiert Ingold die negative Betrachtung der Nichtwahl und schreibt doch kaum eine Seite später, dass auch die Abgabe des Stimmzettels eine „schweigende Praxis“ (38) darstelle. Es kann also wählend geschwiegen werden, womit der Verfasser seine Kritik freilich im Bällebad von Baudrillard und Diedrich Diederichsen wieder verspielt hat.
Nebst dem selbst für an juristische Texte gewöhnte Leser*innen harten Stakkato der Substantivkaskaden leidet der Aufsatz unter verquaster Sprache. Was es etwa heißen soll, dass die Reversibilität („temporale Relativierbarkeit“, 22) von demokratischen Mehrheitsentscheidungen „die Möglichkeit wechselnder Mehrheit flexibilisiert“ (19), was ein „Formenkreis“ westlicher Demokratien (23) oder ein „demokratietheoretische[r] Kulminationspunkt der Deliberation“ (47) sein soll und ob man das Demokratieprinzip ohne Kategorienfehler als „Inputstruktur der Gesellschaft in die Staatlichkeitssphäre“ (35) charakterisieren kann, erscheint zumindest dem Rezensenten fragwürdig.
Roland Lhotta bringt eine komparativ informierte Perspektive ein. An dieser Stelle sei als bedenkenswert das Problem der non-majoritären Institutionen in Demokratien erwähnt, die der Verfasser mit Arend Lijphart als (föderalistische) Konsensdemokratien ausweist. Die Rekonfiguration hin zu einer Ordnung mit starken unabhängigen Akteuren vertrage sich mit der spezifischen Repräsentations- und Mehrheitslogik jener Demokratien wenig und laufe Gefahr, Teil eines „selbstnegatorischen Wandlungsprozesses“ (Claus Offe) zu werden.
Drei kritische Notizen: Erstens lässt sich wohl nicht sagen, dass das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip keinen Konnex zur demokratischen Herrschaft kenne und ob eines bloß gewaltenhemmenden Verständnisses „dogmatisch durchaus unterentwickelt“ sei (59, vergleiche 66). Das trifft für die Rechtsprechung des BVerfG kaum zu (Stichwörter: Wesentlichkeitsprinzip, Organadäquanz),[12] für den juristischen Diskurs jedoch keinesfalls.[13] Zweitens liegt die gegenwärtige politische Situation quer zum analytischen Ertrag. Einerseits stellt der Verfasser mit Gerhard Lehmbruch die These auf, dass in der föderalistischen Konsensdemokratie die Mehrheitsentscheidung vom okkasionell hergestellten Allparteienkonsens überlagert werde, andererseits registriert er die zwischenzeitlich eingetretene Fragmentierung und Polarisierung der Parteienlandschaft. Den agonalen Gehalt dieser Veränderungen unterschlägt Lhotta aber gleich wieder, wenn er auch in der Berliner Republik eine „Mehrheitsentscheidung ohne Majorisierungseffekt“ (71) am Werk sieht, die ohne das „majorisierende Machtinstrument der Entscheidung“ (65) auskomme. Doch dieser Schluss von der institutionellen Architektur auf den politischen Entscheidungsmodus übergeht allzu formalistisch die konkrete Lage:[14] Immerhin die verfassungsfeindliche[15], in diesem Beitrag mit keinem Wort erwähnte AfD unterliegt mangels aktueller Koalitionsperspektive und Sitz im Bundesrat zweifelsohne einem Majorisierungseffekt – um von Linkspartei und, im Einzelnen, Wahlrechtsreform und Gebäudeenergiegesetz gar nicht zu sprechen. Diese Schieflage hat, drittens, einen tieferen theoretischen Grund. Der von Lhotta rezipierte Rudolf Smend (72, Fußnote 100) verstand Repräsentation als öffentlichen Prozess, der „kontinuierliche institutionelle und prozedurale Vermittlung und Integration ermöglicht und fordert“ (72); an dessen Ende das „Machtinstrument der Entscheidung“ also gar nicht mehr vonnöten sei. Wenn der „Allparteienkonsens“ der konkreten historischen Situation (Stichwort: trente glorieuses) nun aber wegbricht, läuft die Integrationsidee gemäß ihrer ursprünglich liberalismusfremden[16] Anlage Gefahr, entweder die (partei-)politischen Bruchlinien kaschieren zu müssen oder in einen antipluralistischen Rousseauismus abzugleiten. Die „Mehrheitsentscheidung ohne Majorisierungseffekt“ ist insofern ein politischer Anachronismus, eine leere Begriffsdeduktion der Lijphart’schen Konsensdemokratie.
Die obstruktive Opposition der AfD hat ihren Auftritt in dem sensationellen Aufsatz von Michael Koß über Gesetzgebung und Polarisierung. Die Rationalisierungsbewegung der Moderne erfasse das Parlament „wie keine zweite Institution, weil sich hier Politik und Verwaltung kreuzen, und zwar im Prozess der Gesetzgebung“ (73). Es gerate unter massiven und permanenten Effizienzdruck. Das Parlament habe diesen scheinbar unverfügbaren Sachzwang als „stahlhartes Gehäuse“ (Max Weber) angelegt bekommen. Die wesentliche Ressource sei nun Zeit. Vor diesem Hintergrund erscheint Koß die Polarisierung als spezifische Gefährdung des rationalen Gesetzgebungsprozesses, „wenn sie zeitkritische Folgen hat“ (76).
Das Honorationenparlament emphatisch gleicher Abgeordneter (der „legislative Urzustand“, 77) sei jenen Rationalisierungserfordernissen nicht gewachsen. Der Parlamentarismus stehe also vor der idealtypischen Alternative des majoritären Rede- oder aufgegliederten Arbeitsparlaments. Für diese zwei Typen lässt Koß eine erhellende und überaus interessante empirische Darstellung von 19 europäischen Parlamenten auf den Achsen zentralisierter Agendakontrolle und delegierter Ausschussarbeit folgen. Er zeigt auf, dass Hybride dieser beiden Modelle tendenziell instabil sind – Irland ist 2016 zu den Arbeitsparlamenten gewechselt –, und dass die Arbeitsparlamente deutlich überwiegen. Dieselben könnten etwaige Fundamentalobstruktionen sub specie Zeitknappheit wiederum organisatorisch nur bewältigen, indem sie prozedurale Mehrheitsprivilegien im Sinne eines Redeparlaments akzeptierten.
Im Bundestag findet der Verfasser besagte Obstruktionen in Form angezweifelter Beschlussfähigkeiten vor. Mit beachtlicher Sensibilität für die entscheidenden Details erörtert er davor noch die Spezifika des deutschen Parlaments; etwa die 1995 eingeführte „Kernzeit“ des Plenums am Donnerstagvormittag von 9 bis 13 Uhr, durch die sich der „plenare Flaschenhals“ zum „plenaren Nadelöhr“ verengt habe (84). Koß legt den Leser*innen sodann eine Tabelle vor, die alle Anzweiflungen der Beschlussfähigkeit seit 1949 den Parteien zuordnet und anhand derer die AfD als einzigartige Akteurin identifiziert werden kann: „Die AfD verhielt sich in der 19. Wahlperiode grundsätzlich anders als jeder andere Parlamentsneuling vor ihr. Keine Partei hat in einer Wahlperiode so häufig die Beschlussfähigkeit des Bundestages angezweifelt und keine andere hat je zuvor den Sitzungssaal verlassen, nachdem sie dies getan hat.“ (88). Sie propagiere den Bundestag kontrafaktisch als klassisches Deliberationsorgan und könne sich so „als Opfer der Etablierten inszenieren, das mundtot gemacht werden soll“ (91). Hierbei leistet ihr das Bundesverfassungsgericht übrigens unfreiwillige Schützenhilfe, wenn es sich unter Zuhilfenahme ausgerechnet jenes dezidiert deliberativen Maßstabes – wie jüngst in Sachen Gebäudeenergiegesetz –[17] zum „Reparaturbetrieb des Parlamentarismus“[18] aufschwingt.[19]
Der Bundestag sei laut Koß letztlich darauf angewiesen, dass die AfD die technische Beschlussunfähigkeit als Bestandteil der Parlamentskultur regelmäßig toleriert. Andernfalls müsse eine Anpassung der Geschäftsordnung herbeigeführt werden. Doch die volle Wendung zum Redeparlament scheint in Deutschland gänzlich unwahrscheinlich. Vor allem aber hat die konstituierende Sitzung des 20. Bundestages auch die vom Verfasser befürwortete Absenkung des Abstimmungsquorums bewusst abgelehnt und es bei der überkommenden Beschlussfähigkeitsfiktion belassen. Vielleicht stellt also die übliche Beschlussunfähigkeit weniger eine Sitte des autonomen Parlaments als vielmehr einen exogenen Rationalitätsimperativ des „stählernen Gehäuses“ dar. Ungeachtet dieser Nachfrage erfreut der innovative und empirisch fundierte Ansatz des Beitrags.
Der fünfte Beitrag widmet sich dem Mehrheitsprinzip in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Matthias K. Klatt streicht eingangs heraus, dass das BVerfG die fakultative Mitteilung der Stimmverhältnisse als strategisches Instrument einsetzen könne, um seinen Entscheidungen eine erhöhte Autorität beizugeben (Einstimmigkeit wird mitgeteilt) oder ihre Umstrittenheit zu signalisieren (Gegenstimmen werden bekannt gemacht). Die immer mögliche Flucht ins Arcanum lade jede Mehrheitskommunikation mit gerichtspolitischer Bedeutung auf. So weit, so einleuchtend. Daraufhin leitet der Verfasser mit dem (aus Sicht eines liberalen Öffentlichkeitsverständnisses anfechtbaren) Satz, Transparenz sei kein Wert an sich, zum eigenen Reformvorschlag über. Im Hinblick auf verfassungsgerichtliche Stimmverhältnisse sei sie indes angebracht. Am Anfang des Argumentationsganges steht die vom Verfasser selbst als „wichtiger Gedanke“ prädizierte Behauptung: „Wer sich einer gerichtlichen Entscheidung unterwirft oder ihr automatisch rechtlich unterworfen ist, hat Anspruch darauf, zu erfahren, wer eigentlich [!] zu ihm spricht.“ (102) Den sich aufdrängenden Einwand der organschaftlichen Zurechnung weiß Klatt als Förmelei zu verwerfen; eigentlich gehe es darum, „uns zu überzeugen“ (ebenda). Die unterlegenen Richter*innen „möchten“ (ebenda) dies aber gerade nicht. Zwar habe das keine rechtliche Bedeutung, die individuelle Disposition der Richter*innen beeinflusse die „Leseerfahrung“ aber wesentlich. Diese wiederum entscheide „maßgeblich darüber, ob und wie die Umsetzung der Entscheidung gelingen wird“ (ebenda). Der Verfasser weiß, dass die Offenlegungspflicht für das Gericht eine „Zumutung“ (104) wäre; die Legislative hingegen sei ihr seit jeher unterworfen. Einen relevanten Unterschied vermag Klatt nicht zu identifizieren.
Diese Thesen irritieren. Sie gründen auf einer verfehlten Vorstellung von gerichtlicher Legitimation, von Gesetz und Urteil sowie vom substantiellen Unterschied zwischen judiziellen und demokratischen Entscheidungsmodi. Eine Gerichtsentscheidung muss gerade nicht darauf setzen, „uns zu überzeugen“; sie bezieht ihre Legitimation aus demokratisch zustande gekommenen Gesetzen und ihr Durchsetzungspotenzial aus dem Zwangscharakter des Rechts. Das Gericht entscheidet auf der Grundlage der jeweils einschlägigen Norm eine konkrete Rechtssache und leistet – die allgemeine Legitimität der Rechtsordnung vorausgesetzt – keine Deliberationsarbeit zu Befolgungspflichten. Tatsächlich wohnt dem einzelnen Urteil oder Beschluss denn auch immer ein Moment der Setzung inne, das nicht rational einzuholen ist; vertretbare Alternativen sind vorher wie nachher stets ersichtlich. Keineswegs beruht deswegen die erfolgreiche Durchsetzung einer Entscheidung auf der zwingenden Erfahrung ihrer zwanglosen Argumente. Kurzum: „Der Sinn ist nicht überwältigende Argumentation, sondern eben Entscheidung durch autoritäre Beseitigung des Zweifels.“[20]
Im Zuge dieser Abgrenzung wird die spezifische Funktion der Mehrheitsregel in derartigen „funktionalen Gremien“[21] klar. Der behauptete Anspruch auf Kenntnis der „eigentlich“ in dem Beschluss oder Urteil sprechenden Richter*innen ist fatal. Die Entscheidung kann nicht der individuellen Verwirklichung der Richter*innen dienen, das heißt insbesondere ihre persönlichen Präferenzen abbilden, ohne das Fundament der richterlichen Unabhängigkeit – die prinzipielle Gesetzesbindung – zu beseitigen. Die Richterin hat ein imperatives Mandat von Rechts wegen. Das Mehrheitsprinzip fungiert hier als epistemische Heuristik zur möglichst richtigen Rechtserkenntnis; die „kollegial-gerichtliche Abstimmung […] ist ein Urteil nicht-repräsentativer Experten.“[22] Es findet seine Stütze mithin in der geteilten Identität des Erkenntnisinteresses.[23] Diese basale Differenz zur demokratischen Mehrheitsentscheidung übergeht der Verfasser aber, wenn er die Gerichtsentscheidung kurzerhand als eine Spielart der demokratischen Entscheidung (vergleiche 103) rubriziert und dadurch einerseits den dubiosen Vergleich zur parlamentarischen Abstimmungstransparenz scharf schaltet, andererseits den kritischen Blick auf das Verfassungsgericht als gegenmajoritären Konstitutionalisierungstreiber, als Mausoleum des Gespenstes erstickter Politik,[24] schon im Ansatz verstellt.[25] Vermittelst dieser Einebnungen die in einheitlicher Entscheidungszurechnung mündende Identität des Spruchkörpers ex post aufzubrechen, indem den tragenden Gründen „eigentliche“ Richter*innen zugeordnet werden, die je nach individueller Disposition die Betroffenen von (Abschnitten? Sätzen?) der rechtskräftigen Entscheidung überzeugen oder eben doch nicht überzeugen „möchten“, hieße die Verfassungsgerichtsbarkeit endgültig ihres immer schon prekären Selbststandes gegenüber dem demokratisch legitimierten Parlament zu berauben.[26] Der judizielle Voluntarismus negiert seine eigene Form und muss das Gericht der Frage nach Repräsentativität aussetzen. Infolgedessen wäre beispielsweise der auf die autoritative Rechtserkenntnis gestützten Privilegierung der Judikative im Kontext verfassungsrechtlicher Rückwirkungsdogmatik der Boden entzogen.[27] Gleichermaßen konsequent wie verfehlt ist es daher, die organschaftliche Zurechnung als „formalen Blick“ oder „[g]anz formalistisch“ (102) abzutun, so die „formale“ Semantik als genuin juristische die einzige dem Verfassungsgericht als Gericht angemessene ist. Allein die liberale Fiktion, oder: „(fiktive) Klarheit“ (104), kann seine Unabhängigkeit auf Dauer stellen. Eine Offenlegungspflicht der Stimmverhältnisse muss sich anders begründen lassen.
Die letzten drei Beiträge kann ich in diesem Rahmen lediglich kurz referieren. Martin Morlok nimmt sich die Figur der „relativen Mehrheit“ vor. Nach allgemeinen Ausführungen zum Mehrheitsprinzip, die einige historisch einseitige Behauptungen zur vermeintlichen Unzuverlässigkeit „der Indianer“ (sic, 110) wegen deren intern lückenhafter Anerkennung der Mehrheitsregel enthalten – waren die Kolonist*innen für ihre squatters nicht mindestens ebenso berüchtigt und ihre „zivilisierten“ Gemeinwesen nicht mindestens ebenso häufig vertragsbrüchig?[28] –, argumentiert der Verfasser auf seinen letzten Seiten, dass die relative Mehrheit allenfalls geringe demokratische Legitimation verleihen könne. Sonderlich bahnbrechend ist das nicht. Alexander Thiele problematisiert die Bedeutung der Nichtwählerinnen für die Demokratie und vor allem, mit empirischen Bezügen, die daraus resultierenden Repräsentationsdefizite entlang sozio-ökonomischer Stratifizierung. Er verteidigt zurecht einen Republikanismus, der um die kohäsive Funktion relativer Gleichheit weiß, gegen normativ verarmte Subsistenzliberalismen.[29] Zur Lösung findet sich in Sonderheit das programmatische ceterum censeo Thieles wieder:[30] die Wahlpflicht und der Wahlfeiertag. In den flirrend-idyllischen Szenen eines Wahltages wird es hier freilich ein wenig stickig: „[wo] sich Familien wie selbstverständlich treffen, um nach einem gemeinsamen Frühstück geschlossen zur Wahlurne zu gehen, nachmittags Debatten über die Bedeutung der Demokratie zuzuhören, um schließlich dem bundesweiten ,Wahlfeuerwerk‘ beizuwohnen“ (140). Auf den letzten Seiten bringt Tomoaki Kurishima eine erfrischend internationale Perspektive auf die Wahlrechtsgleichheit ein. Das „(Re)-apportionment“ erscheint in Japan, den USA und in Deutschland als ein die Verfassungsgerichte unter der Maßgabe „one person, one vote“ permanent beschäftigendes Thema. Er gibt zu bedenken, dass der in den Vereinigten Staaten immens virulente Satz von Chief Justice Warren „Legislators represent people, not trees or acres“ angesichts demographischer Entwicklungen und Urbanisierungsdynamiken überholt sein könnte. Es sei an der Zeit, die gezielte Asymmetrie als integratives Instrument anzunehmen, denn: „Demokratie lebt letztendlich nicht nur von der Logik der Zahlen“ (150).
Dem Sammelband hätte eine wenigstens hintergründige ideengeschichtliche Reflexion gutgetan. Insgesamt präsentiert sich das Buch als eine durchwachsene Ansammlung von unausgereiften bis lohnenswerten Beiträgen ohne ersichtliches Gesamtkonzept – vielleicht, weil die Veranstaltung aufgrund der Covid-19-Pandemie online vonstattenging. Im Gleichlauf zu diesem Qualitätsgefälle ist auch der Konnex zum Organisationsverfassungsrecht mal mehr, mal weniger erkennbar. Das ist insofern schade, als die von Koß teilweise explizierten Fragmentierungs- und Polarisierungsfolgen eine neue Befragung der parlamentarischen Minderheitenrechte, Ausschussorganisation, Agendakontrolle, Gruppenrepräsentation/Parität, oppositionellen Beratungsansprüche sowie der zugrundeliegenden Vorverständnisse und überkommenden Rechtsprechungslinien hätte zeitigen können. Geschehen ist das kaum. Auffällig ist abschließend, dass für das Thema „Mehrheit/Minderheit“ – ausgenommen natürlich: Redaktion und verlegerische Betreuung – offenbar keine einzige fachkundige Frau zu finden war. Den ironischen Kommentar hierzu erspare ich mir.
Literatur
Repräsentation und Parlamentarismus
Interview / Frank Decker, Roland Lhotta, Louise Zbiranski / 11.11.2021
Strukturprobleme der deutschen Demokratie. Ein Gespräch zwischen Roland Lhotta und Frank Decker
Dauerbaustellen und rasanter Wandel prägten die politische Landschaft der letzten Jahre gleichermaßen. Die Aussage, die deutsche Demokratie stecke in einer Krise, ist daher schnell bei der Hand. Aber trifft diese Diagnose tatsächlich zu? Wir haben mit Frank Decker und Roland Lhotta über Strukturprobleme der deutschen Demokratie gesprochen. Entstanden ist ein intensiver Dialog, in dem die beiden Decker und Lhotta auf Bruchstellen in der politischen Architektonik der BRD eingehen, aber auch auf Stellschrauben für positive Entwicklungen hinweisen.
Rezension / Sven Jochem / 10.09.2021
Michael Koß: Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen
In „Demokratie ohne Mehrheit?“ plädiert Michael Koß für mehr Offenheit gegenüber der Bildung einer Minderheitsregierung, auch auf Bundesebene. Hiermit legt er einen wichtigen Debattenbeitrag zum richtigen Zeitpunkt vor, applaudiert unser Rezensent Sven Jochem. Dennoch kritisiert er an Koß‘ Argumentation, dass sie sich zu stark auf eine vermutete gesellschaftliche Spaltung stütze und die Unterschiede zwischen den skandinavischen Demokratien und ihrer langen Erfahrung mit Minderheitsregierungen einerseits sowie den politischen Systemen der deutschsprachigen Länder andererseits vernachlässige.
Rezension / Michael Kolkmann / 23.04.2021
Alexander Thiele: Der gefräßige Leviathan. Entstehung, Ausbreitung und Zukunft des modernen Staates
Alexander Thiele analysiert die verschiedenen Phasen der Entstehung des modernen Staates, benennt seine Merkmale und berichtet über dessen Ausbreitung in der Welt. Staatlichkeit habe sich schon immer im Wandel befunden, dieser sollte als Chance gesehen werden. Das, wie Rezensent Michael Kolkmann schreibt, lesenswerte Buch durchziehe die Überzeugung, „dass Staatlichkeit ein Werden, ein Verändern, kein bloßes Sein ist“. Es komme auf die Bürger*innen an, diesen Prozess in die gewünschte Richtung zu lenken. Thiele spricht sich für die Schaffung eines „denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates“ aus.
Rezension / Daniel Hellmann / 09.07.2018
Martin Morlok / Thomas Poguntke / Ewgenij Sokolov: Parteienstaat - Parteiendemokratie
Weder Regierungen noch Parlamente und schon gar nicht Parteien befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens, so Norbert Lammert in seiner Festrede zum Anlass des 25-jährigen Bestehens des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF). Und dennoch, so führt er weiter aus, sind sie nach wie vor als Interessenvermittler zwischen Gesellschaft und Politik nicht zu ersetzen. Anlässlich dieses Jubiläums ist der Tagungsband „Parteienstaat – Parteiendemokratie“ auf Grundlage der Beiträge von acht Politik- und Rechtswissenschaftler*innen auf eben jenem Symposium entstanden.
Rezension / Markus Linden / 30.01.2014
Egon Flaig: Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik
Der Rostocker Althistoriker Egon Flaig legt ein voluminöses, historisch kenntnisreiches und originelles, aber auch sehr streitbares Buch vor. Das Verfahren der Mehrheitsentscheidung wird in seiner Entstehung und historischen Entwicklung umfassend nachgezeichnet und normativ verteidigt. Nicht nur im deskriptiven Teil zeichnet sich die Abhandlung dabei durch ihren interdisziplinären, die zahlreichen Beispiele umfassend einordnenden Zugriff aus. Das Buch ist insofern als akribisch erarbeitete Fundgrube für historische Beispiele anzusehen. Einen starken Gegensatz dazu bildet die polemische Verve bei der Verteidigung des Mehrheitsentscheids.
Rezension / Wolfgang Denzler / 30.04.2015
Niels Magsaam: Mehrheit entscheidet
In demokratischen Systemen bestimmt die Mehrheit, welche Entscheidungen getroffen werden. Nur so könne der Pluralität vieler Gremien Rechnung getragen und gleichzeitig Effizienz und Akzeptanz des Verfahrens gewährleistet werden, betont der Autor. So zentral und wichtig das Majoritätsprinzip verfassungsrechtlich sei und so selbstverständlich es allgemein hingenommen werde, so wenig sei es in den vergangenen Jahrzehnten öffentlich diskutiert worden.