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Rezension / 23.10.2017

Hendrik Hansen / Barbara Zehnpfennig (Hrsg.): Die Prägung von Mentalität und politischem Denken durch die Erfahrung totalitärer Herrschaft

Baden-Baden, Nomos 2016 (Andrassy-Studien zur Europaforschung 2)

Lassen sich aus der Verknüpfung von Totalitarismustheorie und der Erforschung der Transformation Erklärungen für den heutigen Zustand der postsozialistischen Länder gewinnen? Wie tot ist der Kommunismus? Warum erstarken rechtsradikale Strömungen? In den Beiträgen dieses Bandes werden die Schwierigkeiten der empirischen Messung von Mentalität problematisiert, entsprechende Versuche dennoch unternommen und aufgezeigt, mit welchen Folgen die fehlende Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit auf Untertanengeist und soziales Misstrauen trifft.

Erkenntnisse aus Totalitarismustheorie und Transformationsforschung

Bislang haben Totalitarismustheorie und Transformationsforschung „weitgehend beziehungslos nebeneinander“ (12) gestanden, konstatieren Hendrik Hansen und Barbara Zehnpfennig einleitend und stellen sich mit diesem Band der Aufgabe, beides zu verbinden – um eine durchaus naheliegende Frage zu beantworten: Ob und wie wirken sich die „Prägung des politischen Denkens und der Mentalität durch die totalitäre Ideologie des Marxismus-Leninismus“ und die Erfahrungen im Sozialismus „auf das Verständnis der freiheitlichen Demokratie und das Selbstverständnis als Bürger in der Zeit nach der Revolution von 1989 bis heute“ (11 f.) aus? Nun zeigt sich in den Beiträgen schnell, dass es eine einfache Antwort nicht gibt, da nicht nur die Messung der mentalen Auswirkungen einer Ideologie ein schwieriges Unterfangen ist, sondern auch nach anderen Faktoren Ausschau zu halten ist.

Diese komplexe Gemengelage spiegelt sich in den drei Schwerpunkten des Bandes: Zunächst wird „die Rolle der Ideologie in totalitären Systemen“ untersucht, dann die „methodischen Fragen der empirischen Untersuchung von Mentalitäten und politischem Denken“ erörtert und schließlich nach der „Prägung der Menschen durch totalitäre Systeme sowie [nach der] Persistenz und Veränderung dieser Prägung im Transformationsprozess“ (13) gefragt. Nicht alle Beiträge erscheinen an dieser Stelle erstmals. Den Auftakt gestaltet ein Schriftsteller: Helmuth Frauendorfer schildert die Versuche, sich im sozialistischen Rumänien den Anmaßungen des Regimes, das geliebt sein wollte, zu erwehren. Und er erzählt von der Unmöglichkeit, im Sozialismus ohne Schaden für sich selbst und andere leben zu können. Eine „Weichspülung totalitärer Vergangenheit“ (42) kann daher nur unzulässig sein.

Der „neue Mensch“: gleich, nicht frei

Im ersten Kapitel „Totalitäre Ideologie, Mentalität und politisches Denken“ wird in fünf Beiträgen das geistige Terrain abgeschritten. Hendrik Hansen erdet das „Endziel“ der marxistisch-leninistischen Ideologie – „der neue Mensch“ (48) – als Konstrukt, mit dem die Freiheit des Einzelnen abgeschafft wird: „Erstens soll der sozialistische Mensch sich als Teil des gesellschaftlichen Kollektivs und nicht als Individuum verstehen.“ (63) „Zweitens verwirklicht sich der Mensch als Gattungswesen (also als Element des Kollektivs) in der Arbeit.“ (64) Der totalitäre Anspruch bestehe darin, dass der Mensch nicht nur dazu erzogen werden solle zu gehorchen, „er soll sich mit Begeisterung den Zielen des Sozialismus unterwerfen“ (67). Hansen hebt hervor, dass mit dieser Ideologie der Mensch auf die Ökonomie reduziert wird, den Klassenfeind hat er zu hassen. Barbara Zehnpfennig erläutert in ihrem Beitrag die Konsequenzen aus diesem Denken, das keine Trennung zwischen Politik und Gesellschaft kennt: Die Wahrheit sei bereits gefunden, alle grundlegenden Fragen seien geklärt – „der Horizont ist abgeschlossen“ (73). Angesichts dieser Bestandsaufnahme lässt sich dann benennen, was für die Fragestellung des Bandes von Bedeutung ist: Beide Systeme, das westlich-kapitalistische wie das östlich-sozialistische, stehen sich bei Wahrnehmung und Bewertung eines Phänomens konträr gegenüber: „Pluralität ist in dem einen System Motor und letztlich auch wieder Ziel, in dem anderen Störfaktor und damit Gefährdung der Verwirklichung des Ziels.“ (74)

Die konkreten Erfahrungen der DDR-Bürger*innen seien allerdings ambivalent, meint Zehnpfennig: Die Politik war verlogen, das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen Misere blieb aber – auch dank westlicher Kredite und dann der Wiedervereinigung – verborgen, eine unabhängige Justiz war unbekannt. Unterm Strich sei es deshalb der sozialistischen Prägung geschuldet, dass sich nach der Wiedervereinigung das Streben nach Wohlstand so schnell in den Vordergrund geschoben habe, „obwohl die größte Errungenschaft der Einheit doch wohl die Freiheit war“ (85).

Lässt sich eine Mentalität empirisch nachweisen?

Eckhard Jesse und Tom Mannewitz sind dagegen sehr vorsichtig in ihren Schlussfolgerungen für eine mentale Prägung: „Die Datenlage ist schlecht, die Anzahl an intervenierenden Variablen hoch, die Zahl an Untersuchungsfällen hingegen gering.“ Bei aller Vorsicht aber lege der vergleichende Blick auf Nationalsozialismus und DDR nahe, „die totalitäre Erfahrung begünstige politische Passivität wie Autoritätsgläubigkeit und damit das, was Almond und Verba als politische Untertanengesinnung bezeichnet haben“ (103). Diese sei gepaart mit politischer Apathie und sozialem Misstrauen. Die beiden Autoren weisen zudem auf eine weitere Prägung hin, die bislang nicht beleuchtet worden sei: „die Einprägung dualistischer Denkschemata, wie sie sich etwa in moralischen Gegensatzpaaren (gut – böse; Freund – Feind) manifestieren“ (104).

Tilman Mayer nimmt diesen Faden auf und verweist unter Berufung auf Christoph Kleßmann auf autoritäre Verhaltensweisen und eine signifikant höhere Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, eine höhere Anfälligkeit für den Rechtsradikalismus und eine größere Wertschätzung von sozialer Sicherheit. Kurzum: „Die lange Prägung durch das repressive DDR-Regime hat in einem Sozialisationsprozess zu einer spezifischen DDR-Mentalität geführt, die als Disposition bis heute nachwirkt – auch im vorpolitischen Raum, etwa im Bereich Familie und Erziehung.“ (120) Das pauschale Urteil relativierend, nennt Mayer drei Gruppen, in die sich die Ostdeutschen aufteilten: die „Merkel-Deutschen“, die sich in Gesamtdeutschland erfolgreich einbrächten, die „Gysi-Deutschen“, die eine „gesinnungsethische Persistenz“ an den Tag legten, sowie die „Opfer und Dissidenten“ (121), die ihren Weg völlig neu hätten finden müssen.

Dass allerdings die Zweifel von Jesse und Mannewitz an derlei „Gewissheiten“ bedenkenswert sind, zeigen die beiden Beiträge zu den methodischen Ansätzen. Auch Gert Pickel ist der Ansicht, dass sich der Einfluss der vergangenen totalitären Regime nur schwer empirisch fassen lässt. Zudem dürfte für „die aktuellen Haltungen zum demokratischen System im Land [...] die sozioökonomische Lage, insbesondere im individuellen Vergleich zur näheren Umwelt, wichtiger sein als diffuse, einst angenommene Werte aus vergangener Zeit“ (178).

Das Nachleben von DDR-Erfahrungen

Das Blickfeld bleibt in den weiteren Beiträgen zunächst aber auf das eigentliche Thema – Totalitarismus und Transformation – eingegrenzt. Ingrid Kerz-Rühling schließt mit ihrem Beitrag über die Folgen der DDR-Krippenerziehung für die Persönlichkeitsentwicklung und den späteren Umgang mit den eigenen Kindern an die Betrachtungen von Zehnpfennig und Mayer an. Wichtiges Untersuchungsergebnis ist hier, dass „die Krippenkinder als Erwachsene oft Schwierigkeiten [haben], sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen und Konflikte offen auszutragen“ (200). Maya Böhm thematisiert anschließend eine transgenerationale Traumatisierung von Kindern, deren Eltern aus politischen Gründen inhaftiert waren. Für die Gegenseite stellt Elisabeth Martin Untertanengeist, strikte Befehlshierarchien und übermäßigen Alkoholkonsum im Kreis der Wärter und Vernehmer in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen heraus. Diejenigen, die sie interviewte, verteidigen das System heute noch – es sei ein menschliches Phänomen, schreibt die Autorin, die eigene Biografie möglichst nicht infrage stellen zu wollen.

Die Vergangenheit reicht weiter zurück

Angesichts neuer Autoritarismen und hybrider Regime in Ost- und Mitteleuropa (Beitrag von Ellen Bos) und der Propagierung einer „illiberalen Demokratie“ in Ungarn (Beitrag von József Bayer) wird schließlich die Frage aufgeworfen, ob mit der Sozialisation im Sozialismus die aktuellen Entwicklungen vielleicht doch nur anteilig erklärt werden können. Zwar zählten zu den „‚leninist legacies‘“ (251) ein starker Nationalismus, das Fehlen einer Kultur des Kompromisses, eine ausgeprägte Orientierung an Führerfiguren, Zynismus und Misstrauen gegenüber politischen Institutionen, ein tiefsitzender Egalitarismus und ein Mangel an Eigeninitiative. Aber nicht alle postsozialistischen Länder haben vor diesem Hintergrund die gleiche Entwicklung genommen. Als eine weitere wichtige Determinante entschlüsselt Bos über die geografische Lage eines Landes die (kulturelle und historische) Nähe zu Westeuropa. Diese begünstigt nach Befunden von Freedom House die Demokratisierung. „Historische Legacies aus der Zeit vor dem Sozialismus scheinen stärker zu wiegen als der Postsozialismus, der das verbindende Element der Staaten der Region Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa darstellt.“ (250) Auch die „politische Konditionalität der EU“ (254) zähle zu den einflussreichen Faktoren.

Aufgeworfen werden könnte damit die Frage, ob sich die verschiedenen Vermächtnisse, von denen Bos schreibt, synchronisiert haben. Dieser Gedanke drängt sich mit dem Beitrag von Bayer auf, der sich mit dem anschwellenden Rechtsextremismus/Rechtsradikalismus insbesondere in Ungarn beschäftigt. Erklärungen dafür würden vorzugsweise in einer wiederhergestellten Kontinuität der politischen Kultur und/oder in der Wirtschaftskrise gesehen. Ähnlich wie zuvor in der DDR konstatiert Bayer für Ungarn dabei bis in die Gegenwart eine starke Abwehr jeglicher Versuche, „die autoritäre und totalitäre Vergangenheit selbstkritisch aufzuarbeiten“ (259). Begünstigt durch den spezifischen ungarischen Nationalpopulismus, habe sich die neue Generation von Politikern sogar von den liberal-demokratischen Ideen abgewandt. Die aktuell propagierte „nationale Zusammenarbeit“ entspreche „eher einer rechtskonservativen staats-kooperativen Idee der Zwischenkriegszeit [...] als der Realität der heutigen europäischen Staatengemeinschaft“ (266). Ohne eine sozialökonomische Konsolidierung aber werde es keine politische geben, so Bayer. Und nur eine große Koalition demokratischer Parteien werde den weiteren Vormarsch der Rechtsradikalen aufhalten können.

Und der Kommunismus?

Der Band schließt mit einem Beitrag von Patrick Moreau über die kommunistische Bewegung im 21. Jahrhundert; vorgestellt wird eine Bestandsaufnahme, Wahlergebnisse eingeschlossen. Moreau unterscheidet traditionalistische Parteien (wie die Kommunistischen Parteien in Russland oder Griechenland), rot-grüne Modelle (vor allem in Skandinavien) sowie reform- oder postkommunistische Parteien (Podemos, Syriza, Linkspartei etc.). Im Fazit wird festgehalten, dass der Kommunismus „weder in Europa noch gar in der Welt tot ist“ (313). Aber er atmet schwer, könnte man sagen, haben ihm doch – so Moreau – nicht nur viele progressive Intellektuelle den Rücken gekehrt, sondern auch die Wähler, die zum Erstarken der nationalpopulistischen Rechten beitragen.

 

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