Aus dem Westen importiert? Wer tritt bei den Ostwahlen an
Im September sind die Wählerinnen und Wähler in Sachsen, Thüringen und Brandenburg aufgerufen, neue Landtage zu wählen. Erneut ist zu erwarten, dass bei den Ost-Wahlen auch die Identität als Ostdeutsche eine Rolle spielen wird. Wie Studien zeigen, bekleiden Ostdeutsche gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil nur wenige Führungspositionen – auch in den neuen Bundesländern selbst. Ob dies auch für die zur Wahl stehenden Kandidatinnen und Kandidaten gilt, wird im Folgenden untersucht. Sind Ostdeutsche unter den Kandidatinnen und Kandidaten deskriptiv über- oder unterrepräsentiert? Wie hat sich dies über die Zeit entwickelt? Und spiegelt sich die Zuschreibung „Ostpartei“ auch im Kandidatenportfolio wider?
In wenigen Tagen werden in Sachsen und Thüringen und drei Wochen später in Brandenburg neue Landtage gewählt. Bei allen drei Landtagswahlen – oft auch als „Ostwahlen“ bezeichnet – spielt auch die ostdeutsche Identität eine Rolle. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die AfD in Thüringen wirbt mit dem Slogan „Der Osten machts“. Die Linken-Spitzenkandidatin in Sachsen, Susanne Schaper, ist auf Plakaten mit zwei Hunden vor einem Trabi unter der Betitelung „Ostdeutsch, sächsisch, links“ zu sehen.
Diese Werbestrategie ist auch vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, dass Ostdeutsche in Führungspositionen bundesweit und in den neuen Bundesländern nach wie vor in der Minderheit sind, wie etwa Studien des Leipziger Elitenmonitors zeigen.[1] Nach der Wende wurden die alten SED-Eliten durch neue aus dem Westen ersetzt. Diese „Kolonisierung“ des Ostens ist ein Bestandteil der Deprivationserfahrung[2], die einen nicht unerheblichen Teil der ostdeutschen Identität ausmacht.
Daher ist die Frage, ob diejenigen, die sich bei den „Ostwahlen“ bewerben, auch als „ostdeutsch“ wahrgenommen werden, auch für die Glaubwürdigkeit der Betonung ostdeutscher Identität im Wahlkampf essenziell. Mit Daten des CandiData-Projekts des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) kann genau dies vor den anstehenden Landtagswahlen unternommen werden. Zur Terminologie: Als ostdeutsch wurde gezählt, wessen Geburtsort im Gebiet der ehemaligen DDR liegt.[3] Diese Zuordnung ist zwar in Anbetracht der Binnenwanderungsbewegung seit 1990 unterkomplex, kann aber gerade für die Geburtsjahrgänge 1949 (und insbesondere ab Mauerbau 1961) bis 1990 als sehr zuverlässig angesehen werden.
Regionale Herkunft der Eliten in Ost- und Westdeutschland
Abbildung 1 differenziert die Bewerberinnen und Bewerber bei Wahlen nach Geburtsort und Geburtsjahrgang. Deutlich sichtbar – und wenig überraschend – ist der Unterschied zwischen Wahlen in Ost und West. In den alten Bundesländern kandidieren weit überwiegend Menschen, die dort geboren sind. Dasselbe trifft auch auf die neuen Bundesländer zu. Dort sind im Schnitt 15 bis 20 Prozent der Kandidatinnen und Kandidaten im Westen geboren, wohingegen es in den westdeutschen Ländern vice versa nur ein bis fünf Prozent Ostgeborene sind.
Die Interpretation, dass Ostdeutsche es im Westen schwerer hätten, greift aber zu kurz. Legt man die Bevölkerungsanteile Westdeutscher in Ostdeutschland und Ostdeutscher in Westdeutschland an[4], so stimmen diese grob mit den Anteilen unter den Bewerberinnen und Bewerbern überein. Man kann also keinesfalls von einer proportionalen – also deskriptiven – Überrepräsentation Westdeutscher sprechen.
Abbildung 1: Kandidaten bei Wahlen zu den Landtagen und dem Bundestag nach Geburtsregion in Ost- und Westdeutschland seit 2013 |
Quelle: IParl-Projekt CandiData. |
Wer ist die wahre Ostpartei?
Die Partei DIE LINKE (ehemals PDS) wurde lange als ostdeutsche Regionalpartei gesehen, nicht zuletzt auch, weil sie das Erbe der SED antrat.[5] Und auch die AfD versuchte in den Wahlkämpfen 2019, mit Slogans wie „Vollende die Wende“, „Wir sind das Volk“ und „Hol dir dein Land zurück“ explizit eine ostdeutsche Identität anzusprechen.[6] In Anbetracht dessen wäre anzunehmen, dass dieser Ost-Fokus sich auch im Kandidatenportfolio widerspiegelt.
Abbildung 2: Anteil der in Ostdeutschland geborenen Kandidaten bei Wahlen zu den Landtagen und dem Bundestag nach Parteien |
Quelle: IParl-Projekt CandiData. |
Dies kann so eindeutig nicht für alle Parteien bestätigt werden. Während die Linkspartei durchgängig bei fast allen Wahlen im Erhebungszeitraum die meisten im Osten geborenen Bewerberinnen und Bewerber aufgestellt hat, ist dies für die AfD weniger eindeutig (siehe Abbildung 2). In Brandenburg sind 2014 und 2019 nur knapp unter 50 Prozent der AfD-Kandidatinnen und -Kandidaten im Osten geboren. So zog beispielsweise ihr Spitzenkandidat 2019, Andreas Kalbitz, Anfang der 2000er-Jahre aus Bayern nach Brandenburg. Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt wurden überdurchschnittlich viele im Osten Geborene für die Partei nominiert (82 Prozent 2016 und 84 Prozent 2021).
In Thüringen waren es 2014 unterdurchschnittlich (66,7 Prozent) und 2019 überdurchschnittlich viele (79,2 Prozent), und bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 lag der Anteil jeweils knapp über dem Durchschnitt (72,3 Prozent und 68,6 Prozent). Für die anderen Parteien lässt sich kein klarer Trend identifizieren. Lediglich die Grünen weisen durchgängig unterdurchschnittliche Anteile Ostgeborener auf.
Ausblick auf die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg[7]
Am 1. September 2024 werden die Landtage in Sachsen und Thüringen, drei Wochen später am 22. September dann in Brandenburg neu gewählt. Ohne Frage spielt die Bewertung einer eigenen Ost-Identität bei diesen Wahlen eine Rolle. Nicht umsonst setzt die AfD auf Slogans wie „Der Osten machts“ in Thüringen oder auf „Damit Sachsen Heimat bleibt“ in Sachsen. Wie die hier präsentierten Befunde zeigen, geht mit der Etikettierung als Ost-Partei nicht immer auch ein Kandidatenpool einher, der dies reflektiert. Entsprechend lohnt sich auch hier ein Vorausblick auf die Wahlen in wenigen Wochen.
Abbildung 3: Anteil im Osten geborener Bewerber nach Parteien bei den Landtagswahlen 2024 in Sachsen und Thüringen |
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Quelle: CandiData. |
Abbildung 3 stellt die Anteile der bei den Landtagswahlen antretenden Parteien gegenüber. Auffällig ist, dass in Thüringen, verglichen mit vorherigen Wahlen, durchschnittlich mehr Personen kandidieren, die im Osten geboren sind. Während es bei dieser Wahl im Schnitt 79,6 Prozent sind, waren es 2014 75,1 Prozent und 2019 72,7 Prozent. Für Sachsen liegen keine Vergleichszahlen vor. Bis auf die Grünen, für die in Thüringen 58,6 Prozent Ostgeborene antreten (und damit anteilsmäßig weniger als 2019), liegen alle größeren Parteien mit Aussicht auf Einzug in den Landtag um den Thüringer Schnitt von 79,6 Prozent herum. Die Partei DIE LINKE stellt in beiden Ländern erneut den höchsten Ost-Anteil unter den etablierten Parteien. Aber auch die AfD hat im Vergleich zu zurückliegenden Wahlen vermehrt Ostkandidatinnen und -kandidaten nominiert.
Insgesamt lässt sich vor den drei anstehenden Landtagswahlen konstatieren, dass das Personaltableau aller Parteien ostdeutscher geworden ist. Ob es sich hierbei um eine strategische Entscheidung der Parteien handelt, mit der sie sich selbst stärker als ostdeutsch vermarkten wollen oder dies schlichtweg eine längerfristige demografische Entwicklung widerspiegelt, bleibt offen.
Festzuhalten ist aber, dass Ostdeutsche, obwohl sie selbst in Ostdeutschland häufig eine Minderheit in Führungspositionen darstellen, bei den Kandidaturen für Wahlen durchaus angemessene Berücksichtigung finden. Auch wenn populistische Parolen wie „Hol dir dein Land zurück!“ verfangen mögen, sind in der Realität Ostdeutsche auf dem Wahlzettel angemessen berücksichtigt.
Anmerkungen
[1] Siehe exemplarisch Raj Kollmorgen, Eliten in Ostdeutschland. Repräsentationsdefizit und Entfremdung der Ostdeutschen?, in: Sören Becker / Matthias Naumann (Hrsg.), Regionalentwicklung in Ostdeutschland: Dynamiken, Perspektiven und der Beitrag der Humangeographie, Berlin / Heidelberg 2020, S. 31 – 42, S. 34 Volker Brandy / Raj Kollmorgen / Astrid Lorenz / Linus Paeth / Jan Schaller / Lars Vogel, Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen! – Bundeskonzept und Zwischenergebnisse des Elitenmonitors, in: Zum Stand der Deutschen Einheit. Bericht der Bundesregierung 2023, Paderborn 2023, S. 23 – 38; Raj Kollmorgen, Außenseiter der Macht. Ostdeutsche in den bundesdeutschen Eliten, in: Ulrich Busch / Michael Thomas (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration, Berlin 2015, S. 189 – 220.
[2] Vgl. Heinrich Best, Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland, in: Wolfgang Frindte / Daniel Geschke / Nicole Haußecker / Franziska Schmidtke (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“: Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen, Wiesbaden 2016, S. 119 – 130, S. 120.
[3] Berlin wurde separat gewertet.
[4] Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes liegt der Anteil der in Ostdeutschland Geborenen an der ostdeutschen Wohnbevölkerung zwischen 63,2 Prozent und 84,5 Prozent, vgl. Lars Vogel, Regionale Verankerung und Mobilität von Eliten in Deutschland. Eine Erklärung für die Unterrepräsentation der Ostdeutschen?, in: Lars Vogel / Astrid Lorenz / Rebecca Pates (Hrsg.), Ostdeutschland: Identität, Lebenswelt oder politische Erfindung?, Wiesbaden 2024, S. 237 – 261, S. 245; ders., Ausmaß und Persistenz personeller Unterrepräsentation in den Eliten Deutschlands, in: Raj Kollmorgen / Lars Vogel / Sabrina Zajak (Hrsg.), Ferne Eliten: Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund, Wiesbaden 2024, S. 107 – 148, S. 115. Andere Schätzungen sehen die Anteilswerte bei 85 Prozent und 87 Prozent. Vgl. Raj Kollmorgen, a.a.O. (Fn. 1); Olaf Michael Bluhm: Jacobs, Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung, Leipzig 2016, S. 3.
[5] Siehe Nils C. Bandelow / Colette S. Vogeler, Koalitionsverhandlungen als Entscheidungsfenster im deutschen politischen System? Das Beispiel PKW-Maut, in: Reimut Zohlnhöfer / Thomas Saalfeld (Hrsg.), Zwischen Stillstand, Politikwandel und Krisenmanagement, Wiesbaden 2019, S. 533 – 548; Oskar Niedermayer / Richard Stöss, DDR-Regimewandel, Bürgerorientierungen und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: Oskar Niedermayer / Richard Stöss (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch: Parteiensystem und Wählerverhalten in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern, Wiesbaden 1994, S. 11 – 33; Tim Spier, Die Linke, in: Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Parteien und soziale Ungleichheit, Wiesbaden 2017, S. 191 – 221; Hasko Hüning / Gero Neugebauer, Die PDS, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Intermediäre Strukturen in Ostdeutschland, Wiesbaden 1996, S. 67 – 85.
[6] Siehe Kai Arzheimer, Regionalvertretungswechsel von links nach rechts? Die Wahl der Alternative für Deutschland und der Linkspartei in Ost-West-Perspektive, in: Bernhard Weßels / Harald Schoen (Hrsg.), Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2017, Wiesbaden 2021, S. 61 – 80.
[7] Da die Wahllisten für die Landtagswahl in Brandenburg erst am 26. August veröffentlicht werden, liegen diese für diese Ausarbeitung noch nicht vor, werden aber nachgereicht.
Repräsentation und Parlamentarismus