Eine Kooperation von Egoisten? Zur Informalität und inhaltlichen Erweiterung der G20
Da die Beschlüsse der G20 rechtlich nicht bindend seien, mangele es ihr an Autorität, konstatieren Kritiker. Andere Beobachter hingegen sehen in dem informellen Format eher Vorteile. Es ermögliche das kollektive Management internationaler Herausforderungen.
G20-Politik unter Trump
Gegenwärtig gibt es nur wenige Fragen der internationalen Politik, bei denen nicht sogleich nach der Rolle des US-Präsidenten Donald Trump gefragt wird. Auch die Vorbereitungen für den G20-Gipfel in Hamburg am 7. und 8. Juli 2017 werden von der Frage begleitet, welche Potenziale die G20-Gipfeldiplomatie unter den gegebenen Bedingungen bietet – diese stellt sich nach dem wenig erfolgreichen Verlauf des G7-Gipfels am 26. und 27. Mai 2017 in Taormina (Italien) mit aller Dringlichkeit. Einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung hatte es aber bereits schon im März 2017 gegeben: Während sich in Baden-Baden die G20-Finanzminister trafen, um über Wachstumsperspektiven der Weltwirtschaft zu sprechen, kam es zeitgleich in Washington zu einer ersten direkten Begegnung zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Donald Trump. Dieser nutzte die Gelegenheit, um für mehr Fairness in den bilateralen Handelsbeziehungen zu werben. Auch wenn Trump seinen Fairness-Begriff nicht im Detail darlegte, ist davon auszugehen, dass es ihm vor allem um die Idee der Gegenseitigkeit in den internationalen Beziehungen geht.
Gegenseitigkeit gilt in den internationalen Beziehungen als ein wichtiges Kooperationsprinzip. Robert O. Keohane stellte in den 1980er-Jahren fest: „[R]eciprocity ‚seems to be the most effective strategy for maintaining cooperation among egoists’” (zitiert in Keohane 1986, 2). Souveräne Staaten finden sich also zur Kooperation bereit, wenn diese auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht. Ein weiterer wesentlicher Faktor für die Kooperation ist die Einsicht in geteilte Interessen zwischen den egoistischen Akteuren, die am besten durch gemeinsame Anstrengungen verfolgt werden können. Bislang besteht der Eindruck, dass der Trump’sche Fairness-Begriff zwar den Aspekt der Gegenseitigkeit einfordert, aber den der geteilten Interessen in einem nur sehr geringen Maße adressiert. Erkennbar ist vielmehr eine Fairness-Ethik, wie sie von Erich Fromm kritisiert wurde. Bei dieser Art von Fairness besteht das Prinzip gerade nicht darin, sich für die Bedürfnisse anderer mitverantwortlich zu fühlen (Fromm 1998, 202).
Bereits das Treffen der G20-Finanzminister in Baden-Baden passte in dieses Bild. Die USA verhinderten nicht nur eine gemeinsame Linie der G20-Staaten im Hinblick auf die Klimapolitik. Auch ein bis dahin übliches Bekenntnis zum Freihandel findet sich in der Abschlusserklärung dieses Mal nicht. Da die einzelstaatlichen Interessen der Vereinigten Staaten eine weitergehende Einigung verhinderten, strebten die G20-Staaten als gemeinsames handelspolitisches Ziel zumindest für den Moment nicht viel mehr an als: „to strengthen the contribution of trade to our economies“.
Kritiker des Freihandels werden es begrüßen, dass die Regierung Trump die G20 auf diese Weise dazu zwingt, sich mit grundsätzlichen handelspolitischen Fragen zu befassen, die eigentlich längst beantwortet schienen. Zugleich bedeutet es, dass andere Themen, die von der Bundesregierung auf die Gipfelagenda gesetzt wurden, weniger Aufmerksamkeit erfahren dürften. So enthält das im Dezember 2016 veröffentlichte Papier, in dem die Bundesregierung die Schwerpunkte ihrer Präsidentschaft benennt, eine Reihe von Aspekten, die über den Kernbereich der G20-Aktivitäten hinausgehen. Neben der Zusammenarbeit in Finanz- und Wirtschaftsfragen werden in dem Dokument die Themen Klimaschutz, Gesundheit, Ernährungssicherheit, Gleichberechtigung, Verantwortung für Flucht und Migration sowie Terrorbekämpfung angeführt.
Die inhaltliche Erweiterung der G20-Agenda ist kein neuer Trend, sondern wurde in der Vergangenheit auch von anderen Gastgeberländern vorgenommen. Das dahinter stehende Ziel ist die Weiterentwicklung der G20 – weg von einem „crisis committee“ zur Bewältigung der globalen Finanzkrise hin zu einem „global steering committee“, das darüber hinausgehende Governance-Funktionen erfüllt. Die inhaltliche Erweiterung der G20 wird zudem häufig verbunden mit der Forderung nach einer Formalisierung und Institutionalisierung der G20-Aktivitäten, die deren Legitimität erhöhen sollen.
In diesem Beitrag wird es im Folgenden in einem ersten Schritt um das informelle Kooperationsformat der G20 gehen und in einem zweiten Schritt wird die Frage der inhaltlichen Erweiterung am Beispiel der Sicherheitspolitik vertieft. Schließlich findet sich eine Prognose, wie sich die G20 in unmittelbarer Zukunft weiterentwickeln könnte – allerdings in dem Bewusstsein, dass gegenwärtig jeder Ausblick auf die internationale Politik von großer Unsicherheit geprägt ist.
Die Informalität der G20
In einem ersten Kommentar zu dem Treffen in Baden-Baden stellte US-Finanzminister Steven Mnuchin fest, dass Formulierungen vergangener Erklärungen für ihn nicht von Interesse seien, da er schließlich zum ersten Mal bei einem G20-Treffen dabei gewesen sei. Ausgehend von dieser Aussage ließe sich zunächst das folgende Bild der G20 als einer informellen Kooperationsform zeichnen: Da die G20 nicht aus einem Gründungsvertrag hervorgegangen ist, der ein bestimmtes übergeordnetes Ziel für die Gruppe definiert, ist sie nicht auf die Herausbildung einer dauerhaften, aufeinander aufbauenden Agenda verpflichtet. Darüber hinaus sind die Beschlüsse der G20 rechtlich nicht bindend. Es widerspricht daher auch keineswegs diesem Rahmen, wenn sich einzelne Staaten, noch dazu nach einem Regierungswechsel, nicht mehr an diese gebunden fühlen. Colin Bradford und Wonhyuk Lim haben die G20 vor dem Hintergrund der nicht vorhandenen Rechtsverbindlichkeit als einen Mechanismus und nicht als ein Entscheidungsgremium beschrieben, da es ihr an der Autorität fehle, endgültige Beschlüsse zu fassen (Bradford / Lim 2011, 4). Insgesamt bestätigt diese Perspektive auf die G20 vor allem die Skeptiker informeller Formate, die in ihnen nur einen unzureichenden Ersatz formaler, rechtlicher Regulierung erkennen und die nach Belieben durch mächtige Staaten missachtet oder instrumentalisiert werden können (Conzelmann 2012, 219).
Allerdings wird in diesem Beitrag von einem erweiterten Verständnis von Informalität ausgegangen. Christopher Daase folgend ist die Informalität der G20 „als eine eigenständige Form institutionalisierter Kooperation“ zu verstehen, „nicht als Durchgangsstadium auf dem Weg zu stärker formalisierten Arrangements und weder als Additiv formaler Organisation noch als deren Zerfallsprodukt“ (Daase 2009, 297). Die Befürworter der G20 wählen dieses Format nicht notwendigerweise, um formale Beziehungen zu umgehen, sondern weil es spezifische Vorteile bietet. Die informelle Kooperation ist flexibel, aber nicht unverbindlich. Sie ermöglicht das kollektive Management internationaler Herausforderungen und verursacht dabei geringere Souveränitätskosten als die Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation. Informelle Formate sind weniger bürokratisch als Organisationen, da sie keine festen Sekretariate und Verwaltungsstrukturen herausbilden, die zusätzlich eigene Interessen in die Kooperation einbringen. Auch die G20 hat bislang bewusst auf ein ständiges Sekretariat verzichtet, welches die Arbeitsprozesse koordiniert. Verantwortlich für die Organisation rund um die Treffen auf den unterschiedlichen Arbeitsebenen sind die jeweiligen Gastgeberländer.
Der Verzicht auf rechtliche Mechanismen und eine behördenartige Bürokratie gelten als eine zentrale Voraussetzung für die Flexibilität des Formats. Paul Martin, der als kanadischer Finanzminister die Gründung der G20 mitinitiierte, stellt in einem seiner Kommentare zu deren Arbeit fest: „[T]he G20 must avoid creating a large bureaucracy at all costs. The G20 is an informal forum of international leaders. National bureaucracies do not need a rival at the G20 level, neither does the United Nations nor its Bretton Woods institutions.“ (Martin 2013, 735) Dieses Zitat unterstreicht zudem, dass sich die G20 nicht in einer Konkurrenz zu internationalen Organisationen sieht – im Gegenteil: In den Erklärungen und Beschlüssen der G20 findet sich regelmäßig der Hinweis darauf, dass deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, die Arbeit internationaler Organisationen zu unterstützen.
Bei einem Verständnis von Informalität als einem eigenständigen Kooperationsmodus stellt sich die Frage nach der Normativität, die durch informelle Beschlüsse erzeugt wird. Für die G20 ist dabei zunächst festzustellen, dass diese nicht in dem Maße losgelöst von rechtlichen Prozessen operiert, wie manche Beobachtungen nahelegen. Jan Wouters und Dylan Geraets weisen darauf hin, dass Entscheidungen der G20, die in Deklarationen, Kommuniqués, Berichten und Handlungsplänen ihren Ausdruck finden, zwar nicht im klassischen Sinne rechtliche Instrumente darstellen, sie aber dennoch einen rechtlichen Effekt haben und daher in einem weiteren Sinne dem rechtlichen Prozess zuzuordnen seien (Wouters / Geraets 2012, 15). Nicht unähnlich beschreibt Volker Roeben am Beispiel der Washington Declaration (2009), dass diese einen Prozess initiiert habe, in dessen Verlauf Entscheidungen der G20 in Recht übersetzt und durch Recht konkretisiert worden seien (Roeben 2012, 127). Roeben bezieht sich dabei auf die Konkretisierung der Institution der Verantwortung. Eine Institution in diesem Sinne beschreibt er folgendermaßen: „an idea or a set of ideas with the claim to constitute normative reality” (Roeben 2012, 105).
Diese Überlegung ist eng verwandt mit der Debatte, die seit einiger Zeit über den Begriff der Rechtsprinzipien geführt wird. Prinzipien „inkorporieren Werte in den Bereich des Rechts, bilden das normative Fundament rechtlicher Regeln und ermöglichen es so, die Rechtsordnung als ein System zu verstehen [...]; sie sind offen für Konkretisierungen, stehen in keinem festen Rangverhältnis, und doch umgibt sie die Aura besonderer Wichtigkeit“ (Rauber 2014). Die G20 könnte demnach als ein Format verstanden werden, das an der Herausbildung von Prinzipien beteiligt ist und darüber hinaus durch die Umsetzungserwartung gegenüber den G20-Staaten direkt an deren Konkretisierung und Überführung in Recht involviert ist. Es obliegt zukünftigen Forschungen zur Informalität, diesen normativen Prozess der G20 besser zu verstehen. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb von so großer Bedeutung, weil die normativen Effekte der G20 nicht nur immer weniger auf einen bestimmten Themenbereich beschränkt sind, sondern auch, weil sie in ihrer Wirkung über die Gruppe der direkt beteiligten Staaten hinausgehen.
Die G20 nimmt für sich in Anspruch, im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft zu handeln – und in diesem Sinne kein Kooperationsforum von Egoisten zu sein. Ein wesentlicher Pfeiler der Legitimation des Gipfelformats ist, dass es auch zum Wohle derer dienen soll, die nicht direkt daran beteiligt sind. Gegenwärtig ist die G20 zum Beispiel darum bemüht, Strategien zur Bekämpfung der Armut in Afrika zu entwickeln – einer Weltregion, die in der G20 aber mit der Ausnahme Südafrikas nicht repräsentiert ist. Eine Übernahme von Verantwortung für Dritte ist im Hinblick auf die aus der Verantwortungstheorie verwendete Unterscheidung einer Aufgaben- und einer Zurechnungsverantwortung allerdings nicht unproblematisch.
Während sich die Aufgabenverantwortung darauf bezieht, dass ein Akteur „in der Gegenwart Verantwortung dafür [übernimmt], künftig Erwartungen zu erfüllen, die sich auf eine bestimmte Rolle oder eine mehr oder weniger eindeutig bestimmte Aufgabe beziehen“, geht es bei der Zurechnungsverantwortung um „die Verletzung von Verhaltensnomen und die daraus resultierenden negativen Folgen“ (Günther 2006, 295). Dabei ist die Aufgabenverantwortung oftmals sehr abstrakt und nicht mit konkreten Mechanismen einer Zurechnungsverantwortung verknüpft. Es bleibt nach wie vor unklar, gegenüber welchen Akteuren die G20 außerhalb der Gruppe verantwortlich sein sollte und in welcher Art und Weise. Die Frage der Zurechenbarkeit informeller Kooperationen ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der in zukünftigen Forschungen stärker berücksichtigt werden sollte.
Unabhängig von der Verantwortungsfrage beschreibt Kjell Engelbrekt einen Kerngedanken, der hinter der Gipfeldiplomatie steht, mit Bezug auf das Konzept des „Minilateralismus“ folgendermaßen: „[M]ajor actors can ‚bring to the table the smallest possible number of countries needed to have the largest possible impact on solving a particular problem’” (Engelbrekt 2016, 2). Dementsprechend versteht sich die G20 als ein Kooperationsforum von Schlüsselstaaten, welches einerseits größtmögliche Repräsentativität anstrebt, dies aber andererseits in einem Umfang, in dem die Flexibilität und Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Nachvollziehbarerweise wird die Legitimität der G20 dennoch in Zweifel gezogen. Gerade in der Erweiterung der Agenda auf Themen jenseits der globalen Wirtschaft wird deutlich, dass sich die Frage, welche Staaten für welche Probleme Schlüsselstaaten darstellen und zugleich repräsentativ für alle Interessen der Staatengemeinschaft sind, nicht befriedigend beantworten lässt – wie das Beispiel der Armutsbekämpfung in Afrika zeigt. Auch die Definition eines globalen Gemeinwohls ist jenseits ganz grundlegender menschenrechtlicher Erwägungen ein problematisches Unterfangen.
In den Hochzeiten der globalen Finanzkrise hat sich die G20 vor allem als ein Instrument zur Krisenbewältigung bewährt. In diesem Zusammenhang wurde auch der Charakter der Ausnahmesituation zur Legitimation der G20 genutzt, da diese eben ein eher technisches denn politisches Management erfordert hat. Nun aber befindet sich die G20 nicht nur in einem Prozess der Normalisierung, sondern auch der inhaltlichen Erweiterung.
Welche Bedeutung hat die G20 für die internationale Sicherheit?
Die Frage, ob die G20 im Bereich der internationalen Sicherheit eine Rolle spielen sollte, wird häufig diskutiert. Dabei wird auf die Erfahrungen mit der Gruppe der Acht (G8) geblickt, die in der Vergangenheit diesbezüglich wichtige Aufgaben übernahm (Penttilä 2003).
In seiner gelungenen Studie „High Table Diplomacy. The Reshaping of International Security Institutions“ untersucht Engelbrekt den Zusammenhang zwischen formellen und informellen Sicherheitsinstitutionen. Er weist darauf hin, dass die konventionelle Aufteilung, wonach formelle Organisationen wie die Vereinten Nationen für den Bereich der traditionellen Sicherheit (militärische zwischenstaatliche Konflikte) zuständig seien, während sich die informellen Formate der nicht-traditionellen Sicherheit (zum Beispiel Terrorismus, Klimawandel, Infektionskrankheiten, transnationale Kriminalität) widmeten, zunehmend verwische. Insbesondere am Beispiel von Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus lasse sich zeigen, wie sich die Aktivitäten formeller und informeller Kooperationen überschnitten (Engelbrekt 2016, 6 f.). Im Hinblick auf klassische Konflikte im Bereich von Frieden und Sicherheit zeige sich hingegen ganz deutlich ein Interesse insbesondere der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die konventionelle Aufteilung aufrechtzuerhalten (Ibid. 204).
Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzustellen, dass sich die G20 bereits seit 2001, also noch vor der Umwandlung in ein Leader-Forum, im Bereich der Terrorismusabwehr engagiert. Der Fokus liegt dabei auf Maßnahmen, die die Finanzierung des Terrorismus unterbinden sollen. Beispielhaft sei auf den Gipfel in Antalya (2015) und die dort verabschiedete „Erklärung der G20 zur Bekämpfung des Terrorismus“ hingewiesen. Darin werden sowohl die zentrale Rolle der Vereinten Nationen für die internationale Sicherheit als auch die gemeinsamen Anstrengungen der Gruppe im Hinblick auf die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung betont (Nr. 5 und 6). Auch in dem Papier der Bundesregierung, das die Schwerpunkte der deutschen Präsidentschaft enthält, wird die Notwendigkeit der Bekämpfung von Geldwäsche und illegalen Finanzströmen sowie die einer verbesserten Zusammenarbeit der staatlichen Stellen hervorgehoben.
Dieses Beispiel illustriert einerseits die sicherheitspolitische Arbeitsteilung mit den Vereinten Nationen und zeigt andererseits, dass die G20 vor allem solche Maßnahmen zur Förderung der internationalen Sicherheit ergreift, die einen engen Bezug zu ihrem ursprünglichen Funktionsbereich aufweisen. Die G20 ist als ein Forum für die Zusammenarbeit in Finanz- und Wirtschaftsfragen entstanden, in dem sich bis 2008 die Finanzminister der jeweiligen Länder trafen. Der Wandel hin zu einem Forum der Staats- und Regierungschefs, der im Zuge der globalen Finanzkrise vollzogen wurde, bedeutet eine Herausforderung der G20 hinsichtlich ihrer ursprünglichen Funktion. Die Staats- und Regierungschefs sind nicht nur zuständig für einen bestimmten Politikbereich. Wenn sie sich auf höchster Ebene begegnen, besteht zu Recht die Erwartung, dass nicht nur ökonomische, sondern auch andere drängende Fragen der internationalen Politik behandelt werden. Die Fokussierung der G20 auf die Frage der globalen Finanzkrise ist vor allem im Hinblick auf die Dynamik der Krisensituation zu verstehen. Es erscheint unvermeidlich, dass sich die G20 in einer Phase, in der sich die Krise abschwächt, auch anderen Fragen widmet. Diesen Erwartungen ist sie bislang allerdings nur als Ort und Anlass des Zusammentreffens von Staatschefs gerecht geworden, nicht aber als spezifische Kooperationsform.
Dies haben die Gipfel von St. Petersburg (2013), Brisbane (2014) und Hangzhou (2016) demonstriert. Der Gipfel von St. Petersburg stand ganz im Zeichen des Syrien-Konflikts und des dortigen Einsatzes chemischer Waffen. Zwar wurde der Konflikt im Rahmen des offiziellen Programms erörtert, es gelang jedoch nicht, Einigkeit über eine gemeinsame Erklärung der G20 zu erzielen. Für die nachfolgende Initiative zur Zerstörung chemischer Waffen in Syrien waren vielmehr bilaterale Gespräche außerhalb des Gipfelformats entscheidend. Gleiches lässt sich für den Gipfel in Brisbane im Folgejahr beobachten. Wer sich eine Initiative zur Eindämmung des Ukraine-Konflikts erhofft hatte, wurde enttäuscht. In diesem Fall kam es nicht einmal mehr zu einer Erklärung, die zumindest von einem Teil der Staaten hätte getragen werden können. Der Gipfel von Hangzhou schließlich wurde für bilaterale Gespräche zwischen Präsident Obama und Staatspräsident Xi über den Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer genutzt, die auch außerhalb der offiziellen Treffen erfolgten.
Alleine dadurch, dass die Gipfeltreffen die Gelegenheit für bilaterale Gespräche solcher Art schaffen, sehen einige Beobachter ihre Funktion erfüllt. Es ist nicht zu bestreiten, dass der persönliche Austausch zwischen mächtigen Persönlichkeiten von großer Wichtigkeit ist. Vor dem Hintergrund der G20 als einem spezifischen informellen Kooperationsmodus, der im ersten Teil des Beitrags vorgestellt wurde, ist dies allein aber relativ wenig und es scheint, dass die Potenziale nicht ausgeschöpft werden. Insgesamt konnte die G20 bislang nur im Hinblick auf die Bewältigung nicht-traditioneller Risiken sicherheitspolitische Erwartungen erfüllen. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt in ihrer pfadabhängigen Entwicklung. Da ihre Ursprünge in der Auseinandersetzung mit Wirtschafts- und Finanzfragen liegen, haben sich auch die verschiedenen Arbeitsebenen und die Akteure, die für die einzelnen Staaten mitwirken, jeweils spezialisiert. Sie sind bislang oftmals in nicht ausreichendem Maße darauf vorbereitet, internationale Krisen im Bereich der Sicherheit zu behandeln. Wenn Sicherheit adressiert wurde, so geschah dies in einem engen Bezug auf die ursprüngliche Funktion und Expertise der G20.
Dies erklärt aber noch nicht, warum sich die G20 bei ihren Treffen angesichts der Behandlung bestehender und drohender militärischer Konflikte als nur eingeschränkt handlungsfähig erwiesen hat. David Shorr hat 2010 in einem vorrausschauenden Artikel bereits gesehen, dass die G20 zukünftig unweigerlich mit sicherheitspolitischen Krisen konfrontiert wird: „I can easily imagine a situation where a G20 meeting coincides with an international security crisis. In such a scenario, will the crisis be on the agenda of the leaders‘ meeting or will they ignore the elephant in the room? If they address the crisis there is no going back; the G20, almost absent-mindedly, will become a major decision forum for international security.” (Shorr 2010, 183) In den Jahren 2013 und 2014 haben wir beides erlebt: die faktische Transformation der G20 in ein Krisenforum zur Frage des Einsatzes von Chemiewaffen in Syrien, mit dem bereits genannten ernüchternden Ergebnis, und ein Ignorieren des Elephant in the Room – des Ukraine-Konflikts – beim Treffen in Brisbane (Engelbrekt 2016, 109).
Bis dato eignet sich die G20 nicht als zentrales Forum zum Management globaler Sicherheitskrisen, weil es den Akteuren an geteilten sicherheitspolitischen Überzeugungen mangelt. Das erfolgreiche Management der globalen Finanzkrise basierte einerseits darauf, dass die Gruppe die Schlüsselstaaten zur Lösung dieser Herausforderung versammelte (Stichwort: Minilateralism) und sich diese auf die Zielsetzung und die Mittel einigen konnten. Like-mindedness der Akteure ist ein wesentlicher Punkt für das Funktionieren informeller Formate. Die höhere Repräsentativität und damit auch Legitimität der G20 gegenüber anderen Gipfel-Formaten wie zum Beispiel der G7 erweist sich im Hinblick auf die internationale Sicherheit aber als Hindernis. Selbst im Vergleich zum Weltsicherheitsrat liege, wie wiederum Shorr im selben Artikel nur wenige Zeilen später feststellt, die Barriere für gemeinsames Handeln bei der G20 höher, da in ihr nicht nur fünf Mächte über ein Veto verfügten, sondern durch die Gleichbehandlung aller Akteure, die einen Konsens erforderlich mache, letztlich alle eine Einigung verhindern könnten (Shorr 2010, 183).
Versuch eines Ausblicks
Es ist gegenwärtig schwierig, Prognosen über die internationale Politik zu entwerfen. Dies trifft auch auf die weitere Entwicklung der G20 zu. Der (neue?) Souveränismus der Trump-Regierung stellt dabei eine der größten Herausforderungen dar. Zum jetzigen Zeitpunkt ist völlig unklar, mit welchem Ergebnis die aktuelle Debatte über den Freihandel geführt werden wird. Sicher scheint allerdings, dass sie zu einem Belastungstest für die G20 als einem informellen Kooperationsformat wird. Mit der Kritik am Freihandel wird eine Grundposition angegriffen, die bisher bei der G20 von innen heraus nicht in Zweifel gezogen wurde. Es stellt sich die Frage, ob Informalität auch dann funktioniert beziehungsweise sich als belastbar erweist, wenn es an einer solchen Grundübereinstimmung, wie hier in Sachen Handel, mangelt. Darüber hinaus könnte die Enttäuschung über ein Scheitern der G20 als Global-Governance-Institution dazu führen, dass zukünftig wieder stärker auf formale Beziehungen gesetzt wird. Für US-Präsident Trump sollte ein solches Szenario eigentlich wenig interessant sein, weil informelle Formate der ihm zugeschriebenen Politik des Deal-Making aufgrund der geringeren Souveränitätskosten und der größeren Flexibilität eigentlich entgegenkommen.
Für die inhaltliche Erweiterung der G20-Agenda scheint derzeit wenig Raum zu bestehen. Kurzfristig ist zu erwarten, dass die Debatte über den Freihandel die Diskussionen dominieren wird. Längerfristig ist eher von einem graduellen Wandel auszugehen, für den ein enger Bezug zur Ursprungsfunktion des Formats von Bedeutung sein wird. Besonders augenscheinlich wurde dies am Beispiel traditioneller Sicherheitsthemen. Obwohl die G20 als ein Forum von Staatschefs mit der Erwartung konfrontiert war, sich den Krisen in Syrien und der Ukraine zu stellen, konnten keine befriedigenden Ergebnisse erzielt werden. Anders war dies im Hinblick auf nicht-traditionelle Gefährdungen wie den internationalen Terrorismus.
Dass selbst internationale security shocks, wie etwa die Situation in Syrien, bislang nicht dazu geeignet waren, die Routinen der G20 wesentlich zu verändern, ist nicht allein aus der Pfadabhängigkeit zu erklären, sondern spiegelt auch die grundsätzlichen Konfliktlinien zwischen den einzelnen G20-Akteuren wider, die auch in diesem Forum nicht überbrückt werden konnten. Daher erscheint eine grundlegende Veränderung des sicherheitspolitischen Profils der G20 in naher Zukunft unwahrscheinlich. Vielleicht bieten die Treffen der G20 die Möglichkeit für persönliche Gespräche wichtiger Staatschefs und unter Umständen dienen diese zur Anbahnung neuer Lösungsansätze für die gegenwärtigen Krisen. Dies wäre dann aber nicht der G20 als spezifischer Kooperationsform geschuldet. Es ist nicht ohne Ironie, dass gegenwärtig nicht zuletzt einem Präsidenten Trump am ehesten zuzutrauen wäre, diese Konfliktlinien aufzubrechen – beziehungsweise durch ganz neue zu ersetzen.
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