Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche
Klaus von Dohnanyi fordert die Ausrichtung deutscher und europäischer Politik nach Maßgabe nationaler Interessen. Hierzu entwickelt er Thesen zum Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten konzeptionell auf Grundlage von Identität, Wertegemeinschaft und demokratischer Legitimation: Basis bleibe der soziale, wettbewerbsfähige Nationalstaat. Auch kritisiert er die deutsche Außenpolitik in Bezug auf die USA, China und Russland. Unseren Rezensenten Wahied Wahdat-Hagh vermögen die mit „strikter Redundanz“ vorgetragenen Grundideen indes nicht zu überzeugen.
Klaus von Dohnanyi möchte mit seinem Buch, welches im Januar 2022 erschien, die „intellektuellen Gewohnheiten in einigen wesentlichen strategischen Fragen deutscher Politik“ (26) auf den Prüfstand stellen und diese keineswegs bestätigen. Er konstatiert, dass Deutschland „eine nationale Identität“ brauche (22). Um dies zu bewerkstelligen, unterscheidet er zwischen dem „schwammigen Begriff der Wertegemeinschaft“ (23) und nationalen Interessen. Denn Wertegemeinschaften seien „keine Staatsform“ (24) und haben daher keine demokratische Legitimation, zumal gemeinsame Werte Interessengegensätze nicht ausschließen würden. Deutsche müssten erst lernen Interessengegensätze offen zu debattieren. Sehe man „einmal von dem Vorhandensein eines Wahlrechts, der Pressefreiheit und Demokratie ab“, bleibe nicht viel von einer „Werte-Gemeinschaft“ (75) zwischen den USA und Europa übrig. Dohnanyi meint, dass die Europäer niemals wirklich Verbündete, sondern nur „Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses“ (37) gewesen seien. Die Europäer hätten nie ein Mitspracherecht gehabt. Europa solle den machtpolitischen Interessen der USA unter dem Vorwand einer „Wertegemeinschaft“ (38) dienen. Die USA würden nur diejenigen als ihre Freunde betrachten, die ihre Interessen vertreten würden (78). Dohnanyi fragt danach, ob die USA auch Europa ähnlich wie Afghanistan „fallen lassen“ (79) würden, wenn es der US-amerikanischen Politik entsprechen würde. Schließlich seien zunehmend Risse in der transatlantischen Gemeinschaft vorhanden. Die USA selbst sieht der Autor zutiefst gespalten und die Republikanische Partei sei nach Lincolns Präsidentschaft „immer eher die Partei des Imperialismus“ gewesen (80). Die USA wollten bereits seit dem 19. Jahrhundert über ihre Beziehungen zu Großbritannien Einfluss auf Europa gewinnen. Schon der „Imperialist Theodore Roosevelt“ (33) sei der Antreiber des Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg gewesen. Die USA brachten von 1914 bis 1945 den „Westen Europas außen- und sicherheitspolitisch unter ihre Herrschaft und organisierten eine westliche Weltordnung in ihrem Sinne“ (28). Heute sei dies „ihr wahres Interesse an Europa“ (35). Dohnanyi ist somit der Überzeugung, dass die deutschen Interessen anders gelagert seien als die US-amerikanischen. Die US-Politik sei „unstet, so wenig verlässlich“ (30). Alle zwei Jahre werden das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt. Zudem litten die USA an Selbstüberschätzung und wollten den American way of Life auf die ganze Welt übertragen: Sie seien indes darin gescheitert anderen Nationen mit militärischer Gewalt die Demokratie beizubringen. Die USA würden Europa außen- und sicherheitspolitisch beherrschen und „uns in ihre Konflikte mit den anderen Weltmächten“ (31) hineinziehen. Dabei würden sie ihre Machtinteressen mit humanitären Argumenten verschleiern. Europa und die USA seien sich heute in ihren Werten zutiefst fremd: „Europa will Frieden, die USA wollen Macht“ (80), glaube von Dohnanyi zu wissen.
Und insbesondere die Russlandpolitik der USA verhindere die europäische Souveränität. Schon der Brite Sir Halford John Mackinder (1861 bis 1947) sei der Meinung gewesen, dass der Westen „Brückenköpfe“ (36) brauche, um Russland abzuwehren. Heute würde sich die US-amerikanische Politik auf Mackinder berufen. Und Zbigniew Brzezinski zufolge sei Europa solch ein geopolitischer Brückenkopf für die USA.
Die vorgetragene Kritik führt weiter aus, dass die USA mit der „Eröffnung des Cyberkrieges“ (77) 2010 die Software Struxnet eingesetzt habe und Qasem Soleimani gezielt ermordet habe, dabei unterschlägt er, dass Soleimani auf der Terroristenliste der Europäischen Union stand und stellt ihn als Divisionskommandeur vor, ganz nach iranisch-islamistischen Maßstäben.
Es wird zudem bezweifelt, dass Sanktionen gegen China „sinnvoll“ (81) seien, aber die USA würden diese ohne eine Abstimmung mit Europa vorzunehmen, einsetzen. Daher schlägt von Dohnanyi geradezu subversiv vor, dass Europa die US-Sanktionen umgehen sollte, indem neue Banken geschaffen werden, die nicht innerhalb der USA tätig seien, um „nicht von den USA erpressbar“ zu sein (84). Deutsche Unternehmen sollten sich überhaupt überlegen, ob sie auf dem US-Markt tätig werden. Leser*innen könnten den Eindruck gewinnen, dass China hier beinahe ein besseres Zeugnis ausgestellt bekommt als die USA. So habe China dafür gesorgt, dass die Welt nicht mehr westlich gesteuert werde. Und es sei der wichtigste Handelspartner Europas geworden, was die USA aus nationalem Interesse „verhindern“ (42) wollten. Dabei greife China nicht auf „militärische Mittel zurück um seine Staatsgrenzen zu erweitern.“ (44), denn Chinas Interesse liege heute im wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, nicht in der militärischen Expansion. Von Dohnanyi spitzt dies in der Fragestellung zu, ob die USA denn überhaupt wirklich gefährdet seien oder ob lediglich ihre Weltherrschaft bedroht sei. Es sei gefährlich, wenn Europa den USA bei der „Eindämmung Chinas in Asien“ (52) behilflich sei. Für eine Strategie des Wandels durch Annäherung seien Wirtschaftsbeziehungen aussichtsreicher. Der US-amerikanische Kurs in Asien berge Risiken für Deutschland in sich und habe nach den 1990er-Jahren Russland „an die Seite Chinas gehängt“ (53).
Es gehe zudem darum, „das Fundament des Handelns“ der Diktaturen zu begreifen (27), das heißt, dass Ihre Interessen verstanden werden. So sei mit Putin beispielsweise ein Interessensausgleich zu suchen, zumal der Zweite Weltkrieg mit russischer Hilfe gewonnen worden sei. Eine „Kooperation mit Russland und nicht Feindschaft“ (38) liege im Interesse Europas. Es gäbe keine Beweise dafür, dass Russland Paris oder Berlin angreifen würde. Man solle den russischen Präsidenten nicht „dämonisieren“ (61), sondern miteinander im Dialog bleiben. Der Autor kritisiert zwar die Annexion der Krim, die völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen sei, aber weist auf die Ansicht hin, wonach „historisch die Krim mit Russland verbunden [sei]“ (99). Und: Russland müsse das Vorrücken der NATO so empfinden, als ob aus US-amerikanischer Sicht „Russland einen militärischen Verteidigungspakt mit Kuba vereinbaren“ (102) würde. Auch hätten die USA 2014 versucht, eine „dem Westen zugeneigte Regierung in Kiew zu installieren“ (106), obwohl die Ukraine über „viele Jahrhunderte“ (108) zu Russland gehört habe. Zynisch merkt von Dohnanyi an, dass für Washington die Konfrontation mit Russland gewissermaßen zum „Abendgebet“ (111) gehöre.
Zu denken gibt dem Rezensenten die These von Dohnanyis, wonach die USA „schon seit den 1960er-Jahren Einwände“ (115) gegen eine selbstständige europäische Verteidigungspolitik haben. Denn zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten waren es US-Regierungen, die Europa permanent dazu aufforderten, für die Kosten der Verteidigung Europas eigenständig aufzukommen.
Der Autor fragt weiter, warum denn die USA als „Schutzmacht Europas“ (63) verstanden werden. Europas Sicherheit gründe sich auf der NATO und damit auf die „Verteidigungsstrategie der USA“ (90). Im Falle eines russischen Angriffs zähle Europa aber nicht und könne zerstört werden. Europa werde in diesem Fall zum „alleinigen Kriegsschauplatz“ (97). Die USA würden zudem aufgrund der NATO-Erweiterung die „Hauptschuld“ (66) an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland tragen. Es sei ein schwerwiegender Fehler die Verhandlungen zwischen dem Westen und Russland zu blockieren. Lediglich eine Entspannungspolitik könne die Kriegsgefahr für Europa verringern (118).
Europa fehle es an „Handlungsfähigkeit für wichtige Entscheidungen“ (17). Bei der eigenständigen Verteidigung Europas falle daher Frankreich eine einflussreiche Rolle zu. Es nehme hier aufgrund „des atomaren Arms seiner Streitkräfte“ (113) und seiner Position als Mitglied des UN-Sicherheitsrates eine einzigartige Rolle ein. De Gaulle sei auf jeden Fall ein „Patriot“ (127) gewesen und habe sich für die Autonomie Europas eingesetzt. Er sei gewiss ein französischer Nationalist gewesen, aber seine Idee von Europa sei heute noch wichtig. De Gaulle habe die „strategische Bedeutung atomarer Waffen“ (128) und das eigenständige nukleare Abschreckungspotential erkannt. Angesichts der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert solle die Atommacht Frankreich die militärische Führungsrolle in Europa übernehmen, während Deutschland dann Frankreich ermutigen solle, eine „offenere Russlandpolitik“ (114) zu betreiben. Von Dohnanyi ist somit gegen die zentralistische Idee der Vereinigten Staaten von Europa, gegen einen Bundesstaat. Er befürwortet eher die „kreative Vielfalt der Mitgliedstaaten“ (136). Die Europäische Union sei heute ein Staatenbund und kein Bundesstaat (204). Der souveräne Nationalstaat solle das Fundament der Europäischen Union bleiben. Das nationale Interesse Deutschlands sei somit eine „evolutionär fortschreitende Konföderation“ (141). Europa könne nicht durch Gesetze zusammengehalten werden, sondern „nur durch Politik“ (142). Niemals werde ein Parlament aus 27 verschiedenen Staaten mit 24 verschiedenen Sprachen eine „demokratische Legitimation für die einzelnen Mitgliedstaaten erhalten können“ (150). Nur ein „sozialer Nationalstaat“ (160) könne über eine demokratische Legitimation verfügen. Europa vermöge indes eine „innovative Wirtschaftsmacht“ (122) zu werden, es sei aber auf den Gebieten der neuen Technologien der Kommunikation aktuell „zurückgefallen“ (162). Zugleich betont das Buch: Europa dürfe sich nie wieder auf militärische Stärke berufen, es solle eher bei „großen Projekten wie Wasserstoff oder Batterien mit hoher Speicherkapazität“ (167) wettbewerbsfähiger werden. Dohnanyi empfiehlt der Bundesregierung beispielsweise die „Nanoelektronikproduktionsstätte“ (170) zu stärken. Auf der Ebene der Bundesrepublik bestimme zudem die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhardt Deutschlands Identität. Der Sozialstaat im Verbund mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft sei „heute im Kern deutsche Identität und deutsches Interesse“ (180) – nicht supranationale Ideen. Das nationale Interesse Deutschlands definiert Dohnanyi somit als Interesse eines „föderalen, wettbewerbsfähigen Sozialstaat(s)“ (186). Die Europäische Union könnte eine „fatale Legitimationskrise“ (187) erfahren, wenn die Unterschiede der Mitgliedstaaten und ihre Souveränität nicht berücksichtigt würden. Niemand hindere die Kommission und das Parlament der Europäischen Union gute Ratschläge zu geben – aber Zuständigkeit und Verantwortung sollten bei den Nationalstaaten verbleiben (203).
Von Dohnanyi schreibt hier noch vor Ausbruch des Ukrainekriegs über eine „Zeitenwende“ (210), die durch „Einsicht in die Interessen und Möglichkeiten der globalen Gegenspieler“ (210) gekennzeichnet sei. Dabei wiederholt er seine Zweifel, dass Russland gefährlich sei. Das deutsche nationale Interesse bestehe in einer „nachdrücklichen Entspannung gegenüber Russland“ (215). Von Dohnanyi wirbt – das Buch erschien im Januar 2022 – um ein Verständnis für die russische Sicht, das in der Praxis „die Rücknahme der sinnlosen und wirkungslosen Wirtschaftssanktionen“ (216) bedeuten würde, damit Russland sich aus der chinesischen Umklammerung lösen könne. Zudem sollte Deutschland in enger Gemeinschaft mit Frankreich eine Entspannungspolitik betreiben, die auch von der NATO umgesetzt werde. Er fordert weiter, dass in der Politik bei Abwehr von Cyberangriffen neue Schwerpunkte gesetzt werden und der Terrorismus durch den „Ausbau des Verfassungsschutzes“ (218) und des Bundesnachrichtendienstes bekämpft werde.
Von Dohnanyi trägt seine Grundideen vorliegend mit strikter Redundanz vor. Er fordert aber ein „neues Denken“ zur Orientierung von deutscher und europäischer Politik nach Maßgabe nationaler Interessen ein (220), das im Zusammenspiel mit den dabei vorgetragenen Thesen nun in Zeiten des Ukrainekriegs gleichwohl wie eine hohle Parole klingt.
Außen- und Sicherheitspolitik
Rezension / Wahied Wahdat-Hagh / 13.09.2022
Josef Braml: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können
Josef Braml zeichnet ein kritisches Lagebild der transatlantischen Partnerschaft, deren Herausforderungen und Probleme durch den Angriffskrieg auf die Ukraine lediglich akzentuiert, aber nicht völlig verändert worden seien: Im Fokus stünden dabei einerseits die hegemonialen USA und Europa, dann die inneren und äußeren Dimensionen ihres (Nicht-)Handelns sowie die Verflechtungen mit Herausforderern und Partnern, so Wahied Wahdat-Hagh. Staatsinteressen wolle der Autor ohne Verklärungen analysieren und so verdeutlichen, was die Europäer*innen für ihre Souveränität in Angriff nehmen sollten.
Externe Veröffentlichungen
Salih Isik Bora, Lucas Schramm / 30.01.2023
French Politics
Lydia Wachs, Liviu Horovitz / 12.01.2023
Stiftung Wissenschaft und Politik
Emma Ashford / 06.10.2022
Foreign Affairs