Giulio Boccaletti: Water. A Biography
Welche Rolle spielte Wasser bei der Begründung von Gemeinwesen? Giulio Boccaletti fokussiert auf die Republik als Staatsform, in der Individualinteressen und kollektives Handeln ideal zusammenwirkten. Sein Buch sei weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als vielmehr eine Erzählung über das Römische Reich, China und den Kapitalismus, so unsere Rezensentin Tamara Ehs: Begründet „auf der großartigen Idee, die Geschichte der Staaten und insbesondere jene der Republik vom Wasser her zu betrachten“, lasse es gerade politikwissenschaftliche Leser*innen mit offenen Fragen zurück.
„Der hydraulische Staat“ wäre ein weit treffender Titel für Giulio Boccalettis tour d’histoire. Denn er erzählt, beginnend mit dem Zweistromland Mesopotamien an Euphrat und Tigris, über Ägyptens Staat am Nil bis zu den globalisierten Anstrengungen zum Bau des Suez- und Panamakanals und schließlich bis zum Dreischluchtendamm in China die Geschichte der Staatswerdung – betrieben durch Wasser(druck). Akribisch entfaltet er Jahrhundert für Jahrhundert die Rolle des Wassers für die Entwicklung von Gesellschaften seit der neolithischen Revolution.
Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Republik als Staatsform, in der individuelle Interessen und gemeinschaftliches Handeln ideal zusammenwirken würden. Immerhin sei Wasser „the ultimate res publica – a public good” (xi). Da die Zähmung von Flüssen oder die Kontrolle über den Wasserzugang für Ernährung, Hygiene und letztlich Produktion die Möglichkeiten des Einzelnen überstiegen, erforderten sie gemeinschaftliches Vorgehen und somit auch rechtliche Übereinkünfte. Die Frage, wer das Wasser wann und wie nutzen dürfe, stehe laut Boccaletti am Beginn der Ausbildung öffentlichen Rechts und somit am Beginn jeglicher Staatlichkeit. Laut dem Autor sei „the story of the struggle with water [is] the root of organized society” (15). Boccaletti schreibt die Geschichte des Wassers als Rechts- und Politikgeschichte. Hydraulik sei der Antrieb der Vergesellschaftung gewesen und sei es heute angesichts der Klimakrise und der Gleichzeitigkeit von Wasserknappheit und Überschwemmungen wieder, vielleicht mehr denn je. Wie unsere politischen Institutionen auf den Klimawandel reagieren, werde den Grundstein für die weitere Stabilität der Demokratien oder ihren Zusammenbruch unter autokratischen Herrscher*innen legen.
Bevor Boccaletti allerdings auf wenigen Seiten diesen Ausblick auf die nächsten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gibt, rollt er die Geschichte auf, vor allem jene Europas. So schreibt er auch eine Geschichte der Urbanisierung, der Expansion, des Imperialismus und der Kolonialisierung. Auch wenn der Autor immer wieder den Blick nach China schweifen lässt, ist der Fokus doch eurozentrisch geprägt. Es wäre für die Leser*innen allerdings auch von Interesse, zum Beispiel mehr über das Fluss- und Wassermanagement in Amerika vor Kolumbus zu erfahren. Immerhin lässt Boccaletti einige Forschungsergebnisse hierzu durchblicken, verbleibt dann aber doch bei der Sicht der europäischen Siedler und Eroberer auf die Amerikas. Dieses Versäumnis, tatsächlich eine globale und nicht nur europäische Geschichte des Wassers als Antrieb der Staatsbildung zu schreiben, wird vor allem immer dann deutlich, wenn Boccaletti über China schreibt, das seine besondere Aufmerksamkeit erhält: Die Biografie von Sun Yat-sen, Revolutionär und erster Präsident der Republik China, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, den der Autor stets wieder aufnimmt, wenn er darlegen möchte, wie die Staatsform der Republik Gesellschaften modernisierte. Der Dreischluchtendamm wird somit als (vorläufiger?) Höhepunkt der hydraulischen Staatswerdung dargestellt, in dem Jahrtausende der Ingenieurskunst ebenso kulminierten wie die Effizienzsteigerung politischer Institutionen.
Boccaletti spannt zwar den Bogen vom Zweistromland der Antike bis zum gezähmten Jangtse, besondere Breite in seiner Erzählung nimmt allerdings das Römische Reich ein beziehungsweise die Erfindung der Republik. Er nimmt die Leser*innen mit in seinem Erstaunen, dass Rom – immerhin assoziiert mit Aquädukten, die bis heute Teil unserer Infrastruktur wie unseres Sprachgebrauchs sind – die Wasserverwaltung niemals zentralisierte, sondern einen Ausgleich zwischen Privat- und Staatswirtschaft (er)fand: „Rome had to adopt a precise legal distinction between the role of individual enterprise and that of the state in managing this res publica“ (67). Dies verlangte nach starken rechtlichen Institutionen, so dass in jener Zeit Gerichtshöfe und ein auf dem Fallrecht bestehendes Rechtswesen entstanden. Rechtssicherheit stellt bis heute eine Grundlage für individuelle Freiheiten dar, zu denen auch die Erwerbsfreiheit und das Privateigentum zählen. Da Rom Investitionen in Wasserwege und Bewässerungssysteme rechtlich absicherte, konnte der Handel florieren. Mit dem Ende der Republik setzte für den Autor auch das Ende des fruchtbaren Zusammenspiels zwischen Staat und Individuum ein, was für ihn in einem direkten Zusammenhang mit dem Ende des Römischen Reichs steht.
Die darauffolgenden Jahrhunderte nehmen bei Boccaletti nur wenig Raum ein, denn: „From the early Middle Ages up to the seventeenth century, Western societies were rather marginal to the story of human progress” (83). Einerseits wäre es sehr wohl von Interesse, näher zu erfahren, wie mittelalterliche Klöster Wasser verwalteten, andererseits kommt hier wieder der Eurozentrismus zum Tragen. Die Leser*innen erfahren zwar, dass sich das Weltgeschehen in jenen Jahrhunderten eher vom osmanischen Reich bis nach China abspielte; welche Rolle die Wasserverwaltung dort einnahm, bleibt aber leider unbeschrieben. So setzt Boccalettis Geschichte erst wieder bei den italienischen Stadtstaaten und ersten neuzeitlichen Republiken ein, um dann den Atlantik zu überqueren. Das Kapitel „American River Republic“ handelt vom Siegeszug des wasserbetriebenen Kapitalismus und dessen Einfluss auf die Staatswerdung der USA im Sinne von „engineering a nation“ (133). Es bildet den Ausgangspunkt für die Erzählung von Imperialismus und Globalisierung. Die USA exportierten laut Boccaletti mit ihrer Ingenieurskunst auch die Republik als modernen Gesellschaftsvertrag, als „set of beliefs, rules, and organizations that mediate between individual power and collective action“ (148). Der Autor verdeutlicht: Erfolgreich ist die Republik als Staatsform, wenn und weil sie sowohl den Zugang zu sauberem Trinkwasser gemeinschaftlich organisiert als auch privatwirtschaftliche Investitionen zur Ausbeutung von Wasser als Ressource des Kapitalismus rechtlich absichert.
Insbesondere diese letzten Kapitel sind gelungen, weil der Autor hier sowohl auf seine wissenschaftliche Ausbildung als Geophysiker als auch auf seine Berufserfahrung bei Beratungsunternehmen im Bereich Nachhaltigkeit und Ressourcenverwaltung zurückgreifen kann. Allerdings ist das Buch weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als vielmehr eine Erzählung, die den Steckenpferden des Autors (Rom, Kapitalismus, China) folgt und dort umfassende Einblicke bietet, in anderen Bereichen jedoch zahlreiche Auslassungen zu verzeichnen hat. An nicht wenigen Stellen wünscht man sich die Ko-Autorenschaft von Rechtshistoriker*innen und Politikwissenschaftler*innen, um den Epochen der Staatsbildung näher auf den Grund zu gehen. So wäre eine tiefergehende Analyse antiker Rechtstexte zur Wasserverwaltung bei den Assyrern, Griechen oder Römern ebenso spannend gewesen wie juristische Fälle aus dem US-amerikanischen case law der jungen Republik oder Wasser als Thema des Völkerrechts. Nicht zuletzt wäre eine Geschichte der Institutionen immer auch eine der politischen Auseinandersetzungen; die Seite der Bürger*innen, die für oder gegen Staudämme oder Flussregulierungen eintreten und demonstrieren, findet bei Boccaletti leider gar keine Beachtung. Somit gründet das Buch auf der großartigen Idee, die Geschichte der Staaten und insbesondere jene der Republik vom Wasser her zu betrachten, es lässt aber gerade die politikwissenschaftlich interessierte Leserschaft mit vielen offenen Fragen zurück.
Demokratie und Frieden
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Externe Veröffentlichungen
Giulio Boccaletti / 15.02.2022
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Giulio Boccaletti / 06.09.2021
When the Political Levee Breaks
Project Syndicate