Puzzeln gegen Rechts? Die Koalitionsbildung in Sachsen und Thüringen
Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen gleicht die Regierungsbildung einem höchst anspruchsvollen Koalitionspuzzle, das allen Beteiligten Flexibilität abverlangt. Insbesondere die CDU ist am Zug, die Führungsrolle beim „Puzzeln gegen Rechts“ einzunehmen. Oliver Kannenberg vom Institut für Parlamentarismusforschung analysiert die Besonderheiten bei der Koalitionsbildung in den ostdeutschen Bundesländern und geht dabei auch der Frage nach, welche Einflussmöglichkeiten die Bundesparteien auf die Koalitionsentscheidungen ihrer Landesverbände haben.
Eine Analyse von Oliver Kannenberg
Nicht erst seit den jüngst stattgefundenen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen gleicht die Regierungsbildung in den ostdeutschen Bundesländern mittlerweile einem höchst anspruchsvollen Koalitionspuzzle. Unter Ausschluss der AfD und teilweise auch der Linkspartei müssen die Parteien weit über ideologische und programmatische Gräben hinaus eine gemeinsame Basis finden. Bislang konnte vor allem die CDU es sich noch erlauben, einige Puzzleteile bei der Komplettierung des (Regierungs-)Bildes außer Acht zu lassen. Doch mit den Wahlergebnissen vom 1. September 2024 wurde ein weiteres Mal deutlich, dass sich die Anwendung derselben Regeln bei der Bündnissuche in Berlin, Düsseldorf, Erfurt oder Dresden unterschiedlich auswirkt und in den beiden letztgenannten Fällen die Aufgabe wesentlich erschweren wird. Soll das Koalitionspuzzle weiterhin ohne rechte Teile auskommen, wird Flexibilität von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren notwendig sein.
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei Fragestellungen behandelt: Wie laufen Koalitionsverhandlungen grundsätzlich ab? Was sind die Besonderheiten bei der Koalitionsbildung in den ostdeutschen Bundesländern? Und wieviel Einfluss kann die Bundespartei auf die Entscheidungen auf Landesebene ausüben?
Ablauf der Regierungsbildung: Signale, Sondierung, Verhandlung und Beschluss
Der Prozess der Regierungsbildung wird umgangssprachlich häufig unter dem Begriff der Koalitionsverhandlungen zusammengefasst. In der politikwissenschaftlichen Forschung haben sich in den vergangenen Jahren breitere Perspektiven etabliert, die bereits vor dem Wahlakt ansetzen und den Schlusspunkt in der parlamentarischen Wahl des Regierungsoberhaupts sehen (siehe Abbildung 1). Darüber hinaus existieren in diesem Kontext einige Faktoren, die in unterschiedlicher Weise die Verhandlungen vorprägen und beeinflussen.[1] Dazu zählt allen voran das Parteiensystem, auf das weiter unten noch genauer eingegangen wird, darüber hinaus auch rechtliche Vorschriften für die Regierungsbildung, zu denen auch etwaige Regelungen in den Parteisatzungen gehören.
Abbildung 1: Kontextfaktoren und Verlauf von Koalitionsverhandlungen[2]
Das Wahlprogramm dient dazu, die inhaltliche Ausrichtung der Partei vor der Wahl festzulegen und den Wählerinnen und Wählern thematische Schwerpunkte einer möglichen Regierungsbeteiligung näherzubringen. Gleichzeitig positionieren die Parteien sich und ihr inhaltliches Angebot damit auch zueinander. Ergänzend werden in Wahlkampfauftritten, Interviews oder Positionspapieren positive wie negative „Koalitionssignale“ an die anderen Parteien gesendet, also: wer will (nicht) mit wem koalieren. Geläufiger ist hier wohl der Begriff der Koalitionsaussagen, der jedoch nicht in gleichem Maße den Variantenreichtum an möglichen Signalen widerspiegelt.[3]
Diese Signale und Präferenzbekundungen werden am Wahltag gewissermaßen von der Realität des Wahlergebnisses (wieder)eingeholt. Jedes noch so ernstgemeinte Versprechen, man werde jetzt Partei A oder C ablösen, muss dann angesichts der faktischen Verteilung der Parlamentsmandate eingeordnet werden. Daraus ergeben sich die Koalitionsoptionen. Das in Deutschland gängigste Koalitionsprinzip ist das der „minimalen Gewinnkoalition“. Es werden demnach nur so viele Parteien an dem Bündnis beteiligt, wie für eine absolute Mehrheit an Parlamentssitzen notwendig ist. Entgegen des internationalen Trends wurde in Deutschland auf Minderheitskoalitionen bislang nur in Ausnahmefällen zurückgegriffen. Eine freiwillige Abkehr davon ist nicht zu erwarten, wie unlängst die Aussagen Bodo Ramelows, immerhin Regierungschef der längsten Minderheitsregierung in Deutschland, unterstreichen. Er nannte es „ein schwieriges Konstrukt“, von dem er aufgrund verringerter Kontinuität und Verlässlichkeit „nur allen abraten“ könne.[4]
Sind die Wunden des Wahlabends geleckt und alle Optionen auf dem Tisch, beginnt die Sondierungsphase. Diese Form der Vorverhandlung hat sich in den vergangenen zwei Dekaden etabliert und ist eine direkte Folge der Pluralisierung des Parteiensystems. Mehr Optionen bedeuten eben oft die sprichwörtliche „Qual der Wahl“ darüber, mit welchen Partnern fortan regiert werden soll. Im Nachgang der Bundestagswahl 2021 sondierten FDP und Grüne sowohl mit der SPD als auch den Unionsparteien.[5] In diesen Sondierungen finden erste inhaltliche Annäherungen statt, die in den darauffolgenden Koalitionsverhandlungen konkretisiert werden. Die gesamte Komplexität der Verhandlungen kann hier nicht abgebildet werden. Vereinfacht lässt sich aber sagen, dass in der Regel (mindestens) drei verschiedene, von den beteiligten Parteien paritätisch besetzte Gremien eingesetzt werden. In den thematisch zugeschnittenen Arbeitsgruppen werden konkrete Inhalte verhandelt und für den Koalitionsvertrag festgeschrieben. Diesen übergeordnet ist die Hauptverhandlungsrunde, in der etwaige Streitfragen diskutiert werden. Zudem dient diese Runde, die mit hochrangigen Mitgliedern aus Fraktion, Partei und zum Teil auch kommunalen Vertreterinnen und Vertretern besetzt ist, der innerparteilichen Legitimation – frei nach dem Motto: Wer dabei war, kann sich später nicht über das Ergebnis beschweren. Hierarchisch am höchsten angesiedelt ist die Spitzenrunde, die zumeist aus den Partei- und Fraktionsvorsitzenden besteht. Hier werden die Leitlinien vorgegeben, die großen Bruchlinien thematisiert und (im Optimalfall) ausgeräumt. In manchen Verhandlungen entfällt die mittlere Ebene und die Spitzenrunde ist für die großen und kleinen Streitfragen zuständig.
Sind sich alle beteiligten Parteien einig, gilt es abschließend noch, die eigene Partei von dem Verhandlungsergebnis zu überzeugen. Die Letztentscheidung kann dabei entweder seitens der Parteielite (Partei- und Fraktionsvorstand), eines Delegiertengremiums oder der Gesamtheit der Mitglieder erfolgen. Die Frage, welches Parteigremium über den Vertrag abstimmt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Grundsätzlich gilt: Je massiver die Koalitionsentscheidung auf innerparteilichen Widerstand stößt, desto besser ist die Partei beraten, das letztentscheidende Gremium so inklusiv wie möglich zu gestalten. Als in Thüringen nach der Wahl 2014 die erstmalige Bildung einer rot-rot-grünen Regierung unter einem linken Ministerpräsidenten angestrebt wurde, entschloss sich die SPD-Thüringen zur Durchführung eines Mitgliederentscheids und folgte damit der Linie der SPD-Bundespartei in den vorangegangenen Verhandlungen der Großen Koalition 2013.
„Brandmauern“ und ungewisse Bündnispartner
Nach dieser schematischen Darstellung von Koalitionsverhandlungen wird der Blick nun stärker auf die Landesebene und dabei insbesondere auf die Spezifika in Thüringen und Sachsen gerichtet. Angesichts des Wahlergebnisses ist eine Besonderheit augenscheinlich: Die Bildung einer gemeinhin präferierten Mehrheitskoalition ist schwierig. Dies ist zwar kein exklusiv „ostdeutsches Phänomen“, wird dort jedoch bislang zu einer größeren Herausforderung für die politischen Akteure und Akteurinnen. Angesichts einer nicht nur in koalitionspolitischer Hinsicht komplexer gewordenen Parteienlandschaft haben sich feste Blöcke (SPD-Grüne oder Union-FDP) aufgelöst bzw. reichen nicht mehr für stabile Mehrheitsverhältnisse aus. Daher sind „komplexe Koalitionen“ vonnöten, also die Bildung von zum Teil lagerübergreifenden Bündnissen aus drei oder zukünftig sogar mehr Parteien.[6] Solche ideologisch heterogenen Koalitionen verlangen den Beteiligten naturgemäß ein höheres Maß an Kompromissbereitschaft ab und stellen das Wertefundament der einzelnen Parteien auf die Probe.
Obendrein schließen CDU, SPD, FDP, die Grünen und die Linke Koalitionen und jedwede Form der Zusammenarbeit mit der AfD prinzipiell aus. Letzteres bezieht sich insbesondere auf die Tolerierung einer Minderheitsregierung durch die AfD oder auch eine Abhängigkeit von AfD-Stimmen bei der Wahl des Ministerpräsidenten bzw. der Ministerpräsidentin. Diese vielzitierte „Brandmauer“ hat – insbesondere aus den Reihen der CDU – auf kommunaler Ebene bereits den einen oder anderen Riss bekommen. Umso deutlicher wurde im Vorfeld der Wahlen auf den Unvereinbarkeitsbeschluss vom 31. Parteitag am 8. Dezember 2018 hingewiesen. Dieser besagt, dass sowohl mit der AfD als auch mit der Linkspartei „Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit“ abgelehnt werden.[7] In abgeschwächter Form, da nicht als Parteitagsbeschluss gefasst, gilt dieser prinzipielle Ausschluss einer parlamentarischen Kooperation mit AfD und Linkspartei auch für die FDP. Dies erschwert die Koalitionsbildung in doppelter Hinsicht. Ersteres liegt auf der Hand: CDU und FDP gehen in keine Koalitionen oder Tolerierungsbündnisse mit der Linken und/oder der AfD, die in den ostdeutschen Bundesländern eine hohe Zahl an Mandaten auf sich vereinen können. Für die Linke gilt dies allerdings nur noch eingeschränkt, was eine direkte Folge der zweiten Herausforderung ist: das aus der Linken abgespaltene Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das als großer Sieger aus den Wahlen hervorging.
Das BSW positioniert sich inhaltlich in einer bisherigen Leerstelle der deutschen Parteienlandschaft, weil es sozialpolitisch auf Staatsinterventionen ausgerichtet ist und gleichzeitig eine eher konservative Gesellschaftspolitik propagiert.[8] Daraus entsteht, theoretisch, eine hohe Anschlussfähigkeit an die Kernthemen anderer Parteien und damit ein koalitionspolitisches Potential, das über das der Linken oder der AfD hinausgeht. Dies wird in der Praxis jedoch durch drei Faktoren geschmälert: Erstens spielen populistische Elemente in der schriftlichen wie mündlichen Kommunikation des BSW eine große Rolle.[9] Die zurückliegenden Erfolge der Partei liegen zu einem großen Teil in der eigenen – populismus-typischen – Darstellung als Alternative zum Establishment begründet. Diese neugewonnene Wählerbasis würde durch eine umgehende Einbettung in die Schwierigkeiten des Regierungsalltags gefährdet werden. Zweitens ist die Haltung des BSW zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ein großes Hindernis für etwaige Koalitionsverhandlungen. Das BSW trifft mit seiner russlandfreundlichen Haltung zwar einen Nerv in der – insbesondere ostdeutschen – Bevölkerung, steht damit jedoch diametral den Parteien der politischen Mitte gegenüber, inklusive Wagenknechts ehemaliger Partei Die Linke. Im Wahlkampf benannten BSW-Vertreterinnen und -Vertreter Themen rund um die deutsche und internationale Unterstützung für die Ukraine als einen der wichtigsten Knackpunkte für mögliche Koalitionsgespräche. Drittens ist das BSW eine sehr junge Partei, die sich bewusst für eine gesteuerte, selektive Aufnahme von Neumitgliedern entschieden hat. Während dies, im Gegensatz zur damaligen Gründungsphase der AfD, der Partei eine gewisse Stabilität verleihen kann und sie weniger anfällig für skandalbehaftete „Glücksritter“ macht, dürfen berechtigte Zweifel daran geäußert werden, dass die Partei bereits jetzt – mehr oder minder aus dem Stand – eine ausreichend hohe Zahl an Amtsträgerinnen und Amtsträgern aufstellen kann.
Handlungsautonomie der Landesverbände
In der Diskussion darüber, dass die Abgeordneten der CDU in Thüringen oder Sachsen möglicherweise die Brandmauer gegen die AfD zum Einstürzen bringen könnten, um eine Koalition mit dem BSW oder der Linkspartei zu verhindern, werden regelmäßig Forderungen nach einem „Machtwort aus Berlin“, also einem Eingreifen der Bundesparteiführung, geäußert. Gleichzeitig gehört es schon zum Standardrepertoire der Parteispitzen, vor Landtagswahlen auf die Autonomie der Landesverbände zu verweisen. Dabei sind im Folgenden zwei Dimensionen näher zu betrachten: zum einen die rechtliche, die der Bundespartei qua Satzung Einflussmöglichkeiten zur Verfügung stellt; zweitens die machtpolitische, bei der die Parteiführung versuchen kann, als gewähltes Leitungsgremium auf die Landesebene einzuwirken.
Zur rechtlichen Dimension: In den Satzungen der Bundesverbände könnten die Parteien Regelungen für Koalitionsabsprachen auf Landesebene festhalten. In der Praxis ist dies lediglich bei der FDP der Fall. Dort heißt es in § 9 Abs. 3: „Die Landesverbände sind verpflichtet, vor Wahlabreden mit anderen Parteien oder Wählergruppen bei den Bundestags- und Landtagswahlen und über Verhandlungen wegen der Beteiligung an einer Koalition sich mit dem Bundesvorstand ins Benehmen zu setzen.“ Eine direkte Koalitionsbeteiligung muss demnach in Absprache mit der Bundesspitze erfolgen, wobei offenbleibt, wie genau das „ins Benehmen setzen“ auszusehen hat. Einen Absatz weiter werden zudem auch weniger formale Bündnisse unter den Vorbehalt der Zustimmung der Bundespartei gestellt: „Die Landesverbände sind verpflichtet, bei organisatorischen oder grundsätzlichen Abmachungen mit anderen Parteien oder Fraktionen (Gruppen) oder Teilen von diesen unverzüglich die Genehmigung des Bundesvorstandes herbeizuführen.“ Dass bei den anderen Parteien derartige Regelungen fehlen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Landesverbände vollends frei in ihrer Entscheidung sind. Als Teilgliederung der übergeordneten Bundespartei müssen sie sich an deren Grundsätze, Bestimmungen und Parteitagsbeschlüsse halten.
Was passiert jedoch, wenn sich Landesverbände partout nicht „auf Linie“ bringen lassen wollen? In solchen Fällen kommt es wiederum auf die Ausgestaltung der Parteisatzung an. Sollte eine Bundespartei Maßnahmen gegen „nachgeordnete Gebietsverbände“ einleiten wollen, sind diese gemäß § 16 Parteiengesetz „nur wegen schwerwiegender Verstöße“ zulässig. Obendrein ist dort festgehalten, dass in der Parteisatzung näher zu bestimmen ist, „aus welchen Gründen die Maßnahmen zulässig sind“ und an welche Ebene sowie Organe sich diese Maßnahmen richten können. Die Parteiführungen hätten also rechtlich einen Hebel in der Hand, sollte beispielsweise ein Landesverband unabgesprochen mit der AfD (oder der Linken) koalieren. Das Problem ist jedoch, dass bis auf die Grünen und eben die AfD keine Partei in ihrer Satzung die im Gesetz geforderte Konkretisierung vorgenommen hat.
Bei näherer Betrachtung der zweiten Dimension, die hier als „machtpolitische Intervention“ bezeichnet wird, zeigt sich, dass die oftmals proklamierte Autonomie der Landesverbände im konkreten Anwendungsfall auch gerne auf die Probe gestellt wird. Dabei lohnt sich ein genauer Blick auf drei vergangene Regierungsbildungen in ostdeutschen Bundesländern, und zwar in unterschiedlichen Jahrzehnten und Parteikonstellationen.
Aus der jüngeren Vergangenheit dürfte den meisten der „Fall Kemmerich“ noch bekannt sein. Der FDP-Landesvorsitzende wurde im Februar 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Stimmen aus den Reihen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt.[10] Mit Verkündung des Wahlergebnisses brach ein Sturm der Entrüstung los. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Auslandsbesuch in Pretoria (Südafrika) befand, kommentierte das Ergebnis als einen „unverzeihlichen Vorgang“, der „rückgängig gemacht werden“ müsste. Damit setzte sie sich nicht nur über diplomatische Gepflogenheiten hinweg, sondern verstieß auch gegen die Verfassung, wie das Bundesverfassungsgericht später befand.[11] Die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer forderte von den Abgeordneten der CDU-Thüringen die Herbeiführung von Neuwahlen, was diese wiederum vehement ablehnten.[12] Nach einer mehrstündigen Krisensitzung musste sich Kramp-Karrenbauer geschlagen geben. Drei Tage später kündigte sie als unmittelbare Folge auf diese gescheiterte Intervention ihren Rückzug von der Parteispitze an.
Das zweite Beispiel behandelt die Situation der SPD vor genau drei Jahrzehnten. Im Sommer und Herbst 1994 fanden zunächst Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und darauffolgend in Mecklenburg-Vorpommern statt. Beide führten zu einem Wahlerfolg der SPD, die jedoch auf Unterstützung der PDS angewiesen war, um die jeweiligen CDU-Regierungen ablösen zu können. In Sachsen-Anhalt entstand so das „Magdeburger Modell“, das eine Minderheitskoalition aus SPD und Grünen unter faktischer Tolerierung der PDS bezeichnet. Offiziell wurde zwar stets betont, dass man mit „wechselnden Mehrheiten“ regieren werde, de facto stützte sich die Regierung jedoch auf die Stimmen der PDS-Abgeordneten. Eben jene waren es auch, mit denen man Verhandlungen führte. So wurde während der Koalitionsgespräche mehrfach betont, dass es keine Zusammenarbeit mit der Partei PDS geben werde, sondern lediglich mit ihren demokratisch gewählten Abgeordneten im Magdeburger Landtag. Dies rief große Aufregung hervor, insbesondere im konservativen Lager. Der damalige SPD-Parteivorsitzende Rudolf Scharping sah sich daraufhin veranlasst, in einer gemeinsamen Sitzung mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der ostdeutschen Landesverbände die „Dresdner Erklärung“ abzugeben, in der es unter anderem heißt: „Es bleibt dabei: Die PDS ist ein politischer Konkurrent und Gegner der SPD. Eine Zusammenarbeit mit ihr kommt für uns nicht in Frage.“[13]
Diese, dem Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU nicht unähnlichen Erklärung wurde nur wenige Wochen später von der Realität eingeholt. Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern waren lediglich drei Parteien in den Landtag eingezogen, und die SPD hätte mittels Tolerierung durch die PDS die bislang regierende CDU in die Opposition verweisen können. Nachdem erste Gespräche aufgenommen worden waren, meldete Scharping sich erneut aus Bonn und verkündete, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, „um jede Form der Zusammenarbeit mit der PDS zu verhindern“.[14] Das Machtwort eines ohnehin geschwächten Parteivorsitzenden[15] verhallte, ähnlich wie die Dresdner Erklärung. Dass die SPD am Ende dennoch Juniorpartner einer CDU-geführten Landesregierung wurde, lag nicht an den schriftlichen Bekundungen oder Interventionen der Parteispitze, sondern an einem mangelhaften Umgang der PDS mit der eigenen Parteigeschichte.[16] Hieran zeigt sich, dass sich die Erfolgspotentiale von rechtlichen wie auch machtpolitischen Interventionen bislang deutlich in Grenzen halten bzw. von vornherein limitiert sind.
Dies hat im zurückliegenden Wahlkampf auch der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz bereits erfahren müssen. Nachdem er das BSW als „in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem“[17] bezeichnet und Koalitionen mit seiner CDU grundsätzlich ausgeschlossen hatte, kam umgehend Widerspruch vom Thüringer CDU-Vorsitzenden Mario Voigt. Daraufhin konkretisierte Merz, dass sich seine Aussagen zur Koalitionsfrage natürlich nur auf die Bundesebene bezögen. Darüber hinaus könne er sich ja gar nicht äußern, schließlich seien die Landesverbände in ihrer Entscheidung autonom; „Wenn es den Grundsätzen der Partei, der CDU, entspricht, wenn es nicht gegen Parteitagsbeschlüsse von uns verstößt, dann haben diese Landesparteien das Recht, eine solche Entscheidung zu treffen.“[18]
Was folgt? Verhandlungen mit dem BSW und „Beinfreiheit“ für Thüringen
Trotz wesentlicher Unterschiede bei den Wahlergebnissen in Sachsen und Thüringen, ist in beiden Fällen die CDU am Zug, die Führungsrolle beim Puzzeln gegen Rechts einzunehmen. In beiden Ländern ist für die Bildung einer Mehrheitskoalition eine Zusammenarbeit mit der SPD und dem BSW unabdingbar. In Thüringen wird darüber hinaus auch noch die Zusammenarbeit mit der Linken benötigt. Klar ist auch, dass die Gespräche mit dem BSW um einiges schwieriger werden dürften. Insbesondere die außenpolitischen Positionen, die zwar naturgemäß einen geringen Stellenwert in der Landespolitik einnehmen, aber für das BSW, die CDU und ihre jeweiligen Wählerschaften von hoher Bedeutung sind, stellen einige Hürden für die anstehenden Verhandlungen dar. Unüberwindbar sollten diese dennoch nicht sein.
Der CDU wurde von allen Parteien (mit Ausnahme der AfD) auch das Verhandlungsmandat für Thüringen attestiert. Das Ziel in diesen Verhandlungen muss sein, nicht nur eine Mehrheit für Mario Voigt als nächsten Ministerpräsidenten Thüringens, sondern darüber hinaus einen Modus Operandi für die nächsten fünf Jahre des Regierens zu erreichen. Um zu verhindern, dass die AfD sich bei zukünftigen Abstimmungen als Mehrheitsbeschaffer gerieren kann und damit (indirekt) mitregiert, benötigt es wie oben erwähnt irgendeine Form der Absprache/Zusammenarbeit mit der Linkspartei. Von Seiten der Linkspartei bekräftigte Bodo Ramelow bereits mehrfach, die Bereitschaft zur Tolerierung für eine CDU-geführte Landesregierung. Dafür müsste jedoch der Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU eine (linke) Ausnahme für den Thüringer Landesverband zulassen. Sollte die CDU diesen Schritt gehen und eine Tolerierung bzw. jedwede Zusammenarbeit mit der Linken akzeptieren, wird zwangsläufig auch die Brandmauer gegenüber der AfD wieder Thema werden und die CDU (sowohl in Thüringen als auch auf Bundesebene) einen schwierigen Spagat machen müssen. Die Stimmen, die eher einen pragmatischeren Umgang mit der AfD fordern (und damit indirekt zumeist eine Koalition erreichen wollen), sind zwar noch in der deutlichen Minderheit, dürften sich jedoch durch einen linken Präzedenzfall in ihrer Haltung bestärkt sehen.[19]
Abschließend könnte in Thüringen noch durch ein weiteres Szenario eine Mehrheit für CDU, BSW und SPD hergestellt werden, und zwar durch einen Fraktionswechsel. Verlässt eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter die Fraktion der Linken oder der AfD und unterstützt die mögliche Regierungskoalition, wären die notwendigen 45 Stimmen vorerst erreicht. Fraktionswechsel sind in Deutschland zwar nach wie vor die Ausnahme, jedoch auch nicht so selten, wie oftmals vermutet.[20] Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse sind die Anreize für die aufnehmenden Parteien/Fraktionen und das jeweilige Landtagsmitglied definitiv höher als in vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit. Und es wäre nicht das erste Mal, dass auf diesem Wege eine Regierungsmehrheit hergestellt wird. Bereits nach den ersten Landtagswahlen 1990 in Mecklenburg-Vorpommern sorgte erst der Wechsel des Abgeordneten Wolfgang Schulz von der SPD zur CDU für die Auflösung einer Patt-Situation zugunsten einer schwarz-gelben Koalition.
Anmerkungen:
Repräsentation und Parlamentarismus
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