Elmar Wiesendahl (Hrsg.): Parteien und soziale Ungleichheit
Während die Wahlforschung schon seit Längerem eine zunehmende Asymmetrie von Wahlbeteiligung und Schichtzugehörigkeit beobachtet, hat die Parteienforschung den Zusammenhang von Parteiensystem und sozialer Ungleichheit bisher eher vernachlässigt. Der von Elmar Wiesendahl herausgegebene Sammelband rückt diese Beziehung nun ins Zentrum. Im Vordergrund steht die empirische Darstellung von ungleichheitsbedingten Defiziten der Repräsentation der im Bundestag vertretenen Parteien (ohne AfD). Darüber hinaus werden Überlegungen zu möglichen Erklärungsansätzen angestellt.
Während die Wahlforschung schon seit Längerem eine zunehmende Asymmetrie von Wahlbeteiligung und Schichtzugehörigkeit beobachtet, hat die Parteienforschung den Zusammenhang von Parteiensystem und sozialer Ungleichheit bisher eher vernachlässigt. Der von Elmar Wiesendahl herausgegebene Sammelband rückt diese Beziehung nun ins Zentrum. Wiesendahls in der Einleitung (3 ff.) vorbereitete und im Resümee (413 ff.) bekräftigte Problembeschreibung, wir hätten es mittlerweile mit einer halbierten Demokratie zu tun, in der nur die Interessen der besser gestellten gehobenen Schichten der Gesellschaft zur Geltung kommen (435), wird indes nicht in allen Beiträgen systematisch diskutiert. Das hat sowohl methodische wie konzeptionelle Gründe und schmälert leider etwas den Ertrag des Bandes für das mit dem Titel gewählte Thema.
An die in der Demokratietheorie sehr ausdifferenzierte Diskussion über das Konzept von Repräsentation (vgl. Manin 2007; Thaa 2008; Diehl 2015) schließen der Herausgeber wie die Autorinnen und Autoren sehr pragmatisch an, was angesichts der Komplexität des Themas durchaus vertretbar ist. Im Vordergrund steht ein deskriptives Repräsentationsverständnis, das große Abweichungen zwischen der sozialen Zusammensetzung von Bevölkerung einerseits und Parteien (auf den unterschiedlichen Ebenen von Wähler*innen, Mitgliedern, Mandatsträger*innen und Führungspersonal) andererseits problematisiert, weil substanzielle Repräsentation als Handeln im Interesse der Vertretenen „die soziale Nähe und Ähnlichkeit der Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten voraussetzt“ (16). Im Sinne des demokratischen Gleichheitsversprechens ist die Forderung der Responsivität dabei zunächst an das Parteiensystem insgesamt zu richten; es hat sicherzustellen, dass gerade auch die „Interessen sozial marginalisierter und artikulationsschwacher Gruppen aus dem unteren Bereich des Ungleichheitsgefüges […] vertreten sein“ müssen (13).
Als Annäherung an den Gegenstand konzentriert sich der Band auf die Überprüfung disproportionaler Verzerrungen der Repräsentation sozialer Gruppen durch die Parteien und klammert die Policy-Output-Seite parlamentarischer und gouvernementaler Parteienherrschaft aus (28 f.). Die Beiträge lassen sich zwei unterschiedlichen Zugängen zum Thema zuordnen: gut die Hälfte der Autor*innen befasst sich mit den Sozialprofilen der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (mit Ausnahme der AfD) und die zweite Gruppe diskutiert teils /index.php?option=com_content&view=article&id=41317bezogene Repräsentationsleistungen von Parteien, teils Erklärungsansätze von Repräsentationsdefiziten.
Zur Realität disproportionaler Gruppenrepräsentation
Matthias Micus und Franz Walter führen das Repräsentationsdefizit der SPD – also verkürzend gesprochen die Entkoppelung vom unteren Drittel der Gesellschaft – wesentlich auf eine seit den 1970er-Jahren zunehmende und in wechselnden semantischen Formen auftretende Diffusion der Programmatik zurück. Auf den bekannten sozialstrukturellen Trend der Auflösung traditioneller Milieus habe die SPD mit einem programmatischen Spagat reagiert, der Widersprüchliches – Innovation und klassischen sozialstaatlichen Schutz – verhieß. Mit dieser Anpassung an die Volatilität des Wählerverhaltens, namentlich in Zeiten der rot-grünen Koalition ab 1998, ist die SPD zur „Partei einer neuen gesellschaftlichen Mitte geworden“ (73), die die privilegierte Partnerschaft zu den Gewerkschaften aufgegeben hat und ihr Profil nicht mehr über Verteilungsfragen, sondern über ein „kulturelles Linkssein“ definiert (75). In der Konsequenz hat die SPD beides verloren: Sie kann nicht mehr als Stimme des ‚sozialen Unten’ auftreten und gemessen an Wählerstimmen muss sie um den Status einer Volkspartei fürchten.
Untersucht man die Zusammensetzung der Parteien unter dem engeren Blickwinkel der deskriptiven Repräsentativität, dann zeigen sich deutliche (partei-)übergreifende Trends. Bezogen auf die Abgeordneten des Bundestages sehen Benjamin Höhne und Melanie Kintz hier eine zunehmende Homogenisierung nach Merkmalen der Bildungs- und Berufsstruktur. Darin zeigt sich auch ein Effekt veränderter Rekrutierungsmechanismen. Wenn die berufliche Sozialisation vor der Abgeordnetenkarriere mehr und mehr im öffentlichen Sektor oder im politiknahen Vermittlungsbereich stattfindet, dann deutet das „auf einen offenbar zunehmenden Selbstbezug der politischen Klasse und damit verbunden auf einen indirekten Diskriminierungseffekt hin“ (278). Diesen Selektivitäten sind zweifellos jene Mechanismen vorgelagert, die sich in der Sozialstruktur der Parteimitglieder abzeichnen und zu vergleichbaren Entwicklungen wie unter den Abgeordneten führen. Zwar lassen sich bei den Parteien, so zeigt Heiko Biehl, immer noch Verbindungen zu traditionellen Trägerschichten beobachten, aber aufs Ganze gesehen sind die Mitgliedschaften (nach Alter, Bildung, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit) untereinander ähnlicher geworden und unterscheiden sich zunehmend von der restlichen Bevölkerung (228). Zahlreiche Studien belegen, dass sich auf der Ebene der Wahlbeteiligung – hier in den steigenden Raten der Nichtwähler – die Koppelung von Partizipationsbereitschaft und Schichtung wiederholt (Schäfer 2015; Merkel 2015); damit – so unterstreichen Thorsten Faas und Jasmin Siri – verschärft sich das Legitimationsproblem des Parlamentarismus (254).
Von diesen übergreifenden Mustern der defizitären Einbindung sozial schwacher Gruppen weichen die im Bundestag vertretenen Parteien in ihrer Binnenstruktur nicht sonderlich ab – darin stimmen die Beiträge von Matthias Dilling (CDU), Niko Switek (Grüne), Felix Butzlaff (FDP) und Tim Spier (Linke) weitgehend überein. Und mit Ausnahme der Grünen verschärft der stetige Mitgliederschwund die soziale Selektivität in der Zusammensetzung der Mitglieder. Allerdings leiden alle Abhandlungen unter dem Problem einer unzureichenden Datenlage, die vor allem hinsichtlich des Berufsstatus und der sozialen Herkunft keine differenzierten Analysen zulässt. Unterschiede bestehen aber – natürlich abgesehen vom Elektorat – in den spezifischen Repräsentationslogiken, denen die Parteien teils durch formale Verfahren (wie Quotierungen), teils durch informelle Praktiken Geltung verschaffen wollen. Dies ist bei der CDU auffällig mit Blick auf die Abbildung der föderalen Struktur durch die Einbindung der Landesverbände im Vorstand und bei den Grünen hat der Grundsatz der Geschlechterparität bei Parteiämtern und Wahllisten ein besonderes profilgebendes Gewicht. Sicherlich spiegeln diese parteiinternen Repräsentationsgarantien in gewisser Weise gesellschaftliche Konfliktlinien und dienen zugleich als Signale an bestimmte Wählergruppierungen, aber – so das plausible Argument von Dilling (117) und Biehl (230) – sie kompensieren nicht das generelle Repräsentationsdefizit des Parteiensystems. Zumal angesichts des Mitgliederrückgangs, der ja die soziale Rekrutierungsbasis schmälert, bestehen erhebliche Zweifel, ob die „etablierten Parteien aus sich heraus daran substanziell etwas ändern können“ (Höhne/Kintz 279).
Zwei Beiträge behandeln Themen, die zwar das Problem sozialer Ungleichheit berühren, aber sich eigentlich nicht darauf zuschneiden lassen. Angesichts der demografischen Entwicklung und der stark altersverzerrten Zusammensetzung von Parlament und Parteien könnte hypothetisch die Ausbildung einer entsprechenden generationsbezogenen Konfliktlinie erwartet werden. Für Oliver d’Antonio und Bettina Munimus ergeben sich jedoch auf Basis der nach Altersgruppen ausgewerteten bundes- und landesweiten Wahlen seit 2002 bisher keine Anhaltspunkte für die Entstehung eines Wahlkämpfe strukturierenden Alterscleavage: „Das Lebensalter ist gewiss das fluideste aller Sozialstrukturmerkmale und taugt deshalb, selbst bei seiner Politisierung, kaum für langfristige Bindungen.“ (325) Zu einem der aktuellen Debatte in den Medien etwas widersprechenden Ergebnis kommt Hendrik Träger hinsichtlich der Repräsentation der Ostdeutschen, sieht er diese doch vom Parteiensystem insgesamt sowohl in den Führungsgremien als auch programmatisch vertreten. Allerdings fällt die präsentierte Datenlage in Sachen Mitgliedschaft, Positionen und Wahlprogrammen zwischen den einzelnen Parteien so heterogen aus, dass darin eine systematische Verzerrung zu Lasten von Ostdeutschen kaum erkennbar wird.
Erklärungsansätze und Interpretationen
Zwar liegt der Schwerpunkt des Sammelbandes in der empirischen Deskription von ungleichheitsbedingten Repräsentationsdefiziten, in vier Beiträgen werden jedoch Überlegungen zu möglichen Erklärungsansätzen angestellt. Ulrich Eith und Gerd Mielke unterstreichen den heuristischen Wert des klassischen, die Struktur- und Akteursebene verbindenden Cleavage-Ansatzes von Lipset und Rokkan. Diesem Modell kommt sicher das Verdienst zu, gegenüber dem medial erzeugten Bild resistent zu sein, in dem Wahlen – unabhängig von gesellschaftlichen Konflikten und den in ihnen wirksamen Interessen – „als eine endlose Abfolge von immer neu organisierten und inszenierten, prinzipiell offenen und deshalb spannenden horse-races“ erscheinen (44 f.). Allerdings bleibt der Hinweis auf den Handlungsspielraum von politischen Eliten innerhalb struktureller Restriktionen noch zu abstrakt, um etwas zur Klärung der sozialen Repräsentationsdefizite des Parteiensystems beitragen zu können. Aufschlussreicher ist da schon der Versuch von Uwe Jun, Tilman Heisterhagen und Simon Stratmann, armutspolitische Konfliktlinien in der programmatischen Dimension des Parteienwettbewerbs zu analysieren. Unter Rückgriff auf Einzelbefunde anderer Beiträge des Bandes lautet das zentrale Argument: Wenn die Repräsentationsmöglichkeiten der Parteien qua Organisationsstrukturen abnehmen, dann „kommt dem programmatischen Modus der Repräsentationsbeziehung mit Blick auf […] von Armut bedrohte Personengruppen eine spürbar gewachsene Bedeutung zu“ (369). Ihre Auswertung der Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2013 nimmt eine Zuordnung der armutspolitischen Positionen im Rahmen einer zweiachsigen Matrix (Markt vs. Staat; Meritokratie vs. Egalitarismus) vor und ist vor allem durch die differenzierte Beschreibung der parteispezifischen Sichtweisen von Armut interessant. Im Ergebnis kommen sie zu einem (eher nicht überraschenden) asymmetrischen Lagermodell, wobei das Feld Markt/Meritokratie von FDP, CDU/CSU und das Feld Egalitarismus/Staat von SPD, Grüne, Die Linke besetzt wird (384 f.). Aus einem anderen Blickwinkel greift Markus Linden die Angebotsstruktur von Parteien auf, indem er die konfigurierende Funktion politischer Repräsentation betont. Politische Programme greifen auf symbolisch vermittelte Wertzuschreibungen zurück, die sich in hohem Maße an der Issuefähigkeit von Interessenlagen bemessen (vgl. Linden/ Thaa 2014). In einer Publikumsdemokratie (Manin 2007) stößt die politische Repräsentation von – abkürzend gesprochen – Armutslagen auf die Schwierigkeit, „symbolische Ressourcen zu identifizieren, mittels derer es gelingen könnte, das von Kultursoziologen beschriebene Verlierer- und Leistungsverweigererimage in den Hintergrund zu drängen und ‚attraktive’ Issues aufzubauen“ (405). Einen explizit eliten- und ressourcentheoretischen Ansatz verfolgt Michael Hartmann, der gleich in zweierlei Hinsichten die bloße Deskription von Repräsentationsdifferenzen in Richtung sozial bedingter Kausalitäten überschreitet. Zum einen geht er von einem engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Einstellungen und interessebedingtem Handeln von Elitenangehörigen aus (vgl. Hartmann 2013). Zum anderen führt Hartmann die unterschiedliche soziale Zusammensetzung einzelner Elitengruppen auf sektorspezifische Rekrutierungsmechanismen zurück (297 f.) – und in dieser Hinsicht ist die politische Elite immer noch offener als die wirtschaftliche, in der weitgehend das Prinzip der Kooptation gilt, also der Auswahl aus eigenen Reihen.
Fazit
Die Beiträge des Bandes unterstreichen aus der Sicht der Parteienforschung den empirisch kaum noch zu bestreitenden Befund, dass das Parteiensystem Gruppen, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind, strukturell unzureichend repräsentiert. Die Befunde lassen zudem bezweifeln, ob angesichts des Mitgliederrückgangs das Repräsentationsdefizit durch Mittel parteiinterner Organisationsstrukturen und -verfahren nennenswert korrigiert werden kann. Da jedoch die Autorinnen und Autoren überwiegend vom Modell deskriptiver Repräsentation ausgehen, können bisher kaum Aussagen darüber getroffen werden, ob und wie diese Repräsentationsdefizite zu substanziellen Vertretungslücken führen. Dafür müssten derartige Analysen künftig systematisch mit Untersuchungen gruppenbezogener Politikergebnisse verknüpft werden.
Literatur
Diehl, Paula (2015): Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie politischer Repräsentation. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Hartmann, Michael (2013): Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten? Campus, Frankfurt am Main
Linden, Markus / Winfried Thaa (Hrsg.) (2014): Ungleichheit und politische Repräsentation. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Manin, Bernard (2007): Kritik der repräsentativen Demokratie. Matthes & Seitz, Berlin
Merkel, Wolfgang (Hrsg.) (2015): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Springer Verlag, Wiesbaden
Schäfer, Armin (2015): Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Campus, Frankfurt a. Main
Thaa, Winfried (2008): Kritik und Neubewertung politischer Repräsentation: vom Hindernis zur Möglichkeitsbedingung politischer Freiheit. In: Politische Vierteljahresschrift Jg. 49, Heft 4: 618-640
Repräsentation und Parlamentarismus
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Rezension
{BID=40824}„Wer einer unteren sozialen Klasse angehört, hat eine geringere Chance darauf, dass seine oder ihre Anliegen politisch umgesetzt werden“, lautet das Argument von Lea Elsässer, die mit ihrer Dissertation nachweist, dass in Deutschland eine starke soziale Schieflage in der politischen Repräsentation besteht. So zeigt ihre Analyse sozialpolitischer Entscheidungen von 1980 bis 2013, dass diese deutlich zugunsten der oberen Berufsgruppen ausfielen. Die politischen Anliegen der unteren sozialen Schichten hingegen wurden im Untersuchungszeitraum von keiner Regierungspartei in den politischen Prozess getragen.
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