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Interview / 13.11.2024

Welche Rolle spielten Parlamente in der Pandemie? Interview mit Petra Guasti und Sven T. Siefken

Foto: Deutscher Bundestag, Simone M. Neumann, https://bilddatenbank.bundestag.de/site/picture-detail?id=5001904.

“Parliaments in the Pandemic” (PiP) ist ein internationales Forschungsnetzwerk, das während der Corona-Pandemie begründet wurde. Sein Ziel ist es, zu untersuchen, wie Parlamente mit der Pandemie umgegangen sind und wie sie von ihr beeinflusst wurden. Zu diesem Zweck wurden detaillierte Daten über die Situation in 34 Parlamenten weltweit gesammelt, die nun ausgewertet werden. Anfang Oktober 2024 fand in Kiel der sechste wissenschaftliche Workshop des PiP-Vorhabens statt. Aus diesem Anlass sprach Jan Meyer mit Petra Guasti und Sven T. Siefken, die das Forschungsvorhaben koordinieren.

Was waren die größten Herausforderungen für die Parlamentsarbeit in der Pandemie – sowohl organisatorisch als auch inhaltlich betrachtet?

Siefken: Wie bei allen Organisationen ging es zunächst darum, die Arbeitsweise so anzupassen, dass die Infektionsgefahr reduziert und die neuen Abstandsregeln gewahrt wurden. Parlamente sind aber in ihrer Arbeitsweise gerade darauf angelegt, dass in ihnen eine große Zahl von Personen zusammenkommt, miteinander debattiert und Entscheidungen trifft. Das machte die Reaktion für Parlamente besonders schwierig. Und da es Aufgabe der Parlamente ist, die wesentlichen Dinge zu regeln, waren sie als Entscheidungsort besonders gefordert. In der Krise musste es schnell gehen – da stand zunächst die Regierung im Fokus. Viele sprachen von der „Stunde der Exekutive“. Es gab also eine zweifache Herausforderung, einen „doppelten Schock“: Die Parlamente mussten sich sowohl gegen die Pandemie selbst als auch gegen die Exekutive behaupten.

Guasti: Diese Herausforderungen lassen sich gut am Beispiel der Tschechischen Republik nachvollziehen: Während der Pandemie wurde die Tschechische Republik von der populistischen ANO-Partei regiert. Eine der größten Herausforderungen für das Parlament bestand darin, die effektive Kontrolle der Regierung zu gewährleisten. Dies war besonders in Bezug auf die Verlängerung des Ausnahmezustands schwierig, bei dem die oppositionellen Parteien gezwungen waren, sich zu verständigen, um eine wirksame Überwachung der Exekutive zu gewährleisten. Neben organisatorischen Hürden wie dem Wechsel zu digitalen Formaten und der Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments bestand die inhaltliche Herausforderung darin, dass grundlegende demokratische Prinzipien wie Transparenz, Kontrolle und Rechenschaftspflicht nicht beeinträchtigt werden sollten.

Wie haben Parlamente ihre Arbeitsweise an die organisatorischen Anforderungen Pandemie angepasst? Gibt es signifikante länderspezifische Unterschiede?

Guasti: Ja, die meisten Parlamente passten sich den pandemiebedingten Einschränkungen an, indem sie Maßnahmen wie Social Distancing, Maskentragen und regelmäßige Tests einführten. Nur Parlamente, die sich bereits auf dem Weg der Digitalisierung befanden, integrierten digitale Arbeitsmöglichkeiten umfassend. So war etwa das Europäische Parlament in der Anpassung der Arbeitsweise besonders agil. Digitale Abstimmungen im Plenum blieben allerdings insgesamt eine Seltenheit, wer sie schon vorher nutzte, tat dies auch in der Pandemie. In vielen Ländern wurde aber auf hybride oder vollständig virtuelle Ausschusssitzungen umgestellt, so auch in Deutschland. Dabei zeigten einige Parlamente mehr Flexibilität als andere. So gab es signifikante länderspezifische Unterschiede, die vom jeweiligen technischen Stand und der rechtlichen Bereitschaft abhingen, digitale Prozesse in der parlamentarischen Arbeit zu verankern.

Siefken: Die Pandemie führte nicht zu schlagartigen Veränderungen, aber sie beschleunigte gewisse Entwicklungen, die ohnehin bereits begonnen hatten. Zu beachten ist auch, dass viele Parlamente erst einmal die rechtlichen Grundlagen für ihre eigene Arbeit unter den neuen Bedingungen anpassen mussten. Teilweise waren Entscheidungsverfahren in der Verfassung verankert, manchmal in einfachen Gesetzen, oft in Geschäftsordnungen. Die mussten aber zunächst teilweise verändert werden, damit man überhaupt handeln konnte. Insofern waren die Reaktionen keineswegs nur technischer, sondern auch rechtlicher Natur. Daraus kann man für die Vorbereitung auf neue Krisen viel lernen.

In der Pandemie wurden weitreichende Maßnahmen beschlossen: Neben den Infektionsschutzmaßnahmen, die in den Verdacht geraten sind, persönliche Freiheiten einzuschränken, wurden immense Summen zur Stützung der Wirtschaft freigegeben. Waren die Parlamente in der Lage, diese Entscheidungen mit der entsprechenden Sorgfalt zu debattieren und zu beschließen?

Guasti: Das hing in erster Linie von der Größe der Regierungsmehrheit und der Konsensbereitschaft in Regierung und Parlament ab. Die Verfassungsgerichte fungierten oftmals als letzte Instanz zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen. Sie setzten klare Grenzen und bemühten sich, eine Balance zu finden zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, dem Überleben des Gesundheitssystems und der Erhaltung der demokratischen Grundsätze.

Siefken: In diesem Zusammenhang ist wichtig, was ganz allgemein gilt: Wer den Einfluss von Parlamenten auf politische Entscheidungen bewerten möchte, darf nicht nur auf das schauen, was im Parlamentsgebäude selbst abläuft. Häufig üben parlamentarische Akteure auch an früheren Stellen im Entscheidungsprozess bedeutsamen Einfluss aus. Das war in der Corona-Pandemie genauso. Solche Einflüsse zu messen und nachzuvollziehen fällt schwer, dazu bedarf es der Untersuchung im Einzelfall. Eine allgemeine Aussage, die für alle Parlamente gilt, kann man daher nicht treffen.

Inwiefern hat die Erfahrung der Pandemie die parlamentarischen Verfahren nachhaltig verändert? Gibt es Veränderungen in der Arbeitsweise, die auch nach der Pandemie beibehalten wurden?

Siefken: Ein echter transformativer Moment war die Pandemie für die Arbeitsweise der Parlamente nicht. Einige Dinge, wie die verstärkte Nutzung von Videokonferenzen in der internen Arbeit, haben sich etabliert. Auch in Ausschuss-Anhörungen ist diese Technik häufig als neuer Standard aufgenommen worden.

Guasti: Es gibt länderspezifische Unterschiede, aber die meisten Parlamente sind weitgehend zu ihrem vorpandemischen Zustand zurückgekehrt. In der Tschechischen Republik sind allerdings einige Veränderungen in der politischen Kultur zu beobachten – die Heftigkeit der parlamentarischen Debatten hat deutlich zugenommen. Diese Entwicklung ist jedoch weniger eine Folge der Pandemie als vielmehr Ausdruck der zunehmenden Polarisierung zwischen populistischer Opposition und der Regierungskoalition aus etablierten Parteien.

Die Pandemie gilt, wie Sie eingangs erwähnt haben, gemeinhin als eine „Stunde der Exekutive“. Wir groß waren in diesem Zusammenhang die länderspezifischen Unterschiede?

Guasti: Die Unterschiede zwischen den Ländern sind sehr ausgeprägt. Die Hauptfaktoren, die dabei eine Rolle spielten, sind das Regierungssystem (parlamentarisch oder präsidentiell), der Föderalismus, die Größe der Regierungsmehrheit sowie die politische Kultur. Diese Elemente beeinflussten, wie die Exekutive auf die Herausforderungen der Pandemie reagiert hat und inwieweit das Parlament in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurde.

Siefken: Wir haben auch festgestellt, dass der Konflikt im Parlament sich in vielen Ländern im Verlauf der Pandemie verändert hat. Oftmals wurde zu Beginn der Pandemie konstruktiv zwischen Mehrheit und Opposition zusammengearbeitet. Die Forschung spricht von einem „Rally-'round-the-Flag“-Effekt. Aber später wurde diese kooperative Grundorientierung oftmals aufgekündigt, stattdessen gab es mehr Politisierung und Auseinandersetzung. Dies hatte teilweise gravierende Effekte auf die Pandemiebekämpfung, aber auch auf das Demokratievertrauen.

Gibt es in der Gesamtschau besondere Faktoren, die zur Stärkung oder Schwächung der Parlamente in der Pandemie beigetragen haben?

Guasti: Ja, zusätzlich zu den oben genannten Faktoren können wir die Polarisierung, die Stärke populistischer Akteure in den Parlamenten und die Konsenskultur hervorheben. Diese Elemente haben entscheidend dazu beigetragen, wie Parlamente in verschiedenen Ländern gestärkt oder geschwächt wurden. In vielen Fällen führt eine erhöhte Polarisierung zu einer erschwerten Zusammenarbeit zwischen den politischen Fraktionen, während eine starke Konsenskultur dazu beitragen kann, parlamentarische Prozesse zu stabilisieren und effektive Entscheidungen zu ermöglichen.

Siefken: Insgesamt gilt: Dort wo Parlamente vor der Pandemie stark waren, konnten sie in der Pandemie ihren Einfluss erhalten. Wo Parlamente schon vorher geschwächt waren, bestand in der Pandemie eine größere Gefahr des Machtverlustes. So war es etwa in Ungarn, wo das Parlament dem Premierminister Orbán die Macht übertragen hat, per Dekret zu regieren. Das ist wenig überraschend – aber doch auch beruhigend zu sehen: gefestigte Demokratien waren am wenigsten gefährdet. Interessant ist es aber auch, dass einige Parlamente es während der lang andauernden Krise schafften, ihre Bedeutung zu stärken, etwa in Südafrika.

Sind denn insgesamt die Parlamente gegenüber der Exekutive stärker oder schwächer als vor der Pandemie? Gibt es signifikante länderspezifische Unterschiede?

Guasti: Insgesamt sind die Parlamente schwächer, jedoch ist diese Schwäche nicht primär eine Folge der Pandemie, sondern resultiert vielmehr aus der zunehmenden Polarisierung und der stärkeren Präsenz populistischer Akteure. Während einige Parlamente versucht haben, ihre Rolle zu stärken, haben die genannten Faktoren oft zu einer Erosion parlamentarischer Macht geführt. Es gibt zwar länderspezifische Unterschiede, doch die generelle Tendenz zeigt, dass die Herausforderungen durch die Polarisierung die Möglichkeiten der Parlamente, wirksam zu agieren, erheblich beeinträchtigen.

Siefken: Aber natürlich gilt auch hier, dass es auf den Einzelfall ankommt und eine pauschale Bewertung über „die Parlamente der Welt“ nicht möglich ist. Einige sind stark, andere sind schwach, wiederum andere sind eine reine Showveranstaltung und liefern allenfalls eine Fassade von Demokratie.

Es gab reichlich Kritik an Arbeit der Regierung. Haben sich länderübergreifend Kritiken an der Parlamentsarbeit herauskristallisiert?

Guasti: Eine allgemeine Kritik, die sich länderübergreifend herauskristallisiert hat – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – betrifft die parlamentarische Kontrolle und deren Effektivität. Viele Parlamente sehen sich zudem Kritik ausgesetzt, weil sie in der Digitalisierung ihrer Prozesse weiterhin zu langsam voranschreiten. Diese Defizite haben das Vertrauen in die parlamentarische Arbeit beeinträchtigt und Fragen zur Fähigkeit der Parlamente aufgeworfen, zeitgemäße Herausforderungen effektiv zu bewältigen. In Deutschland sind ähnliche Themen präsent, wobei die Diskussion über die Digitalisierung und die Rolle der Abgeordneten in Krisenzeiten besonders im Fokus steht.

Siefken: In der Tat stehen vor allem Regierungen im Fokus der Kritik und weniger die Parlamente, wenn es um die Corona-Maßnahmen geht. Das liegt daran, dass in den meisten Ländern tatsächlich exekutive Entscheidungen getroffen wurden. Parlamente werden teilweise dafür kritisiert, dass sie sich nicht ausreichend in die Entscheidungsfindung eingebracht haben.

Inwiefern haben Parlamente zur öffentlichen Legitimierung staatlichen Handelns in der Pandemie beigetragen?

Guasti: Parlamente haben erheblich zur öffentlichen Legitimierung staatlichen Handelns in der Pandemie beigetragen, doch ihre Kommunikation dieser Rolle war eingeschränkt, da Regierung und Parteien dominierend waren. Oft wurde der Eindruck vermittelt, dass die Entscheidungen primär von der Exekutive getroffen wurden, wodurch die Parlamente weniger sichtbar waren. In vielen Fällen fanden zwar Diskussionen und Debatten statt, jedoch gelang es den Parlamenten nicht immer, ihre Bedeutung und ihren Einfluss auf die Maßnahmen und Entscheidungen ausreichend zu kommunizieren. Dies führte zu einer geringeren Wahrnehmung ihrer Rolle in der Öffentlichkeit und zu einer möglichen Entfremdung von den Menschen.

Siefken: Das sehe ich genauso. Die Vermittlung von Legitimation ist eine zentrale Aufgabe von Parlamenten. Und in der Corona-Zeit ist es in den meisten Ländern nicht gelungen, parlamentarischen Einfluss klar zu kommunizieren. Das hat zu Legitimationsproblemen beigetragen.

In Deutschland wird weiterhin diskutiert, ob die Entscheidungen während der Pandemie parlamentarisch aufgearbeitet werden sollen. Haben in anderen Ländern bereits entsprechende Maßnahmen stattgefunden? Und wäre etwa eine parlamentarische Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie aus ihrer Perspektive sinnvoll?

Siefken: Es gibt da international ganz unterschiedliche Ansätze mit Untersuchungsausschüssen, Enquete-Kommissionen, Symposien, Regierungskommissionen und ähnlichem. Teilweise wurden diese bereits während der Corona-Pandemie eingesetzt, teilweise danach, und teilweise wird darüber noch – so wie in Deutschland – diskutiert. Nicht jeder Weg der parlamentarischen Aufarbeitung ist sinnvoll, aber wichtig ist es zweifelsohne, aus der Krise zu lernen, um so auf die nächste Krise besser vorbereitet zu sein. Das Projekt PiP will auch dazu einen Beitrag leisten.

Guasti: Die Diskussion über die parlamentarische Aufarbeitung der Pandemie ist aus meiner Sicht mehr eine Funktion des politischen Kampfes zwischen Regierung und Opposition im Kontext des populistischen Zeitgeists. Die Mehrheit der Akteure, die solche Maßnahmen fordert, sind Anti-Establishment-Populisten, die darauf abzielen, die Legitimität demokratischer Institutionen weiter zu untergraben. In Ländern wie Deutschland, Italien und der Tschechischen Republik kam es während der Pandemie zu einer spezifischen Form der populistischen Radikalisierung, bei der zuvor apolitische Anti-Impfgruppen sich populistischen Parteien anschlossen.

In anderen Ländern gibt es unterschiedliche Ansätze zur Aufarbeitung, jedoch sind sie oft von politischen Spannungen geprägt. Eine parlamentarische Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie könnte aus meiner Perspektive sinnvoll sein, wenn sie dazu beiträgt, Lehren zu ziehen und die zukünftige Krisenbewältigung zu verbessern, anstatt als politisches Instrument im Machtkampf zu fungieren. Aus meiner Sicht sollten wir den Fokus auf die Vorbereitung für die nächste Krise und die Digitalisierung legen.


Die Fragen stellte Jan Meyer.

DOI: 10.36206/IV24.5
CC-BY-NC-SA
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Repräsentation und Parlamentarismus

Weiterführende Links

Parliaments in the Pandemic

Research Committee of Legislative Specialists. International Political Science Association RC08
 

Institut für Parlamentarismusforschung (IParl)

 

SYRI

National Institute for Research on Socioeconomic Impacts of Diseases and Systemic Risks