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Rezension / 06.02.2025

Alexandros Kentikelenis, Thomas Stubbs: A Thousand Cuts. Social Protection in the Age of Austerity

Oxford, Oxford University Press 2023

Alexandros Kentikelenis und Thomas Stubbs präsentieren die bislang umfassendste empirische Analyse der sozialen Auswirkungen der Kreditbedingungen des Internationalen Währungsfonds. Sie zeigen, dass der IMF entgegen seiner Rhetorik weiterhin auf Austeritätsmaßnahmen setzt, die gerade in einkommensschwachen Ländern zu Einkommensungleichheit und dramatischen Kürzungen der Gesundheitsausgaben führen. Henning Schmidtke, Associate am GIGA-Institut und Experte für internationale Organisationen, lobt das Buch als „Meilenstein“.

Eine Rezension von Henning Schmidtke

Der Internationale Währungsfonds (IMF) wurde 1944 als Teil der Bretton-Woods-Institutionen gegründet, um aus den wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs zu lernen. Seine Hauptaufgabe besteht bis heute darin, Mitgliedsstaaten bei der Überwindung kurzfristiger Zahlungsbilanzprobleme zu unterstützen, die entstehen, wenn die Importe eines Landes dessen Exporte übersteigen. Ziel ist es, zerstörerische nationale und globale Wirtschaftskrisen zu verhindern. Dafür vergibt der IMF kurzfristige Kredite, um Mitgliedsländer von protektionistischen Handelskriegspolitiken abzuhalten, wie sie in den 1930er-Jahren den Zusammenbruch der internationalen Wirtschaftsordnung mitverursachten.

Während der Gründungsverhandlungen des IMF prallten jedoch unterschiedliche Positionen bezüglich der Ausgestaltung dieser Kredite aufeinander. Die USA befürworteten eine starke Organisation, die Bedingungen für die Vergabe von Krediten festlegen sollte, um eine stabile und nachhaltige Weltwirtschaft zu gewährleisten. Großbritannien hingegen plädierte für einen schwächeren IMF, der Kredite ohne nennenswerte Einschränkungen bereitstellen sollte. Der Kompromiss zur Lösung dieses Konflikts sah „angemessene Schutzmaßnahmen für die vorübergehende Nutzung der allgemeinen Ressourcen des Fonds“[1] vor. Diese vage Formulierung ließ Spielraum für Interpretationen und legte den Grundstein für eine stetige Ausweitung der Kreditbedingungen.

Im Laufe der Zeit entwickelten sich diese Bedingungen zu einem mächtigen Werkzeug, durch das der IMF tief in die Wirtschaftspolitik seiner Mitgliedsländer eingreift. Von den ersten Stand-by-Arrangements bis zu den umfassenden Strukturanpassungsprogrammen der 1980er-Jahre hat der IMF stetig an Einfluss gewonnen. Dieser Einfluss wird heute in Wissenschaft und Gesellschaft kritisch hinterfragt. Neben Fragen zur demokratischen Legitimität stehen vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Kreditbedingungen im Mittelpunkt der Diskussion. Ähnlich wie bei Debatten über Impfstoffe oder Medikamente konzentriert sich die Kritik auf die Frage, welche Nebenwirkungen IMF-Programme haben und ob diese unbeabsichtigten Folgen in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen.

Vor diesem Hintergrund präsentieren Alexandros Kentikelenis und Thomas Stubbs in ihrem Buch „A Thousand Cuts: Social Protection in the Age of Austerity“ die bislang umfassendste empirische Analyse der Auswirkungen von IMF-Kreditbedingungen auf die Sozialpolitik. Sie fragen, ob diese häufig mit Kürzungen im Sozialbereich und marktorientierten Reformen verbundenen Programme tatsächlich wirtschaftliche Verbesserungen bewirken oder soziale Ungleichheit und die Erosion öffentlicher Daseinsvorsorge verschärfen. Mithilfe eines einzigartigen Datensatzes und methodischer Innovationen untersuchen sie die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der IMF-Programme zwischen 1980 und 2019.

Ein einzigartiger Datensatz und die Ausgestaltung der IMF-Bedingungen im Zeitverlauf

Kentikelenis und Stubbs strukturieren ihr Buch in drei Teile, die eine schlüssige und differenzierte Untersuchung der Auswirkungen von IMF-Kreditbedingungen auf die Sozialpolitik der betroffenen Staaten bieten. Die Kapitel 1 bis 3 bilden den ersten Teil des Buches und führen den neuartigen Datensatz ein, der über 65.000 individuelle Kreditbedingungen zwischen 1980 und 2019 umfasst. Auf Basis dieser Daten beleuchten die Autoren die Entwicklung von IMF-Kreditbedingungen. Sie zeigen detailliert, wie viele und welche Art von Bedingungen der IMF auferlegt und welche Politikfelder betroffen sind. Diese einzigartige Datensammlung stellt eine bedeutende Weiterentwicklung des Forschungsstandes dar und ist bereits nach kurzer Zeit zur Grundlage weiterer Untersuchungen zum IMF geworden[2]. Die Datensammlung ist zudem öffentlich über die benutzerfreundliche Website der Autoren zugänglich, was die Transparenz und Nachvollziehbarkeit ihrer Arbeit erhöht.

Die Analyse offenbart zentrale Veränderungen in der Ausgestaltung der IMF-Bedingungen im Zeitverlauf. Während die frühen Jahre des Fonds von makroökonomischen Zielen wie der Begrenzung staatlicher Kreditaufnahme geprägt gewesen seien, hätten sich die Kreditbedingungen im Laufe der Jahrzehnte zu einem umfassenden Instrument für politische und wirtschaftliche Reformen entwickelt. Besonders die Strukturanpassungsprogramme der 1980er-Jahre hätten ein neoliberales Modell verankert, das Privatisierung, Deregulierung und drastische Kürzungen öffentlicher Ausgaben verlangte.

Der Anteil solcher „strukturelle[n] Bedingungen“ habe seit den 1990er-Jahren deutlich zugenommen und sei auch nach der globalen Finanzkrise 2008 ein zentrales Merkmal geblieben. Diese Bedingungen legten nicht nur Ziele fest, sondern beeinflussten auch die Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, wodurch der Einfluss des IMF auf die Innenpolitik seiner Mitgliedsstaaten erheblich gestärkt wurde. Besonders einkommensschwache Länder seien hiervon betroffen. Dies sei nicht nur Ausdruck ihrer begrenzten Verhandlungsmacht, sondern auch ein Hinweis darauf, dass die Last der Anpassung oft den Staaten mit den schwächsten institutionellen Kapazitäten auferlegt werde.

Entgegen der offiziellen Rhetorik des IMF, seine Kreditbedingungen reformiert zu haben, zeigt die Analyse zudem, dass strukturelle Bedingungen nach der globalen Finanzkrise 2008 ein häufiges Mittel der Wahl geblieben sind. Zwar sei in den letzten Jahren eine stärkere Betonung sozialer Sicherheitsnetze und "sozialverträglicher" Reformen in den Programmen des IMF angekündigt worden, jedoch bleibe der Einsatz von strukturellen Maßnahmen wie der Reform von Rentensystemen, der Liberalisierung von Arbeitsmärkten und der Privatisierung öffentlicher Unternehmen ein dominantes Merkmal.

Neben der Datenanalyse liefert Teil 1 eine fundierte Darstellung methodischer Herausforderungen, die sich bei der quantitativen Analyse der Effekte von IMF-Bedingungen ergeben. Besonders die Komplexität, kausale Zusammenhänge zwischen Kreditbedingungen und sozialen Ergebnissen herzustellen, wird eingehend thematisiert. Durch die Entwicklung neuer statistischer Ansätze und den Einsatz von Regressionsanalysen gelingt es den Autoren, gezielt herauszuarbeiten, welche Bedingungen potenziell negative Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik der betroffenen Staaten haben. Diese Kombination aus einem einzigartigen Datensatz, einer fundierten deskriptiven Analyse und der gut verständlichen Darstellung des analytischen Vorgehens zur Untersuchung der kausalen Effekte von Kreditbedingungen macht diesen Abschnitt des Buches zu einem wichtigen Beitrag für die Forschung und die öffentliche Diskussion über die Praxis und Auswirkungen der IMF-Kreditbedingungen.

Ungleichheit und höhere Neugeborenensterblichkeit: Die sozialen Auswirkungen strenger IMF-Konditionalitäten

Teil 2 umfasst die Kapitel 4 bis 6 und widmet sich den Auswirkungen der Kreditbedingungen auf Gesundheitsausgaben, Einkommensungleichheit und Gesundheitsergebnisse. Diese Kapitel folgen einem klaren, gut nachvollziehbaren Schema. Die Autoren beleuchten zunächst anhand der bestehenden Literatur, wie sich verschiedene Kreditbedingungen auf die jeweiligen Bereiche auswirken könnten. Sie überprüfen diese theoretischen Erwartungen sodann mit Hilfe von Regressionsanalysen und stützen ihre Ergebnisse durch zusätzliche qualitative und quantitative Studien.

Kapitel 4 zeigt, dass IMF-Bedingungen, die auf Kürzungen öffentlicher Ausgaben abzielen, die Finanzierung von Gesundheitssystemen insbesondere in Subsahara-Afrika untergraben. Lohnobergrenzen und Stellenstreichungen im Gesundheitssektor schwächten die Fähigkeit dieser Länder, grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen und auf Gesundheitskrisen zu reagieren. Kapitel 5 widmet sich der Einkommensungleichheit innerhalb der kreditnehmenden Staaten. Es zeigt, dass Kreditbedingungen zur fiskalischen Konsolidierung und Handelsliberalisierung die Einkommensschere weiter öffnen. Diese Maßnahmen, häufige Elemente von IMF-Programmen, förderten mithin systematisch die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten, während ärmere Gruppen mit steigenden Lebenshaltungskosten und eingeschränkten Sozialleistungen konfrontiert werden. Besonders gravierend seien die Auswirkungen in Ländern mit schwacher sozialer Infrastruktur, in denen die ärmeren Bevölkerungsschichten oft besonders stark belastet werden. Kapitel 6 analysiert die Auswirkungen von Kreditbedingungen auf die Gesundheitsversorgung und die Neugeborenensterblichkeitsrate. Es zeigt, dass Privatisierungsauflagen und Deregulierungen den Zugang zu essenziellen Gesundheitsdiensten erschweren. Besonders einkommensschwache Haushalte würden durch gestiegene Kosten und reduzierte staatliche Angebote von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Diese Maßnahmen führten zu einer höheren Neugeborenensterblichkeitsrate in Ländern mit strengen IMF-Konditionalitäten, was die Kürzungen im öffentlichen Gesundheitssektor besonders dramatisch macht.

Teil 3 wagt einen Ausblick. Kentikelenis und Stubbs versuchen anhand der Programme, die der IMF angesichts der COVID-19-Pandemie vergeben hat, herauszuarbeiten, ob der IMF seine Kreditbedingungen nachhaltig reformieren wird, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu mildern, wie es öffentlich angekündigt wurde. Ihre Analyse zeigt jedoch, dass der IMF zwar rhetorisch Reformen propagiert, seine Praxis jedoch weiterhin von Austeritätsmaßnahmen geprägt ist. Kentikelenis und Stubbs fordern daher weniger und einfachere Kreditbedingungen, mehr Transparenz und eine stärkere Berücksichtigung sozialer und ökologischer Ziele, um eine nachhaltigere und gerechtere Entwicklung zu fördern. Eine solche Neuausrichtung, so argumentieren sie, sei dringend erforderlich, um die strukturellen Ungleichheiten in der Weltwirtschaft zu mindern und den IMF zu einem Instrument zu machen, das sozialen Fortschritt aktiv unterstützt.

Ein Meilenstein der Erforschung sozialer Verantwortung internationaler Organisationen

„A Thousand Cuts“ ist ein Meilenstein in der Forschung zu internationalen Organisationen und deren sozialer Verantwortung. Die beeindruckend detaillierten Daten und die methodischen Innovationen machen das Buch zu einer unverzichtbaren Ressource für Wissenschaftler*innen und politische Entscheidungsträger*innen. Besonders hervorzuheben ist die Kombination von neuartigen Regressionsanalysen mit qualitativen Fallstudien, die es den Autoren ermöglicht, ein umfassendes und differenziertes Bild der sozialen Auswirkungen von IMF-Programmen zu zeichnen.

Trotz dieser Stärken bleibt das Buch nicht frei von Kritik. Ein Schwachpunkt ist, dass die Autoren zwar die Auswirkungen der Kreditbedingungen analysieren, dabei jedoch die politischen Zwänge, denen der IMF unterliegt, weitgehend unbeachtet lassen. Der Fonds agiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist eingebettet in ein komplexes Netz aus globalen Machtverhältnissen, wirtschaftlichen Interessen und institutionellen Zwängen. Diese Dimension hätte eine tiefere Betrachtung verdient, insbesondere um die Frage zu klären, wie realistisch es ist, die Rolle und Konditionalität des IMF grundlegend zu reformieren.

Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Frage nach Alternativen. Vergleichbar mit Impfstoffen oder Medikamenten, kreist die Debatte um IMF-Programme vor allem um die Frage, welche Nebenwirkungen akzeptabel sind und wie diese im Verhältnis zum Behandlungserfolg stehen. Das Buch zeigt eindrucksvoll die sozialen Nebenwirkungen von IMF-Programmen auf, bleibt jedoch vage in Bezug auf mögliche alternative Ansätze zur Behandlung von Zahlungsbilanzproblemen. Diese Leerstelle ist besonders relevant, da Zahlungsbilanzprobleme oft nicht nur finanzielle Instabilitäten, sondern auch weitreichende politische und soziale Krisen auslösen können. Die Autoren gehen kaum darauf ein, ob sie der Auffassung sind, dass die Krankheit „Zahlungsbilanzprobleme“ einer völlig anderen Therapie bedarf oder ob sie lediglich für eine Verringerung der „Nebenwirkungen“ der IMF-Maßnahmen plädieren. Der Eindruck entsteht, dass sie an einigen Stellen implizit davon ausgehen, dass Zahlungsbilanzprobleme ohne Nebenwirkungen gelöst werden könnten. Dies wirft die kritische Frage auf, ob solche Lösungen tatsächlich existieren und wie hoch der Preis – in Form von sozialen oder ökonomischen Kosten – sein darf, um den gewünschten Behandlungserfolg zu erzielen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „A Thousand Cuts“ ein unverzichtbarer Beitrag zur Debatte über die soziale Verantwortung internationaler Organisationen ist. Die kritischen Punkte verdeutlichen jedoch, dass zukünftige Forschung die politischen Rahmenbedingungen und mögliche Alternativen zur bestehenden Konditionalität des IMF stärker in den Blick nehmen sollte.


Anmerkungen:

[1] International Monetary Fund (2020) Articles of Agreements, Washington: IMF.  Art. 5 Abs.3a

[2] Vergleiche Clark, Richard (2022): Bargain Down or Shop Around? Outside Options and IMF Conditionality, in: The Journal of Politics 84 (3), S. 1791–1805 oder Kern, Andreas/Reinsberg, Bernhard (2022): The Political Economy of Chinese Debt and International Monetary Fund Conditionality, in: Global Studies Quarterly 2 (4), S. 1–14 oder Shim, Sujeong (2022): Who Is Credible? Government Popularity and the Catalytic Effect of IMF Lending, in: Comparative Political Studies 55 (13). S. 2147–2177.



DOI: 10.36206/REZ25.8
CC-BY-NC-SA
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