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Rezension / 25.10.2022

Margaret MacMillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten

Berlin, Propyläen Verlag 2021

Margaret MacMillan schaut kulturgeschichtlich auf das Phänomen des Krieges. Wie bringen Gesellschaften diese logistische Mammutaufgabe überhaupt zustande und wie wirken Kriege katalysatorisch auf ihre Entwicklungen ein? Begünstigt all dies Fortschritte, für die etwa im Frieden keinerlei Anstrengungen in Kauf genommen würden? Der Krieg, als Politik mit dem Mittel der Gewaltanwendung, begleite die Menschen seit jeher, auch wenn sich die Anlässe und Arten der Auseinandersetzungen durch die Jahrhunderte hindurch diversifizierten. Michael Rohschürmann hat das Buch für uns gelesen.

Krieg ist allgegenwärtig. Waren die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte weit weg – sowohl was die Beteiligten als auch die geografische Lage angeht –, so hat der russisch-ukrainische Krieg das Thema wieder in die Schlagzeilen der Medien gebracht – ein guter Zeitpunkt um sich auch jenseits der medialen Nachrichtenlogik mit dem Thema wissenschaftlich zu befassen.

Genau dazu ist das Buch der kanadischen Wissenschaftlerin Margaret MacMillan hervorragend geeignet, das in der englischen Ausgabe bereits hochgelobt wurde. Das mangelnde Interesse am Gegenstand, das die Autorin in ihrem Vorwort noch moniert, dürfte damit ausgeräumt sein.

MacMillan legt hier nichts weniger als eine Kulturgeschichte des Krieges vor, die von der Frühzeit bis in die Gegenwart reicht. Der Autorin geht es dabei darum zu ergründen, warum Krieg immer wieder vorkommt, und dessen Auswirkungen zu betrachten. Dabei legen ihre Ausführungen nahe, dass sie im Krieg eine anthropologische Konstante sieht und – vielleicht für viele unerwartet – auch positive Folgen von Kriegen aufführt.

Aber der Reihe nach: Zunächst wählt MacMillan eine sehr weite Definition ihres Forschungsgegenstandes: „Krieg ist in seinem Wesen organisierte Gewalt“ (12). Dabei versteht sie Krieg nicht nur als Gegensatz oder Abwesenheit von Frieden, sondern als wesentliches Element menschlicher Kulturen, dem auch eine positive Rolle bei der Entwicklung von Zivilisationen zukomme: „Er [der Krieg] hat seinerseits die Organisation der Gesellschaft vorangetrieben“ (21)

Historisch beginnt sie mit dem Fall Ötzi als frühen Beleg für Gewalt unter den Homo Sapiens – ob dieser eine Tod, dessen Rahmenbedingungen wohl nie ganz geklärt werden können, tatsächlich ein gutes Beispiel für frühe Kriege gelten kann, sei dahingestellt. Er belege zumindest, dass die Gewalt nicht erst mit der Entstehung großer Städte und Imperien unter die Menschen kam. Zudem unterfüttert sie dieses Beispiel mit vielen weiteren archäologischen Belegen über Konflikte in der Vor- und Frühgeschichte.

In der Folge geht es um das Warum sowie die Durchführung des Krieges, darum wie aus Menschen Kämpfer*innen würden und um den Kampf als solchen – weiterhin dann um die Rolle von Zivilist*innen und die Kontrolle des Krieges.

Neben den erwartbaren Militärtheoretikern wie Sun Tsu und Clausewitz oder den Kriegshistorikern wie Thukydides lässt sie auch andere Geistesgrößen mit deren Positionierung zum Krieg zu Wort kommen. So findet sich neben Shakespeare auch Beethoven unter ihren Stichwortgebern.

Wie oben dargestellt, versucht MacMillan durchaus eine globale Perspektive, der Schwerpunkt bleibt aber leider im bekannten europäischen beziehungsweise nordatlantischen Bereich.

Der Autorin geht es dabei nicht um die Details einzelner Kriege und Kriegsschauplätze, sondern darum, auf Basis einer kulturgeschichtlichen Betrachtung, die Ursachen und Folgen von Kriegen zu beleuchten. „Zu sagen, dass Krieg Gutes bewirken und dazu beitragen kann, stärkere, sogar gerechtere Gesellschaften zu schaffen, heißt nicht, ihn zu verteidigen. Natürlich würden wir lieber im Zustand des Friedens die Welt verbessern, den Schwachen und den Glücklosen helfen […]. Aber in Friedenszeiten fällt es schwerer, den Willen und die Mittel für große Fortschritte aufzubringen.“ (53) So schwierig dieses Zitat möglicherweise noch vor einem Jahr war, in Zeiten, in denen sich Parteien, die aus der Friedensbewegung hervorgingen für Waffenlieferungen zum Schutz der Freiheit aussprechen, dürfte es heute breite politische Unterstützung erfahren. MacMillan ist dabei keineswegs eine Kriegsapologetin: „Eine der großen Tragödien des modernen Krieges bestand darin, dass Gesellschaften sich durch ihre bloße Stärke – was Organisation, Industrie, Wissenschaft und Ressourcen betraf – in solch effektive Tötungsmaschinen verwandeln konnten.“ (122)

Was etwas zu kurz kommt, ist die Behandlung des Themas asymmetrischer Kriege – auch wenn seit dem 24. Februar 2022 der konventionelle Krieg wieder ein unerfreuliches Comeback erlebt.

Insgesamt präsentiert MacMillan ein absolut empfehlenswertes Buch, das einen breiten Blickwinkel auf das Thema Krieg erlaubt und damit eine sehr gute Einstiegslektüre darstellt.

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

The Birmingham Centre for War Studies

Konflikt- und Transformationsforschung vom Mittelalter bis zur Gegenwart – aus der Perspektive von kritischer Sozialforschung und Geschichtswissenschaft.

Center for War Studies (CWS)

Interdisziplinäre und epochenübergreifende Forschung zum Thema Krieg mit Bezügen zur Recht, Politik-, Kultur- und Geschichtswissenschaft.

 

Externe Veröffentlichungen

Margaret MacMillan / 12.06.2023

How Wars Don’t End: Ukraine, Russia, and the Lessons of World War I

Foreign Affairs

Maja Bahtijarevic, Patric Seibel / 28.10.2022

NDR Info

Lothar Brock, Hendrik Simon / 30.09.2022

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Stefan Mair, Christoph Bertram / 20.09.2022

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Deutschlandfunk Kultur