Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt
Steffen Mau blickt auf strukturelle Ungleichheiten und kulturelle Anerkennungsfragen in der Ost-West-Debatte. Dabei konstatiert er, dass aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen vor und nach den Wendejahren zwei Teilgesellschaften fortbestehen, die sich ökonomisch und politisch weiterhin voneinander unterscheiden, so Michael Kolkmann. Mau spreche sich daher unter anderem mit Blick auf die schwache Verwurzelung vieler Parteien in den ostdeutschen Bundesländern und der erstarkenden AfD für neue demokratische Teilhabe- und Willensbildungsformate - etwa Bürgerräte – abseits des Schemas West aus.
Eine Rezension von Michael Kolkmann
Es gibt wohl kaum einen besseren Zeitpunkt als den Sommer vor den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September sowie in Brandenburg am 22. September 2024, um sich mit dem Thema Ostdeutschland zu befassen. Genau dies hat der Berliner Makrosoziologe Steffen Mau in seinem neuen Buch „Ungleich vereint“ getan. Mau knüpft mit seiner Publikation an die einschlägigen Debatten zu diesem Thema an, die in den vergangenen Monaten vor allem durch Bücher von Dirk Oschmann, Katja Hoyer und anderen geprägt wurden, die es allesamt auf die Bestsellerlisten geschafft haben. Laut Mau gebe es aktuell „einen Überbietungswettbewerb darin, Ostdeutschland oder die Ostdeutschen auf einen Begriff zu bringen“ (7).
Die Vereinigungsgesellschaft als politisches Trugbild
Mit „Lütten Klein“, einem Buch über seinen Heimatort an der Ostseeküste zwischen Rostock und Warnemünde, hat Mau schon im Jahr 2019 die Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern im Kontext von DDR-Prägungen und Transformationserfahrungen im Gefolge von Wende und Wiedervereinigung analysiert. An einige der dort präsentierten Aspekte knüpft Mau, ergänzt durch neue Forschungen und die Berücksichtigung der einschlägigen Literatur zum Thema, auch in „Ungleich vereint“ an. Bei diesem Buch handelt es sich zugleich um eine Ausgliederung aus dem Forschungsprojekt zu dem mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfassten Buch „Triggerpunkte“ über die politische Polarisierung in Deutschland, das im Jahre 2023 in der wissenschaftlichen wie auch in der öffentlichen Diskussion breite Beachtung gefunden hat und von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Preis „Das politische Buch 2024“ ausgezeichnet worden ist. Die Ost-West-Thematik sollte dort ursprünglich mitberücksichtigt werden. Es habe sich laut Mau jedoch gezeigt, „dass der Konflikt Ost-West eine eigenständige Lagerung aufweist und mehr historische Vertiefung benötigt, zumal hier strukturelle Ungleichheitsfragen mit kulturellen Anerkennungsfragen zusammengehen“ (14). Von daher sei „Ungleich vereint“ als der „Versuch eines Nachschubs“ (ebd.) zu verstehen, allerdings „mit anderen inhaltlichen Ambitionen und anders in Form und Struktur“ (ebd.).
Gleich zu Beginn seines Werkes zitiert Mau den Journalisten Cornelius Pollmer, der die Ostdeutschland-Diskurse der vergangenen Jahre einst humorig als „Los Wochos in Lostdeutschland“ bezeichnet hatte: „So läuft es immer. Jemand äußert etwas über den Osten, dann gibt es eine ‚Debatte‘, am Ende sind alle Diskurfexe müde und kommen sich noch spanischer vor als sonst“. Danach passiere „eine Weile zu einhundert Prozent nichts. Dann geht es wieder von vorne los“ (zit. auf 8). Für Mau steht fest: „Wie die DDR geschichtspolitisch eingeordnet werden soll, ist nach wie vor eine heiß diskutierte Frage“ (8 f.). Das vorliegende Buch ist demnach auch „ein Versuch, in dieser komplizierten Diskussionslage für etwas Übersicht zu sorgen. Denn: Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. Zudem sollte man küchenpsychologische Erklärungen vermeiden, die sich an populären Mythen zu bestimmten Gruppeneigenschaften abarbeiten oder Alltagshypothesen mit der Realität verwechseln“ (9).
Mau fragt in seinem Buch danach, warum sich in der Vereinigungsgesellschaft so viele Missverständnisse und Dissonanzen angehäuft haben und woher die ost-westdeutschen Verwerfungen rühren. Das Buch geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung des Ostens an den Westen im Lichte jüngerer Entwicklungen als „Schimäre“ (10) erweist. Die politische Einheitlichkeitsfiktion werde zwar bis heute propagiert, sie verstelle aber den Blick auf sich festsetzende Unterschiede. Aus dieser Perspektive, die den Westen zur Norm mache, so Mau, begreife man den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten. Trotz der vielen Einheitserfolge lasse sich aber ein „Fortbestand zweier Teilgesellschaften beobachten, die zwar zusammengewachsen und in vielerlei Hinsicht konvergiert seien, aber in ihren Konturen noch immer deutlich hervortreten“ (10, Hervorhebung im Original). Die These, dass der Osten dauerhaft anders bleiben wird - und genau das ist der inhaltliche Kern des Buches - beinhalte die Einsicht, „dass wir uns an manche Gegebenheiten gewöhnen müssen - sie werden sich normalisieren und irgendwann als regionale Eigenheiten gelten. Sie beinhaltet aber auch, dass manche durchaus problematische Tendenzen nicht auf ein Angleichungsdefizit oder einen Rückstand zurückgeführt werden können, sondern dass es einen eigenen ostdeutschen Entwicklungspfad gibt“ (11). Mau konstatiert „eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Formen. Das zeige sich bei der Sozialstruktur, bei Identitäten und in der politischen Kultur. Erst wenn man diese unterschiedliche Verfasstheit (an)erkenne, könne man politisch angemessen agieren und nach neuen Lösungen suchen (11).
Die Rolle der AfD in Ostdeutschland
Nicht überraschend bildet die Rolle der AfD in den neuen Bundesländern sowie der allgemeine Umgang damit einen der Schwerpunkte der Mau‘schen Argumentation. Am Ende, so bilanziert er, habe man hinsichtlich der Strategien gegenüber der AfD wohl nur die „Wahl zwischen Pest und Cholera: Ein allzu hartes Angehen von Partei und Wählerschaft kann deren Gruppenidentität festigen, ein allzu weicher Umgang trägt zur Normalisierung bei und bestärkt womöglich das Selbstbild der Wähler als ‚besorgte Bürger‘“ (115). Er weist auch darauf hin, dass die Etablierung dieser Partei „nicht über Nacht“ (117) geschah. Die Wurzeln dieser Entwicklung verortet er in den 1990er-Jahren, „als es rechten Akteuren gelang, im Osten lokale Strukturen aufzubauen, was aber wiederum ohne eine schon in der DDR vorhandene rechtsextreme Szene kaum denkbar gewesen wäre“ (117). Ein aktueller Blick nach Thüringen dient Mau dazu, die Möglichkeiten der AfD zu eruieren, das politische Geschehen zu beeinflussen, auch wenn die AfD nicht direkt an die Macht kommen sollte: „Noch können wir uns kaum vorstellen, was das für Kultur, Schulen, Universitäten oder die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft bedeuten würde. Betroffen wären auch marginalisierte Gruppen, politisch Andersdenkende oder Migrantinnen und Migranten, die schon heute Zielscheibe von Angriffen, Herabwürdigung und Denunziation durch rechte Akteure werden und auf staatlichen Schutz und rechtliche Anerkennung angewiesen sind“ (121).
Laboratorium der Partizipation
Unter dem Titel „Labor der Partizipation“ fragt Mau im Schlusskapitel nach konkreten Ansätzen, den zuvor geschilderten Entwicklungen in Ostdeutschland etwas entgegen setzen zu können - und nicht nur „eine Werkstatt des Nachbauens nach Schema F bzw. West“ (129) zu sein. So scheint es angesichts der Fragmentierung des Parteienspektrums, der Schwäche der Volksparteien und des weitgehenden Verschwindens kleinerer Parteien in der Fläche wahrscheinlich zu sein, dass es in Zukunft öfter zu Vielparteienbündnissen kommt (vgl. 130). Hinzu kommt die Beobachtung, dass es gerade auf kommunaler Ebene immer öfter zur Wahl von nicht-Partei-gebundenen Kandidierenden kommt, begleitet von einem „Ausfransen der Interessenorganisation“ (131) durch den Erfolg von Wahlinitiativen und Partikularparteien.
Mau betont an dieser Stelle: „Natürlich kann meine Diagnose dazu verführen, nun alles so zu lassen, wie es ist, und verbleibende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland einfach hinzunehmen“. Und er hebt hervor: „So ist meine Intervention aber nicht gemeint“ (127). Zur Stärkung einer „resilienten Demokratie“ (132) schlägt Mau konkret den Einsatz von Bürgerräten vor - als Ergänzung, nicht als Ersatz der repräsentativen Demokratie (vgl. 134). Stehe laut Mau bei Wahlen die „Willensbekundung“ im Vordergrund, so sei dies bei Bürgerräten die Willensbildung“ (135; Hervorhebung im Original). Diese Räte schaffen laut Mau Partizipationschancen auch für diejenigen, die sich sonst nicht am politischen Prozess beteiligen, und erarbeiten Empfehlungen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (136). Vor allem drei Vorzüge werden in den Vordergrund gestellt: „Bürgerinnen und Bürger machen erstens die Erfahrung, mit anderen in ein respektvolles Gespräch einzutreten. Zweitens bieten sie Gelegenheiten, damit Menschen sich selbst als Zoon politikon entdecken können – und zwar nicht nur im Hinblick auf enge eigene Interessen, sondern auf ein Gemeinwesen, für das alle zusammen Verantwortung tragen. Und drittens können Bürgerräte auch so etwas sein wie Proberäume für den politischen Nachwuchs, wenn Einzelne merken, dass sie das Talent haben, andere zu überzeugen und mitzunehmen“ (136; Hervorhebung im Original).
Diese Vorzüge illustriert Mau anschließend mit Befunden aus einem seiner (internationalen) Forschungsprojekte zur Arbeit von Bürgerräten. Darauf aufbauend empfiehlt Mau für Ostdeutschland die Initiierung von Pilotprojekten in diesem Bereich: „Hier haben Parteien besonders große Schwierigkeiten, Menschen einzubinden, und hier ist der Vertrauensverlust in die etablierten Akteure stark ausgeprägt“ (141). Laut Mau können man im Osten an Erfahrungen mit Runden Tischen und Bürgerdialogen anknüpfen (vgl. 145). Der auf Seite 143 präsentierte Vorschlag einer dritten Kammer auf Bundesebene als Hybridmodell aus Repräsentation und direktdemokratischer Partizipation erscheint demgegenüber eher unrealistisch, scheint die alltägliche Erscheinungsform der bundesdeutschen Politik doch bereits mit zwei Kammern, dem Bundestag und dem Bundesrat, mit Blick auf die dortigen politischen Aushandlungsprozesse mehr als kompliziert zu sein.
Im Nachwort betont Mau den Reiz des Themas für ihn als Soziologen, sich mit der „Amalgierung zweier lange Zeit getrennter Gesellschaften zu befassen […] Wir sehen, dass dieser Prozess nicht nach dem Drehbuch der Modernisierungstheorie verläuft und dass auch nach mehr als dreißig Jahren die Konturen der Teilgesellschaften erkennbar bleiben“ (167). Zuvor endet das Buch recht unverhofft ohne ein zusammenfassendes Fazit und ohne einen näheren Ausblick auf möglicherweise weiterführende Forschungsfragen. Hier hätte die Gelegenheit bestanden, die Quintessenz der Argumentation der vorherigen Seiten auf den Punkt zu bringen und die wesentlichen Befunde aus der Argumentation des Buches prägnant und konzise zusammenzufassen.
„Allmählichkeitsschäden“ und „illiberale Drifts“ – nicht nur in Ostdeutschland
Was Mau - nicht nur in diesem Buch - auszeichnet, ist die Fähigkeit, soziologische Beobachtungen in einprägsame Formulierungen zu kleiden, etwa wenn er von den „Allmählichkeitsschäden der Demokratie“ (111) spricht. Dieser aus der Versicherungswirtschaft stammende Begriff meint einen Schaden, der über einen längeren Zeitraum unbemerkt entsteht und sich schleichend zu einem großen Problem auswächst, das dann nur noch mit erheblichem Aufwand beseitigt werden kann. Auf die Demokratie bezogen denkt Mau in dieser Hinsicht insbesondere an Beeinträchtigungen, die aus einer „Verbreitung illiberaler Haltungen, der Normalisierung eines radikalen Vokabulars und dem sukzessiven Verlassen des demokratischen Grundkonsenses“ ergeben: „Mir geht es um die kleinen Tabubrüche, die Entzivilisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die Verrohungen der politischen Debatte, denen man, solange sie randständig und lokal bleiben, keine so große Aufmerksamkeit schenkt, an die wir uns aber nach und nach gewöhnen und deren Bedeutung für die Substanz des demokratischen Gemeinwesens man erst später erkennt“ (111). Ein anderes schlagkräftiges Beispiel ist im gleichen Kapitel der Begriff der „Selbstpassivisierung“ (113), die zu beobachten sei, wenn sich die gesellschaftliche Mitte sukzessive vom Spielfeld des Politischen verabschiedet und sich somit in eine Zuschauerposition manövriert und damit den radikalen Kräften das Feld überlässt.
Bemerkenswert am vorliegenden Band ist auch die Verbindung des eigentlichen Themas mit allgemeineren Entwicklungen in Politik und Gesellschaft, etwa der weltweit zu beobachtenden Entwicklung eines „illiberalen Drifts“ oder einem „demokratischen blacksliding“ (122; Hervorhebung im Original). So erweist sich das Buch am Ende nicht nur als eine Analyse von Politik und Gesellschaft in Ostdeutschland, sondern in der gesamten Bundesrepublik (und sogar noch darüber hinaus).
Ein umfangreicher Anmerkungsapparat lädt zum Weiterlesen ein. Wer in nächster Zeit das Thema Ostdeutschland aufgreift, wird am Buch von Steffen Mau aufgrund der vielfältigen geschilderten Befunde und des besonnenen und abwägenden, dabei jederzeit nachvollziehbar erläuternden Stils nicht vorbeikommen. Viele Befunde dreht Mau sinnbildlich hin und her, um sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sie in jeweils verschiedenen Kontexten zu verorten, sei es die ostdeutsche Identität, seien es gesellschaftliche und demographische Entwicklungen oder seien es alte und neue Formen der politischen Partizipation (um nur einige Beispiele zu nennen). „Ungleich vereint“ ist und bleibt das Buch der Stunde und wird auch über die anstehenden Landtagswahlen im Osten hinaus nichts an Aktualität einbüßen. Zu erwarten ist vielmehr, dass Mau auch in Zukunft ein profunder Beobachter ostdeutscher Verhältnisse bleiben wird.
Repräsentation und Parlamentarismus