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Rezension / 29.08.2024

Nicolas Wolbrandt: Israels sicherheitspolitische Konfrontation mit dem Iran in Syrien

Baden-Baden, Nomos Verlag 2024

Diese Analyse blickt aus defensiv-neorealistischer Perspektive auf die Rollen Israels und Irans im Syrienkonflikt. Dazu werden detailliert militärische Bündnisse, Ressourcen und regionale Machtoptionen herausgearbeitet. Leser*innen erhielten durch die Lektüre wichtige Einsichten in Gegebenheiten, die das Handeln beider Opponenten in der von Multipolarität geprägten Region formten, bilanziert Michael Rohschürmann. Allerdings sei das eher Buch mit seinen umfangreichen Anhängen, das im Epilog auch Entwicklungen im Nachgang zum 7. Oktober 2023 aufgreift, für Einsteiger*innen in die Thematik „weniger geeignet“.

Eine Rezension von Michael Rohschürmann

Nicolas Wolbrandts Monografie betrachtet die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die sich für Israel durch Irans Unterstützung schiitischer Milizen in Syrien ergeben und beleuchtet die sicherheitsstrategische Antwort Jerusalems darauf sowie die Auswirkungen dieser Konstellation auf die regionale Machtbalance.

Bereits in seiner Einleitung stellt der Autor fest, dass Israels sicherheitspolitische Lage nach dem Sieg über den Islamischen Staat in Syrien und dem Irak eigentlich besser sein müsste als noch 2016. Zudem habe Israel durch diplomatische Erfolge, wie die Normalisierungsabkommen mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten 2020, seine regionale Isolation verringern können (15).

Vor den nachstehenden Ausführungen muss zunächst festgestellt werden, dass Wolbrandts Buch aus dem August 2023 stammt. Er stellt entsprechend noch die Frage, ob die Bedeutung Palästinas in den strategischen Überlegungen der Regionalmächte abnehme, da der Fokus zunehmend auf die Bedrohung durch Iran und dessen Unterstützung für nichtstaatliche Akteure, wie die Hisbollah, gerichtet sei. Die israelische Bedrohungswahrnehmung sei durch wiederholte Raketenangriffe und militärische Aktivitäten Irans in Syrien verstärkt worden, was zu einer kontinuierlichen militärischen Auseinandersetzung führe. Die fortgesetzte Aktivität Irans in Syrien werde von Israel als Gefahr wahrgenommen und es sehe sich dadurch zu anhaltenden militärischen Maßnahmen gegen diese iranische Präsenz veranlasst.

Der defensive Neorealismus als Rahmen der Analyse

Das theoretische Konzept, auf dem die Arbeit beruht, ist der defensive Neorealismus nach Kenneth N. Waltz. Dieser bietet eine Erklärung dafür, warum Staaten in einem internationalen System handeln, wie sie es tun, und betont die Rolle der Struktur des internationalen Systems bei der Formung staatlicher Verhaltensweisen: Die Grundannahme ist dabei die eines anarchischen internationalen Systems, in dem Staaten sich als zentrale Akteure in einem Sicherheitsdilemma befänden und durch strukturelle Zwänge gefangen sein. Dabei unterlägen sie begrenzten Möglichkeiten der Machtmaximierung (21 ff.).
Wolbrandt analysiert vor diesem Hintergrund, ob Israels Reaktionen auf die sicherheitsstrategischen Herausforderungen durch die iranische Syrien-Politik den theoretischen Erwartungen von Waltz‘ Modell entsprechen.

Ein wesentlicher Teil seiner Untersuchung widmet sich der Rolle nichtstaatlicher Akteure wie der Hisbollah, die durch Iran als Machtinstrumente genutzt werden. Hierbei werden die Kriterien der Nutzbarkeit und Zurechenbarkeit dieser Akteure ausführlich erläutert und an Fallbeispielen überprüft.

Kapitel 3 zeichnet die Transformation des Nahen Ostens von einer unipolaren zu einer multipolaren Ordnung nach. Diese Entwicklung schuf Raum für Akteure wie Iran und Russland, ihre Einflusssphären zu erweitern. Die USA hatten ihre militärische Präsenz reduziert, was zu einem Machtvakuum geführt habe, das durch regionale Mächte wie Saudi-Arabien, die Türkei und Israel gefüllt worden sei (59). Innerhalb des theoretischen Rahmens kommen dann bestimmte Pfadabhängigkeiten zum Tragen. So müssen die Akteure historische Allianzen und Feindschaften, wirtschaftliche Verflechtungen und regionale Interessen und Machtstrukturen bedenken. Im Falle Israels und Irans fokussierten sich beide Länder auf internal balancing (militärische Aufrüstung, wirtschaftliche Stärkung, technologische Entwicklung).
Wolbrandt kommt zu dem Zwischenergebnis, dass Iran nicht über ausreichend eigene Fähigkeiten verfüge, um sich eine eigene Machtstellung im multipolaren Nahen Osten zu sichern, und daher auf die Hisbollah als Abschreckungsmittel zurückgreife. Diese Miliz, unterstützt durch iranische Raketentechnologie, spiele eine zentrale Rolle in Teherans Strategie, was durch die begrenzten Möglichkeiten der Beobachtermission der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL) nur schwer zu verhindern sei (66 sowie 79 ff.).

Effekte der iranischen Syrienpolitik auf die Region

Kapitel 4 untersucht die militärischen und strategischen Ungleichgewichte, die durch die iranische Syrienpolitik entstehen. Der Zusammenbruch des Assad-Regimes ab 2011 bedrohte Irans Position in der Region und seine Verbindung zur Hisbollah. Durch den Einsatz iranisch geführter Kräfte und die Kooperation mit Russland konnte dieser Zusammenbruch verhindert werden. Die Stabilisierung Syriens ermöglichte es dem Iran, militärische Einrichtungen zu etablieren, die gegen Israel gerichtet sind.

Die duale Sicherheitsstrategie Israels

Der in Kapitel 5 vorgenommene Abgleich bestätigt, dass die theoretischen Annahmen des Neorealismus zur Sicherheitsstrategie Israels zutreffend sind. Hier ist vor allem das internal balancing – also der Aufbau eigener militärischer Fähigkeiten- zu nennen. Gleichwohl sei es Israel vor dem 7. Oktober 2023 auch gelungen einige Aspekte des external balancing zu erfüllen, indem es neue Verträge mit arabischen Staaten schloss (115). Die duale Strategie Israels, bestehend aus medial präsenten Luftangriffen und langfristig angelegten Verteidigungsmaßnahmen, wird als wirksame Antwort auf die iranische Bedrohung identifiziert. Für Israel bedeutet dies, gemäß der Logik des defensiven Neorealismus, eine notwendige Gegenmachtbildung gegenüber der iranischen Aufrüstung in Syrien und im Libanon. Wolbrandt zeigt, dass Israel trotz seiner nuklearen Fähigkeiten nicht allein auf diese als Abschreckungsmittel setzen kann, sondern auch in konventionelle Verteidigungsmaßnahmen investiert. Hierzu gehören die Entwicklung und der Einsatz verschiedener Luftabwehrsysteme wie Iron Dome und David's Sling sowie der Aufbau neuer Kampffähigkeiten durch Drohnen und moderne Panzer (115 ff.). Abschließend wird bewertet, wie gut die neorealistische Theorie die tatsächlichen Entwicklungen und Reaktionen Israels erklärt und welche Implikationen sich daraus für die deutsche Außenpolitik ergeben. So stellt Wolbrandt fest, dass die Sicherheits Israels zwar immer wieder als deutsche Staatsräson betont werde, aber beispielsweise keine Erwähnung des iranischen Atomprogramms als Risiko für eben diese Sicherheit stattfinde (172).

Geteilte Feindschaften verbinden

Wolbrandts Monografie legt dar, dass Israel zur Wahrnehmung seiner sicherheitspolitischen Interessen in erster Linie auf interne Aufrüstung und Bündnisse, wie wachsende Kooperationen, beispielsweise mit Abu Dhabi, setzt, bei denen die gemeinsame Feindschaft – wie in Waltz‘ Theorie beschrieben – als Kit des Bündnisses dient (155). Diese Partnerschaften werden als Instrumente zur effektiveren Reaktion auf regionale Machtverschiebungen zugunsten Irans bewertet. Gleichzeitig wird auf die begrenzte Rolle der europäischen Akteure in diesem geopolitischen Kontext hingewiesen, aber dem bandwagoning mit den USA eine zentrale Rolle eingeräumt. Das Verhältnis zwischen den USA und Israel ist somit als einseitiges Schutzverhältnis zu beschreiben, bei dem Israel stark von US-amerikanischen Hilfen abhängig ist. Ein zentraler Aspekt ist hier das Konzept des „Qualitative Military Edge“ (QME), einer politischen Verpflichtung der Vereinigten Staaten Israels militärtechnologische Überlegenheit in der Region sicherzustellen (156 ff.).

Bis 2016 erhielt Israel rund 125 Milliarden US-Dollar an Hilfszahlungen aus den USA, die etwa 20 Prozent des israelischen Verteidigungsbudgets ausmachen. Das Memorandum of Understanding von 2016 sieht für den Zeitraum 2019 bis 2028 Zuwendungen in Höhe von 33 Milliarden US-Dollar vor, wobei Israel verpflichtet ist, bis 2028 keine weiteren heimischen Rüstungsgüter mit den Hilfsgeldern zu finanzieren. Zudem unterstützen die USA die Weiterentwicklung der israelischen Raketenabwehrsysteme mit zusätzlichen 5 Milliarden US-Dollar bis 2028. Zudem ist Israel an das Pentagon-Frühwarnsystem angeschlossen und verbessert dabei die Fähigkeit der israelischen Streitkräfte (IDF), Raketenstarts früh zu erkennen. Washington garantiert Israels technologische Überlegenheit durch Lieferungen modernster Waffensysteme und privilegierten Zugang zu amerikanischen Rüstungsartikeln. Obwohl Israel keinen formellen Bündnisvertrag mit den USA hat, um eine zu große Abhängigkeit zu vermeiden und sicherheitspolitische Handlungsspielräume zu wahren, wird Washington von Israel als Verbündeter wahrgenommen. Israel hat zudem Zugriff auf amerikanische Depots in Israel, die im Konfliktfall genutzt werden können; jedoch mit der Einschränkung, dass die USA jederzeit Material entnehmen können.

Diese Abhängigkeit Israels könnte sich in künftigen Krisensituationen als nachteilig erweisen, sowohl auf operativer als auch auf internationaler Ebene, insbesondere wenn die USA nicht mehr als proisraelische Vetomacht im UN-Sicherheitsrat auftreten. Insgesamt beschreibt Wolbrandt sehr gut, wie die USA durch finanzielle und militärische Unterstützung Israels dessen Sicherheitslage verbessern und gleichzeitig ihre eigene geopolitische Position im Nahen Osten stärken. Gleichzeitig werden die langfristigen Risiken und die Abhängigkeit Israels von amerikanischen Lieferungen deutlich, was im neorealistischen Sinne eine potenzielle Schwäche darstellt.

Der 7. Oktober 2023 und seine Auswirkungen

Vor dem Hintergrund des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat Wolbrandt seiner Studie noch einen Epilog hinzugefügt, in dem er dessen Auswirkungen auf die in Buch vorgestellten Thesen untersucht. Trotz des Konfliktes mit der Hamas bleibt der Autor bei der Einschätzung, dass die vorhandenen Verteidigungsmaßnahmen wie Flugabwehr, Artillerie und luftgestütztes Unterdrückungsfeuer Israel nur unzureichend Schutz bieten. Daher seien israelische Bodenoffensiven gegen feindliche Raketenstellungen auch in einem Krieg an der Nordgrenze wahrscheinlich und könnten tief in den Libanon oder Syrien reichen. Dies erfordere auf Seiten Israels eine unabhängige Munitionsbevorratung und eine militärische Vorbereitung auf solche Operationen. Die Fähigkeit der israelischen Streitkräfte, eine entscheidende Verteidigungsoperation gegen die Hisbollah durchzuführen, bleibe entscheidend, um die Kosten-Nutzen-Kalkulation eines umfassenden Regionalkrieges für Teheran inakzeptabel zu machen. Dies hänge aber auch von der dauerhaften Beseitigung der Hamas als militärischer Akteur im Gazastreifen ab.

Die USA unterstützen die Abschreckung iranischer Angriffe durch die Entsendung eigener Kräfte, was die Kosten für iranische Offensivplanungen erhöhe. Allerdings bleibe unklar, ob Washington tatsächlich bereit wäre, militärisch zu intervenieren. Der transatlantische Beistand sei sowohl militärisch als auch diplomatisch für Israel unverzichtbar, insbesondere durch die Vetobereitschaft der USA im UN-Sicherheitsrat. Deutschland könne aufgrund seiner Vermittlerrolle und begrenzten militärischen Fähigkeiten keinen signifikanten Beitrag zur Abschreckung leisten und bleibe daher in der Kosten-Nutzen-Kalkulation Teherans unberücksichtigt. Israels Beziehungen zu Riad und Abu Dhabi hätten sich verbessert, führten jedoch noch nicht zu gegenseitigen Sicherheitsverpflichtungen. Diese Annäherung ermögliche Israel jedoch eine Fokussierung auf den gemeinsamen Gegner Iran.

Insgesamt bietet Wolbrandts Monografie eine umfassende und fundierte Analyse der sicherheitspolitischen Dynamiken im Nahen Osten aus neorealistischer Perspektive. Sie liefert wertvolle Einblicke in die Strategien und Machtverhältnisse, die das Handeln Israels und Irans prägen, und zeigt auf, wie diese beiden Akteure auf, die sich verändernde regionale Ordnung reagieren. Das Buch ist für Einsteiger*innen in die Thematik eher weniger geeignet, da es bisweilen sehr technisch ist. Dafür liefert es aber einen umfangreichen Anhang, beispielsweise zu den jeweiligen militärischen Fähigkeiten. Hervorzuheben ist zudem das Kapitel zum israelisch-amerikanischen Verhältnis, das dieses sehr gut und verständlich darstellt.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.22
CC-BY-NC-SA
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