Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten
Petra Köpping fragt nach der Distanz vieler Ostdeutscher zur Demokratie und ihrer Politik. Warum sind die Rechtspopulisten in den neuen Bundesländern stärker als im Westen? Die Ursachen sieht sie in der Nachwendezeit, in der viele Erwerbsbiografien abbrachen, weil die Treuhand das ostdeutsche Vermögen verschleuderte. Die Bürger*innen fühlten sich seitdem als Kollektiv gering geschätzt und einige von ihnen versuchten jetzt offenbar mittels des Rechtspopulismus, in den öffentlichen Diskurs einzugreifen. Ihre Wut richteten sie dabei auf die Flüchtlinge anstatt auf den Kern des Problems: die sozialen Ungerechtigkeiten.
Der Titel ist schön griffig, deckt aber nur den halben Inhalt des Buches ab: Petra Köpping, sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration und SPD-Abgeordnete des Sächsischen Landtages, fordert keineswegs nur von den Wessis, endlich doch die Ossis als vollwertige Bundesbürger*innen zu akzeptieren. Nein, so einfach macht sie es sich und ihren Mitbürger*innen daheim in Sachsen und den anderen „neuen“ Bundesländern nicht. Denn irgendetwas muss in den vergangenen fast drei Jahrzehnten seit der Friedlichen Revolution vor allem dort schiefgelaufen sein: „Warum sind das Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik in Sachsen und Ost-Deutschland so groß? Woher kommt all die Wut? Weshalb sind die Rechtspopulisten hier stärker als im Westen?“ (15)
Köpping vertritt die These, dass die Antworten auf diese Fragen in der Nachwendezeit zu suchen sind. Diese Phase mit all ihren wirtschaftlichen Weichenstellungen und sozialen Problemen sei aber bisher weder von der gesamtdeutschen Öffentlichkeit aufgearbeitet – was zu diskutieren wäre – noch von den ehemaligen DDR-Bürger*innen mit einem offenen Eingeständnis bedacht worden: Wir haben zwar auf den ersten Blick bekommen, was wir gewählt haben, so sinngemäß die Autorin, aber wir waren viel zu naiv und passiv und haben nicht selbst politisch formuliert, wie die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft konkret ablaufen soll. Dieses Eingeständnis aber scheint in den meisten Köpfen wohl noch zu fehlen, so der Eindruck aus der Lektüre.
Als zentralen Ausgangspunkt der wirtschaftlich in vielerlei Hinsicht problematischen Transformation macht Köpping, wenig überraschend, die Treuhand-Anstalt aus. Sie war „keine Westerfindung“, wie sie betont, sondern von der letzten Volkskammer initiiert, „der klar war, dass man das ostdeutsche Wirtschaftssystem total reformieren musste“ (19). Allerdings sei die Treuhand politisch dann so besetzt und ausgerichtet worden, „wie es die wirtschaftsliberale Bundesregierung von CDU und FDP wollte“. Unter Berufung auf den Historiker Marcus Böick schreibt die SPD-Politikerin, dass viele Treuhand-Manager, die aus westfälischen Unternehmen gekommen seien, einen „‚zu sozialen‘ Strukturwandel“ (20) wie im Ruhrgebiet hätten vermeiden wollen. Im Osten habe es keine Kraft gegeben, die sich der marktradikalen Politik hätte entgegenstemmen können – ähnlich wie später bei der Finanzkrise sei nie die Politik in ihren Grundätzen, sondern seien nur einzelne Manager verteufelt worden.
Und so seien Ost-Betriebe billig an Westunternehmer verkauft worden, die sich auf diese Weise der neuen Konkurrenz hätten entledigen können. Viele hätten zuvor für den Markt in den westlichen Ländern produziert, seien keineswegs alle völlig veraltet gewesen – aber die Forderung, wenigstens die industriellen Kerne zu erhalten, habe erst nach 1993 in der CDU Beachtung gefunden, dann zu spät. Bei dieser Darstellung fehlt der Hinweis, dass die Arbeit der Treuhand von Anfang an kritisch von der Öffentlichkeit begleitet wurde, auch im Westen und in regionalen wie überregionalen Medien. Was damals konkret passierte, „wie Helden und Halunken die DDR verkauften“ (Untertitel), beschrieb bereits 1997 Michael Jürgs in „Die Treuhändler“. Der Sinn von „Aufarbeitungs- und Versöhnungskommissionen“ (27), wie Köpping sie in Anlehnung an Wahrheitskommissionen vorschlägt, erschließt sich daher nicht, zumal die Ostdeutschen in die Rolle des Opfers geschubst werden würden – der Jammerossi ist aber eben gerade keine Existenz, die die Autorin ihren Mitbürger*innen wünscht.
Köpping stellt eine ganz eigene Wahrnehmung der Nachwendezeit fest (die im Westen immer wieder als Gejammer wahrgenommen wird), die ihre Gründe habe: „Die Ost-Identität der Neunziger, das Gefühl, verloren zu haben, speiste sich“ (22) zum Beispiel aus der Abwicklung des Kaliwerks in Bischofferode, schreibt sie: Eine am Boden liegende Firma aus dem Westen sei auf Kosten der ostdeutschen saniert worden. „Bis heute erleben die Betroffenen die Ereignisse von damals als Betrug: Als Betrug an ihrer Region und ihrem Leben.“ (25) Vergessen werden in dieser Argumentation dann doch die Nachwende-Wahlergebnisse, die dieser Art von Transformation den Weg frei machten, sichtbar sind für Köpping nur die jetzigen Konsequenzen: In Großdubrau, wo ebenfalls ungerechtfertigt ein Werk geschlossen worden sei, habe die AfD bei den Bundestagswahlen 2017 42,4 Prozent erzielt (26). Köpping vergleicht den Umbruch mit „der neoliberalen Schocktherapie in Großbritannien unter Margaret Thatcher. Am Ende dieser Entwicklung steht der Brexit.“ (35)
Köpping meint, dass das Gefühl der wirtschaftlichen Unsicherheit das Vertrauen in die Demokratie nachhaltig beschädigt habe, der Staat sei in seiner Aufbauphase nach 1989 schwach gewesen und habe sich nicht um die Bürger*innen gekümmert. Daher seien zwei Geständnisse angezeigt: das der Ossis, die schlicht naiv gewesen seien, und das der Wessis, die die Befindlichkeiten der Ossis damals abgetan hätten. „Mir geht es an dieser Stelle um die Wertschätzung und Anerkennung der Lebensleistung der Menschen im Osten.“ (34) – Einerseits möchte man der Autorin zustimmen, andererseits fällt auf, dass die Zeit vor 1989 komplett ausgeblendet bleibt (mit einer Ausnahme: Köpping erwähnt ihre frühere SED-Mitgliedschaft). Aus Wessi-/Wossi-Sicht hätte man sich dann doch eine Reflexion darüber gewünscht, was wir aus der Zeit vor und nach 1989 konkret anerkennen sollten – verbunden mit dem Eingeständnis, dass ein radikaler Systemumbruch nicht zum Nulltarif zu haben ist, einige Brüche in beruflichen Karrieren und gar deren Abbrüche zwangsläufig erfolgen, denn nicht alles, was vom DDR-Regime in der Arbeits- und Sozialpolitik erwünscht war, konnte in der Demokratie einen Bestandsschutz erhalten. Nicht zu vergessen ist zudem, dass beim Wechsel vom Sozialismus zu Demokratie und Kapitalismus Freiheiten und damit Möglichkeiten geschaffen wurden. In dem Buch wird nur eher beiläufig erwähnt, dass durchaus viele „gelernte“ DDR-Bürger*innen sich sehr schnell mit den neuen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten zu arrangieren wussten. Viele, auch vormalige Funktionsträger*innen, haben nach 1989 wieder Aufgaben in den Kommunen und Landkreisen übernommen oder sich selbstständig gemacht. Die Mehrheit der Menschen hat, das schreibt auch Köpping, mit der Einheit persönlich dazugewonnen, vor allem die jüngeren.
Allein mit der Etablierung einer gemeinsamen Erinnerung an die Revolution und Transformation wäre aber ihrer Ansicht nach die politische Befriedung der Gesellschaft ohnehin nicht erreicht, sie verweist auf soziale Ungerechtigkeiten vor allem bei der Umrechnung oder Nichtanrechnung der Renten – ein Themenkomplex, der bereits vor den Gerichten verhandelt worden ist und nach wie vor politisch kontrovers gesehen wird. Die Fortschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse finde allerdings weniger über die Höhe der Rente eines Einzelnen statt, heißt es weiter. Im Osten gebe es vor allem „weniger Betriebsrenten, weniger Erbschaften und weniger Immobilienvermögen“ (52) – die Schieflage in der Vermögensbildung zwischen Ost und West bleibt so vorerst erhalten.
Vor diesem gesamten Horizont – Naivität der Ostdeutschen, die an blühende Landschaften glauben wollten, Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft durch die Treuhand, Elitenaustausch, keine komplette Berücksichtigung aller Rentenansprüche aus der DDR und damit fehlende Anerkennung der Lebensleistung, Hartz-IV-Betroffenheit großer Personengruppen, der Vermieter und der Chef sind oft Westdeutsche – stellt Köpping fest, dass die Ostdeutschen „quasi als Kollektiv“ (71) gekränkt seien. „Aber ich will nicht, dass wir jammern. Ich will Gerechtigkeit. Wir sind keine Bürger zweiter Klasse. Allerdings müssen wir dann auch selbst so auftreten: auf Augenhöhe und selbstbewusst.“
Aber anstatt über das ihrer Ansicht nach eigentlich politisch zentrale Thema – die solidarische Verteilung der Lasten in der Gesellschaft und der Beitrag der Reichen zum Allgemeinwohl – zu diskutieren, habe sich eine nennenswerte Zahl an Ostdeutschen dem Rechtspopulismus zugewandt. Und dabei haben sich nach Beobachtung von Köpping Kritik, Wut und sogar Hass infolge einer Transformation, die in vielen ostdeutschen Biografien deutliche Dellen hinterlassen hat, und angesichts einer als ungerecht empfundenen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit der rigorosen (rassistischen, möchte man anfügen) Ablehnung der Flüchtlingspolitik verkoppelt. Aber: „Die Flüchtlinge können nichts für die Wendezeit“ (82), schreibt sie und weiter: „Kann es wirklich das Ziel mancher von uns Ostdeutschen sein, auf diesem Weg endlich mal den Stachel im Fleisch der Bundesrepublik zu bilden und Relevanz im politischen Diskurs zu bekommen? Für mich ist das eher der recht jämmerliche Versuch, fehlende Identität, Kränkungen und Unsicherheit hinter einem neuen aggressiven Nationalismus zu verstecken. Das kann nicht der Weg sein, um wirklich neues Selbstbewusstsein zu bekommen.“ (164) Gefragt sei das offene politische Gespräch darüber, so das Plädoyer Köppings, welche Veränderungen in Deutschland politisch notwendig seien und wie die Demokratie gestärkt werden könne – ein Gespräch Ost mit West, jung mit alt.
Außen- und Sicherheitspolitik
Medienschau
Richard Schröder
Die Erfindung des Ostdeutschen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Oktober 2018
Markus Meckel im Interview
Markus Meckel beklagt Gleichgültigkeit der Westdeutschen
Hannoversche Allgemeine, Interview, 17. Oktober 2018
Essay
Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Ostdeutschland. Entstehung und Entwicklung
Die AfD hat, wie die Bundestagswahl gezeigt hat, ihre Hochburgen im Osten Deutschlands, zu beobachten ist dort auch eine aktive rechtsextreme Szene. Für diese im Vergleich zum Westen deutlich ausgeprägteren Phänomene sind zwei miteinander verknüpfte Dimensionen verantwortlich, schreibt Klaus Schroeder: die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR sowie die durch die Wiedervereinigung entstandenen sozialen Umbruchprozesse. Zudem waren Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus auch in der DDR weit verbreitet, wie seit der Öffnung der Archive nachzulesen ist.
weiterlesen
Literatur zur Treuhand
Klaus Boers / Ursula Nelles / Hans Theile (Hrsg.)
Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe
Baden-Baden, Nomos Verlag 2010
Marcus Böick
Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990-1994
Göttingen, Wallstein Verlag 2018
Dietmar Grosser / Paul-Josef Raue / Hanno Müller (Hrsg.)
Treuhand in Thüringen. Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde
Essen, Klartext Verlag 2013 (Thüringen Bibliothek 9)
Michael Jürgs
Die Treuhändler. Wie Helden und Halunken die DDR verkauften
München / Leipzig, List Verlag 1997
Marc Kemmler
Die Entstehung der Treuhandanstalt. Von der Wahrung zur Privatisierung des DDR-Volkseigentums
Frankfurt am M. / New York, Campus Verlag 1994
Martin Flug
Treuhand-Poker. Die Mechanismen des Ausverkaufs
Berlin, Chr. Links Verlag 1992
Aus der Annotierten Bibliografie
zum Thema