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Rezension / 06.11.2023

Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung

Berlin, Suhrkamp 2023

In ihrer preisgekrönten Dissertation „Mensch ohne Welt“ rekonstruiert die Soziologin Alexandra Schauer die historischen Entwicklungen des menschlichen „Weltverhältnisses“ im Rahmen der Genese und Ablösung der Epoche der Moderne durch die Spätmoderne. In der laut unserem Rezensenten Thomas Mirbach beeindruckenden Studie zeigt Schauer einen allgemeinen Niedergang von Öffentlichkeit beim Übergang zur Spätmoderne auf, der mit dem Verlust der Wahrnehmung des Menschen einhergehe, die Welt auch nach seinen Vorstellungen gestalten zu können.

An Zeitdiagnosen ist kein Mangel. Sozialwissenschaften bedienen als etablierte Praktiken gesellschaftlicher Selbstbeobachtung vorhandene Erwartungen, die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit mithilfe markanter Schlagworte – wie Wissen, Risiko, Erlebnis, Singularitäten – auf besonders charakteristische Entwicklungen (spät)moderner Gesellschaft zu lenken. Allerdings haben Zeitdiagnosen aus der Sicht relevanter Fachdisziplinen immer auch einen ambivalenten Status – sie erweisen sich häufig als Überverallgemeinerung von Tendenzen, die selten einer genauen empirischen Überprüfung standhalten (Honneth 1994, 7). Davon ausgehend könnte man nach den Rezeptionsbedingungen besonders erfolgreicher Zeitdiagnosen fragen, um damit deren wissenschaftlichen Gehalt zu relativieren (Kumkar/Schimank 2022).

Alexandra Schauer geht mit ihrer voluminösen Dissertation (ausgezeichnet mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) einen anderen Weg. Sie möchte – Hannah Arendts Verständnis einer pluralen Gestaltbarkeit von Politik mit der Ökonomiekritik von Karl Marx verknüpfend – ein neues Licht auf aktuelle Zeitdiagnosen werfen. Dabei bildet das Konzept des Weltverhältnisses die theoretische Brücke zwischen der phänomenologischen und der ökonomiekritischen Perspektive (16 ff.). Vereinfachend gesprochen ist mit Weltverhältnis der immer schon narrativ vermittelte Bezug auf eine gemeinsame Welt in den Dimensionen von Zeitlichkeit, Sozialität und Umwelt gemeint. Spezifika der kollektiven Verständigung über den jeweiligen Weltbezug möchte Schauer an epochalen Veränderungen von Vormoderne, Moderne und Spätmoderne herausarbeiten. Das ambitionierte Ziel ihrer Studie ist es, „den doppelten Epochenumbruch, der in die und aus der Moderne führt, als einen Prozess der Entdeckung und des Bedeutungsverlustes von Welt zu rekonstruieren“ (32). Schauer befasst sich für diese Zwecke in historisch weit gespannter Perspektive mit charakteristischen Veränderungen in drei Sozialdimensionen. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des modernen Zeitregimes bildet den Einstieg (41 – 262), um die Herausbildung und den Niedergang der Öffentlichkeit als Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung geht es im zweiten Teil (269 – 477) und weil Städte als Zentren gesellschaftlicher Modernisierung fungieren, stellt der abschließende dritte Teil den Zerfall des öffentlichen Raums im Kontext der Stadtentwicklung dar (475 – 624).

Auch wenn diese drei Erzählstränge in sachlicher Hinsicht Eigenständigkeit beanspruchen, so folgen sie doch einer Intention, nämlich in den jeweils spezifischen Prozessen korrespondierende Verlaufsformen von Weltverlust sichtbar zu machen. Die von Schauer dafür gewählte Darstellungsform der „Kreisbewegung“ orientiert sich in methodischer Hinsicht an den mikrologischen Studien der Kritischen Theorie, deren Deutungen – wie beispielhaft von Theodor W. Adorno (1966) und Siegfried Kracauer (2009) durchgeführt – im Besonderen das Allgemeine zu erschließen suchen. Die schier überwältigende Fülle des von der Autorin herangezogenen Materials – das Literaturverzeichnis umfasst gut 60 Seiten – bezieht sich auf sozialphilosophische Texte, theoretische Konzepte, empirische Studien und Zeitdokumente; fallweise sind Bilder (Kunstreproduktionen, Bauwerke, Alltagsgegenstände) beigefügt, die ausgewählte Befunde symbolisch illustrieren. Wie der Untertitel der Studie ankündigt, sollen die an diesen Themen ansetzenden Deutungen zu einer Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung beitragen. Damit kommt den Darstellungen des zweiten Epochenbruchs – also der Differenz zwischen Moderne und Spätmoderne – ein besonderes Gewicht zu.

Der erste Teil befasst sich mit der Entdeckung und Aneignung von Welt anhand des Wandels der Zeitverhältnisse. War die Sicht der Vormoderne wesentlich von einer den wiederkehrenden Rhythmen der Natur nachgebildeten zyklischen Zeit geprägt, so führte der Aufbruch zur Neuzeit und folgend der Moderne, getragen von Vorgängen der Denaturalisierung, Säkularisierung und industriellen Revolution, zu einer steigenden individuellen wie kollektiven Verfügung über Zeit. Sehr anschaulich stellt Schauer an der Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhr, der Einführung der standardisierten Weltzeit und dem Ausbau des Verkehrswesens dar, wie der schrumpfende Raum zu einer Funktion der Zeit zu werden scheint (95 ff., 123 ff.). Mit dieser Eröffnung des Zukunftshorizonts sei Geschichte – Kernidee der Aufklärung – zu einem von Menschen gemachten Prozess geworden, der sich mit den Revolutionen von 1776 und 1789 als Fortschritt verstehen ließe. Während Schauer zufolge die daran anschließende Moderne Zeit als lineares Geschehen auffasste, das Planbarkeit garantierte, ist demgegenüber der Wechsel zur Spätmoderne von einem zunehmend heterogenen Umgang mit Zeit gekennzeichnet (175 ff.). Vor allem die Flexibilisierung des Kapitalismus und die Digitalisierung würden ein neues Zeit-Raum-Regime begründen, das sich zugleich als globale Gleichzeitigkeit und virtuelle Marginalisierung des geographischen Raums ausdrücke. Mit dem neuen Zeit-Raum-Regime würden in Gestalt des flexibilisierten Arbeitsmarkts und der Erosion kollektivvertraglicher Regulierungen Formen der Subjektivierung von Arbeit korrespondieren, die vom spätmodernen Arbeitskraftunternehmer im Namen von Selbstkontrolle und Selbstoptimierung eine Verbetrieblichung seiner gesamten Lebensführung erwarten. Diese durchgehende Individualisierung struktureller Probleme habe auch tiefgreifend die Sicht auf Geschichte verändert. In der Spätmoderne – das hebt Schauer als wohl markanteste Differenz gegenüber der Moderne hervor – ist die „Wahrnehmung eines linearen Fortschreitens […] zur Ausnahme und das Gefühl des ‚rasenden Stillstands’ [Virilio] zur Regel geworden“ (230). Und „auf den Spuren von Marx“ ließen sich diese Entwicklungen – die Verselbständigung systemischer Prozesse und die Entkoppelung von Zeit und Sinn (239) – „auf die jüngste Restrukturierung des Kapitalismus zurückführen“ (237). Der spätmodernen Gesellschaft scheine eine historische Selbstverortung nur noch als Abgrenzung zur Vergangenheit möglich, zu dem also, was sie nicht mehr ist. Vielfach werde diese imaginierte Vergangenheit als Rückzugsort verklärt, auf den sich partikulare Gemeinschaften im Namen von Religion, Nation, Ethnie oder Kultur beriefen (255 ff.).

Die Auseinandersetzung mit den historischen Gestalten politischer Öffentlichkeit fällt ähnlich aus – auch hier konstatiert Schauer einen Weltverlust. Auf dem Weg in die Moderne sei Öffentlichkeit aus der bürgerlichen Privatheit heraus entstanden (305 ff.). Nach intensiven Kämpfen gegen die besitzbürgerliche Dominanz (344 ff.) habe man schrittweise die Idee politischer Öffentlichkeit als allgemeines Forum etabliert, in dessen Rahmen die gesellschaftlichen Verhältnisse gemeinsam von allen verhandelt werden sollten (364 ff.). In der Spätmoderne finde dagegen eine Entgrenzung des privaten Weltverhältnisses statt, das den modernen Allgemeinheitsanspruch zunehmend überlagere und in der Tendenz die Individuen nur noch als Vereinzelte adressiere (386 ff.). Der Leitgedanke der Autonomie werde durch den der Authentizität verdrängt, statt um kollektive Selbstgesetzgebung gehe es in der Spätmoderne um individuelle Selbstverwirklichung. In der „geistigen Obdachlosigkeit“ der Spätmoderne bilden sich Schauer zufolge zwei Formen von Weltflucht heraus: Einerseits die des radikalen Selbstoptimierers, „dem alles Äußere zum Spiegel seines Selbst geworden ist“ und andererseits die des von Ressentiment Getriebenen, der sich in die Gemeinschaft der Gleichgesinnten zurückzieht (427). Einen dramatischen Bedeutungsverlust von Öffentlichkeit sieht Schauer vor allem darin, dass die Idee der Gestaltbarkeit politischer Verhältnisse durch das Ineinandergreifen von technokratischen Tendenzen und postfaktischen Kommunikationsformen abgelöst wird (450 ff.). Perspektivisch zeichne sich in der Spätmoderne ein Aufstieg des autoritären Kapitalismus ab, in dem Ansprüche des Marktes mehr und mehr gegen demokratische Institutionen ausgespielt würden und ein regressiver Populismus die Verwilderung sozialer Konflikte (Honneth 2011) betreibe (462 ff.).

Im dritten Teil schließlich wechselt die Autorin noch einmal die Perspektive. Hier diskutiert sie die in den ersten beiden Teilen beschriebenen Wandlungsprozesse an ausgewählten Beispielen der okzidentalen Stadtgeschichte (471 ff.). Diese Anordnung vermittelt zuweilen den Eindruck, die durchaus heterogenen städtebaulichen Entwicklungspfade dienten primär einer empirischen Illustration der leitenden These vom spätmodernen Bedeutungsverlust von Welt. Die Städte des Spätmittelalters und der italienischen Renaissance seien Vorboten der bürgerlichen Gesellschaft noch im Rahmen der feudalen Ordnung gewesen (478 ff.). Die Öffnung der Städte im Zuge der Industrialisierung habe die beginnende Stadtplanung angesichts wachsender Widersprüche von Marktökonomie und sozialer Frage vor große Herausforderungen gestellt (519 ff.); exemplarische Wege in die organisierte Moderne werden an Paris, Wien und Berlin beschrieben (553 f.). Analog zum Befund des spätmodernen Verfalls von Öffentlichkeit sei die spätmoderne Stadt eine von fortschreitender Polarisierung geprägte fragmentierte Metropole. Die neue Topographie der Stadt liest Schauer indes nicht an europäischen Beispielen ab, sondern verweist auf Entwicklungen in Los Angeles, Detroit und New York, wo sich die soziale Spaltung in Gestalt von Gated Communities der Reichen und den Hyperghettos der Ausgeschlossen materialisiert (579 ff.).

Fazit
Die gesellschaftstheoretisch informierte Geschichte, die die Autorin durch eine inspirierende Verknüpfung der Perspektiven Arendts und Adornos auf Grundlage eines außerordentlich umfangreichen Materials entwirft, sieht die gegenwärtige Bedeutung der Moderne in dem durch sie erschlossenen Möglichkeitshorizont. Daran gemessen gelingt es Schauer vielfach, durch sehr dichte Beschreibungen von Modernisierungsprozessen – bezogen auf Zeit, Öffentlichkeit und Stadt – Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Autonomieforderungen und Heteronomieerfahrungen zu entfalten. Die leitende These vom spätmodernen Weltverlust sollte – „jenseits der Extreme der Verlustverdrängung einerseits, der Verlustfixierung andererseits“ (Reckwitz 2022, 21) – als das Verschwinden gesellschaftlicher Gestaltungsvorstellungen verstanden werden. Der Weltverlust erscheint auf individueller Ebene als strukturelle Ohnmachtserfahrung, in der Sphäre der Öffentlichkeit als Verschleierung politischer Entscheidungen hinter einer Rhetorik der Alternativlosigkeit und in den städtischen Lebenswelten als Privatisierung des gemeinsamen öffentlichen Raums. Insgesamt bietet die Studie auf Basis eines breiten Spektrums von Zeitdiagnosen ein beeindruckendes Panorama fortschreitender Ökonomisierung des Sozialen, die sich in der Spätmoderne gleichermaßen als Krise des Individuums, der Politik und eines über die faktischen Verhältnisse hinausweisenden Möglichkeitssinns ausdrückt.


Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
  • Honneth, Axel (1994): Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag.
  • Honneth, Axel (2011): Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts. MPIfG Working Paper 11/4.
  • Kracauer, Siegfried (2009): Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
  • Kumkar, Nils C./ Uwe Schimank (2022): Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion: Wie soziologische Zeitdiagnose gesellschaftliche Selbstbilder nachzeichnet und dabei ihren Gegenstand verfehlt: Merkur 76 Jg, Heft 872, S. 22 – 35.
  • Reckwitz, Andreas (2022): Verlust und Moderne – eine Kartierung. Merkur 76 Jg, Heft 872, S. 5 – 21.

CC-BY-NC-SA
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