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Rezension / 28.05.2018

Michail Logvinov: Das Radikalisierungsparadigma. Eine analytische Sackgasse der Terrorismusbekämpfung?

Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018 (essentials)

Die Erforschung des Terrorismus befindet sich nach Ansicht von Michail Logvinov seit 9/11 auf einem Irrweg. Er kritisiert vor allem, dass der Ideologie der Täter eine unangemessen hohe Bedeutung zugeschrieben wird. Damit widerspricht er einem naiv-linearen Verständnis des Radikalisierungsprozesses und stellt stattdessen Erinnerungsfiguren heraus, auf die sich die verschiedenen islamistischen Strömungen gemeinsam beziehen. Neben diesen kulturellen Aspekten hebt Logvinov in seinem ausführlichen Essay vor allem die Bedeutung sozioökonomischer Motive für eine Radikalisierung hervor.

Michail Logvinovs Essay – bei 44 Seiten fällt es schwer, von einem Buch zu sprechen – fordert nichts weniger als einen neuen beziehungsweise die Rückkehr zu einem multifaktoriellen Ansatz in der Terrorismusforschung. Der Autor attestiert, dass sich die Erforschung des Phänomens seit 9/11 auf einem Irrweg befinde und der Ideologie der Täter eine unangemessen hohe Bedeutung zugeschrieben werde, während weitere soziopolitische Faktoren in den Hintergrund getreten seien. „[Ü]ber Ursachen des Terrorismus zu diskutieren, war angesichts des erlittenen Traumas unangebracht. […] Terroristen mutierten in der öffentlichen Meinung zu Wahnsinnigen und der Terrorismus zur Manifestation des grundlos Bösen.“ (4) Auch die Forschungsgemeinde habe in der Folge immer mehr versucht, den Terrorismus über das Verstehen der Handelnden anstatt über die politischen Zusammenhänge zu erklären: „Ende 2005 wurde das Radikalisierungsparadigma endgültig zum ‚heiligen Gral‘ der Terrorismusbekämpfung“ (4). Politische und ökonomische Analysen seien dabei immer mehr in den Hintergrund getreten und der Salafismus als Durchlauferhitzer des radikalen Islamismus ausgemacht worden. Logvinov spricht zugespitzt von einer „Salafisierung des islamischen Terrorismus“ (6), die in Wahrheit ein „analytisches Placebo“ (33) darstelle.

Die Schwäche dieses Paradigmas sei spätestens mit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 deutlich geworden. Bei den Untersuchungen zeigte sich, dass der unter Beobachtung stehende Täter Anis Amri seitens der Sicherheitsbehörden als ungefährlich eingestuft worden war, da in den Monaten vor der Tat sein „religiöses Verhalten“ (6) in den Hintergrund getreten sei und er immer seltener seine Moscheegemeinde besucht habe. Diesen ganz offensichtlichen Fehleinschätzungen stellt Longvinov die Erkenntnis gegenüber, dass sich schon länger ein neuer Typus des Dschihadisten herausgebildet hat. Zeichneten sich diese zuvor durch ein offensives Zurschaustellen ihrer (neuen) religiösen Überzeugungen aus, seien sie nun eher als introvertiert und konspirativ zu beschreiben.

Der Autor spricht sich gegen ein einfaches Verständnis von Radikalität aus. Unterschieden werden müsse zwischen ideologischer und konativer (tatsächlicher) Radikalität sowie die Frage gestellt werden, ob sich eine konative Radikalität „ad extra“ (auf Aktionen im Ausland – Ausreise zum IS usw.) und/oder „ad intra“ (als homegrown terrorism) zeige. Die Erforschung des Phänomens Radikalisierung mit seinen verschiedenen Facetten sei allerdings einer „Versicherheitlichung“ (7) zum Opfer gefallen, die den Blick in erster Linie auf die Relevanz der Terrorismusbekämpfung gelenkt habe: „Über den Radikalisierungsbegriff fand in der Terrorismusforschung eine Verzahnung des religiösen Fundamentalismus bzw. Radikalismus mit politischer Gewalt statt. [..,] obwohl Gewalt bekanntlich nur ein Modus Operandi radikaler Subgruppen darstellt und in der Regel aus komplexen Interaktionen zwischen Innen- und Außenwelt resultiert.“ (8)

Dabei richtet sich Logvinovs Hauptkritik zu Recht auf ein naiv-lineares Verständnis der Radikalisierungsprozesse, wonach die „Entwicklung radikaler Ideen […] mit einer emotionalen Diskussion unter Freunden“ (12) beginne. Auffällig sei vielmehr, dass sich sowohl Salafisten als auch Terroristen/Dschihadisten derselben Erinnerungsfiguren aus dem islamischen kulturellen Gedächtnis bedienten. Diese spiegelten also verwandte, aber nicht deckungsgleiche Spielarten des Islam. „Der zeitgenössische Dschihadismus nimmt Bezug auf ein spezifisches kulturelles und religiöses Ideengut, mobilisiert und transformiert den tradierten Wissensvorrat; er befindet sich somit im Kampf um Deutungshoheit sowie um Köpfe und Herzen der Muslime.“ (24) Führenden Köpfen der salafistischen Bewegung werde dabei immer wieder von Vertretern des Dschihadismus vorgeworfen, faul oder feige zu sein und der prophetischen Tradition nicht wahrheitsgemäß zu folgen. In einem kurzen Rückgriff auf die frühislamische Geschichte, deren Bezüge dem Leser allerdings nur klar werden, wenn er mit der Materie näher vertraut ist, kommt Logvinov zu dem richtigen Schluss, dass der moderne Dschihadismus mehr Überschneidungen mit den historischen Kharidschiten als mit modernen Salafisten hat. Da diese Gruppe schon im frühen Islam den Ruf einer wahnsinnigen Mörderbande hatte, dient der Vorwurf des Kharidschismus seitens der traditionalen islamischen Rechtsgelehrten seit der Gründung der Muslimbruderschaft als nomen odiosum für viele Arten islamistischer Gruppierungen.

Vor diesem Hintergrund wirft der Autor die interessante Frage auf, ob der ideologisch (aber nicht konativ) radikale Salafismus als „Bollwerk“ (17) gegen den aktiv-radikalen Dschihadismus verstanden werden könne. „Der ‚Nährboden‘ des Dschihadismus ist nicht der Salafismus, sondern zweierlei: die (religiös umgedeuteten) Kriege in Ländern mit muslimischer Bevölkerung und/oder der ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ als vermeintlicher ‚Krieg gegen den Islam‘ sowie die islamischen Traditionen respektive Handlungsskripte, auf die die Dschihadisten im Rahmen ihrer mit Koranversen und Aussprüchen des Propheten unterlegten Gewalttheologie zurückgreifen.“ (22)

Die aktuelle Radikalisierungsforschung, so Logvinov, sei „nicht imstande, prospektiv aufzuzeigen, unter welchen Umständen gefährdete Personen gefährlich werden.“ (33) Notwendig sei ein Ansatz, der die verschiedenen Motivationen einer Radikalisierung – auch die soziopolitischen – einbeziehe: „Je zahlreicher und intensiver konfessionell gefärbte kriegerische Auseinandersetzungen bzw. die Unterdrückung der Muslime, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich radikalisierte Gruppen herausbilden.“ (31)

In weiten Teilen ist Logvinovs Argumentation schlüssig, schießt aber bisweilen über das Ziel hinaus. In seinem Bestreben, soziopolitische Betrachtungen in der Terrorismusforschung zu verteidigen, läuft er Gefahr, die ideologischen Faktoren zu marginalisieren. Zudem sind im politischen De-Radikalisierungsdiskurs vor allem soziopolitische und ökonomische Faktoren zentral und werden daher mitnichten ignoriert. Im Gegenteil: Hier wird die Ideologie ignoriert oder naiv simplifiziert („Das ist nicht der wahre Islam“). Um einen sinnvollen Ansatz zu entwickeln, müssen indes soziopolitische und ideologische Aspekte als sich gegenseitig verstärkende Faktoren begriffen werden.

 

CC-BY-NC-SA
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