Black Lives Matter. Ein Anriss
Mit dieser Zusammenstellung einiger weniger Kurzanalysen und dem Hinweis auf ein Interview mit Barack Obama wird auf die prekäre Situation der Afroamerikaner*innen verwiesen – aktuell festgemacht an der Graswurzelbewegung Black Lives Matter. Der Präsident hat zwar allein durch seine Person für die Nöte dieses Teils der Bevölkerung sensibilisiert. Es sei aber nicht zu erwarten gewesen, schreibt Ta-Nehisi Coates, dass er die Menschen in ein postrassistisches Amerika würde führen können.
Die Graswurzelbewegung in ihrem Kontext
Mit dieser Zusammenstellung einiger weniger Kurzanalysen und dem Hinweis auf ein Interview, das Barack Obama dem Publizisten Ta-Nehisi Coates gegeben hat, wird die prekäre Situation der Afroamerikaner*innen angerissen – ihre Geschichte, von der Sklaverei über die Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert bis hin zur aktuellen Graswurzelbewegung Black Lives Matter, füllt mittlerweile ganze Bibliotheken.
Einen guten Überblick über diese Bewegung vermittelt Fabian Wolff in seinem Artikel „Black Lives Matter. Im Würgegriff des staatlichen Rassismus“, den er auf Zeit Online veröffentlicht hat: Am Anfang stand 2013 ein Facebook-Post der Aktivistin Alicia Garza, die ihren schwarzen Freund*innen versicherte, dass auch ihre Leben wert seien – obwohl gerade George Zimmerman freigesprochen worden war, der in Florida grundlos den schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin erschossen hatte. Aus Black Lives Matter ist seitdem eine Graswurzelbewegung geworden, die immer wieder gegen die Polizeigewalt gegen Menschen mit schwarzer Hautfarbe demonstriert.
Diese Polizeigewalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der afroamerikanischen Community, seit Generationen führen Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern „The Talk“, um sie gegenüber der Polizei zu einem Verhalten zu ermuntern, das ihr Leben schützt. Selbst der damals unter Obama amtierende Justizminister Eric Holder sah sich genötigt, mit seinem Sohn dieses Gespräch zu führen.
Die Juristin Michelle Alexander argumentiert, dass nicht allein die willkürliche Polizeigewalt gegen schwarze Menschen problematisch sei, sondern auch ein Strafrecht, das gezielt zur Repression eingesetzt werde. Die USA seien auf dem Weg zurück in eine Zeit, in der Gesetze gezielt auf eine Minderheit zugeschnitten würden. Der Soziologe William Julius Wilson stellt die Problematik außerdem in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext und verweist auf die Tatsache, dass die meisten schwarzen Todesopfer nicht der Polizeigewalt geschuldet seien, sondern Opfer der Kriminalität in ihren eigenen großstädtischen Wohnvierteln würden, in denen Armut und Perspektivlosigkeit vorherrsche. Als entscheidenden Schritt zur Lösung der andauernden Diskriminierung der Afroamerikaner*innen benennt Obama etwas eigentlich Selbstverständliches: die Respektierung des Anderen in seiner menschlichen Würde.
Die Beiträge sind in aufsteigender Chronologie sortiert.
Franke-Ruta
Listening In on 'The Talk': What Eric Holder Told His Son About Trayvon
The Atlantic, 16. Juli 2013
Schlicht „The Talk“ nennt sich in den USA das Gespräch, das afroamerikanische Eltern mit ihren Kindern führen, um sie für ein ihr Leben schützendes Verhalten für den Fall zu sensibilisieren, sollten sie ohne eigenes Verschulden von der Polizei angehalten werden. In diesen Beitrag wird berichtet, dass sogar der amtierende US-amerikanische Justizminister Eric Holder dieses Gespräch mit seinem halbwüchsigen Sohn geführt hat. Aktueller Anlass war die Erschießung von Trayvon Martin, der 2012 grundlos von einem sogenannten Nachbarschaftswachmann getötet worden war. Dieser wurde anschließend zudem freigesprochen. Der Justizminister verhehlt nicht seine Enttäuschung, dass er nun dieses Gespräch zum Schutz seines Sohnes führen musste, so wie viele Jahre zuvor sein Vater mit ihm.
Ta-Nehisi Coates
Barack Obama, Ferguson, and the Evidence of Things Unsaid. Violence works. Nonviolence does too
The Atlantic, 26. November 2014
„If I had a son, he'd look like Trayvon“, zitiert der Publizist Ta-Nehisi Coates US-Präsident Barack Obama in seiner Reaktion auf die Tötung Trayon Martins und den Freispruch des Täters. In seiner Rede habe Obama zudem auf das tiefe Misstrauen zwischen der Polizei und der afroamerikanischen Bevölkerung hingewiesen und eine bessere Polizeiarbeit angemahnt. Diese gemäßigte Haltung sei aufrichtig und werde auch gehört, Tatsache sei aber, dass er eben Präsident eines Landes sei, das von tiefer Ungerechtigkeit gegenüber den Afroamerikaner*innen geprägt sei. Seine Rede zu hören, in der er gleichzeitig als Präsident und als Afroamerikaner gesprochen habe, sei deshalb quälend gewesen – aber es sei nie zu erwarten gewesen, dass er die Menschen würde in ein postrassistisches Amerika führen können.
Michelle Alexander
Roots of Today’s Mass Incarceration Crisis Date to Slavery, Jim Crow
Democracy Now, 4. März 2015
In diesem Interview spricht die Juristin Michelle Alexander, die das Buch „The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness”, veröffentlicht hat, über die fortgesetzte strafrechtliche Repression der armen afroamerikanischen Bevölkerung – ursprünglich wurde mit Jim Crow das Stereotyp des dummen, tanzenden Schwarzen bezeichnet, dann wurde der Begriff von den Afroamerikaner*innen kritisch übernommen, um mit dem Begriff Jim-Crow-Gesetze ihre juristische Diskriminierung zu beschreiben. Alexander verweist unter anderem darauf, dass weiße junge Menschen, die bei geringfügigen Straftaten erwischt würden, trotzdem ihren Lebensweg fortsetzen und ein College besuchen könnten; armen, jungen Afroamerikanern koste jede Verfehlung quasi ihr Leben.
William Julius Wilson
The other side of Black Lives Matter
Brookings Institution, 14. Dezember 2015
Der Soziologe William Julius Wilson erinnert eindringlich daran, dass das Leben vor allem junger Afroamerikaner in vielfacher Hinsicht gefährdet ist – nicht nur durch Polizeigewalt, sondern auch die hohe Kriminalität in armen städtischen Wohnvierteln. Die gesamte Gesellschaft sei aufgefordert, diese Entwicklung nicht weiter zu ignorieren, sondern aktiv dagegen tätig zu werden.
Fabian Wolff
Black Lives Matter. Im Würgegriff des staatlichen Rassismus
Zeit Online, 13. Juli 2016
„BLM, so die gängige Abkürzung, wurde vor genau drei Jahren geboren, am 13. Juli 2013. Als George Zimmerman in Florida des Mordes an Trayvon Martin freigesprochen wird, reagiert die Aktivistin Alicia Garza darauf mit einem Facebook-Post: Sie will ihren schwarzen Freunden versichern, dass ‚unsere Leben etwas bedeuten‘. Zusammen mit Patrisse Cullors und Opal Tometi gründet sie die Organisation mit dem Hashtag #blacklivesmatter.“ Fabian Wolff rekapituliert die Entstehungsgeschichte der Grassroots-Bewegung Black Lives Matter und stellt ihre Anliegen vor dem Hintergrund einer Gesellschaft vor, in der Afroamerikaner praktisch jederzeit mit Polizeigewalt gegen sie rechnen müssen.
Hannah Winnick
„Ein stummer Krieg gegen Afroamerikaner“: Die USA nach Baton Rouge und Dallas
Heinrich-Böll-Stiftung, 20. Juli 2016
Der Beitrag ist Teil des US-Wahlkampfblog Route 16, die Autorin fasst die jüngsten tödlichen Vorfälle und die Debatte über Polizeigewalt zusammen. Außerdem wird auf Stellungnahmen der Kandidaten Hillary Clinton und Donald Trump verwiesen.
Ta-Nehisi Coates
'It’s What We Do More Than What We Say': Obama on Race, Identity, and the Way Forward. The third in a series of conversations between the president and Ta-Nehisi Coates
The Atlantic, 22. Dezember 2016
„Ta-Nehisi Coates: […]„You could have been one of these rootless cosmopolitans working on some other issues. Barack Obama: Right.” – Diese Antwort spiegelt nicht nur kurz und knapp seine Einstellung zur Politik, sondern auch, dass er sich nicht als afroamerikanischer Präsident verstanden hat, sondern als der aller Amerikaner*innen. „Race“ versteht Obama explizit als soziales Konstrukt, woraus sich für ihn der Ansatz für eine gestaltende Politik ergibt. Die „Wurzellosigkeit“ lässt Obama im Verlauf des Gesprächs dann aber doch nicht stehen: Habe er als Junge zunächst gedacht, dass das Schwarzsein cool sei, seien ihm dann doch die vielfältigen Diskriminierungen bewusst geworden und er habe angefangen, sich gezielt zu engagieren. Er reflektiert seinen eigenen politischen Werdegang im Kontext von race und verdeutlicht, dass er von angeordneten Dialogen über Diskriminierung wenig erwarte. Vielmehr komme es in der Politik wie im Alltag darauf an, den jeweils Anderen als Menschen zu respektieren.
Außen- und Sicherheitspolitik
Website von
Black Lives Matter
Literatur
Michael Butter / Astrid Franke / Horst Tonn (Hg.)
Von Selma bis Ferguson – Rasse und Rassismus in den USA
Bielefeld, Transcript Verlag 2016
Patrisse Khan-Cullors / Asha Bandele
When They Call You a Terrorist: A Black Lives Matter Memoir
New York, St. Martin's Press 2018
Christopher J. Lebron
The making of Black lives matter. A brief history of an idea
New York, Oxford University Press 2017
Aus der Annotierten Bibliografie
Selbstverständnis versus Wirklichkeit. Die US-Gesellschaft und ihre politische Kultur in Kurzrezensionen
In seinem Buch „Der Mythos Amerika“ beschreibt Manfred Henningsen einen Amerikanismus, der weder „die Zerstörung der indianischen Lebenswelten“ noch die Institution der Sklaverei und den Rassismus als Erblast anerkenne. Damit verstellten sich die Bürgerinnen und Bürger selbst bis heute den ehrlichen Blick auf das eigene Land und lebten mit einer „Diskrepanz zwischen symbolischem Selbstverständnis und gesellschaftlicher Wirklichkeit.“ Wie ein Blick auf die erschienene Literatur zeigt, ist diese gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächlich geprägt von großer Ungleichheit – nicht nur, aber vor allem zu Lasten der afroamerikanischen Bevölkerung.
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