Sophie Schönberger, Thomas Poguntke (Hrsg.): Politische Skandale und politische Macht
Politische Skandale können starken Einfluss darauf haben, wie politische Entscheidungen und Institutionen wahrgenommen werden. Die Beiträge untersuchen, welche politische Macht solchen Skandalen innewohnt, wie sie legitimiert wird und ob es Mechanismen gibt, sie zu lenken. Unser Rezensent lobt den interdisziplinären Band als zeitdiagnostisch und politiktheoretisch anregende Lektüre. Der Autor*innenschaft gelinge es, die Effekte von digitalisierter Kommunikation auf Ablauf und Formen gegenwärtiger politischer Skandale in modernen Gesellschaften und ihren Öffentlichkeiten nachvollziehbar darzulegen.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Moderne, hoch differenzierte demokratische Gesellschaften, lesen wir bei Niklas Luhmann, setzen eine strukturelle Nichtidentität des Moralcodes und des politischen Codes voraus[1]. Regierungen gelten nicht qua Mehrheit moralisch besser als die Opposition. Das politische System regelt vielmehr selbst, „in welchen Hinsichten und in welchen Formen Moral relevant wird“[2]. Das lässt sich am typischen Verlauf politischer Skandale ablesen[3]. Bisher jedenfalls wird ihnen die Funktion zugeschrieben, über die Skandalisierung der Verletzungen amtsbezogener Regeln und normativer Erwartungen, „dem politischen System vor Augen zu führen, wie sehr es in entscheidenden Hinsichten von freiwilliger Beachtung des Codes und von Vertrauen abhängt“[4]. Da die Skandalisierung von Regelabweichungen wesentlich durch eine vom etablierten Mediensystem getragene politische Öffentlichkeit erfolgt, bleibt abzuwarten, ob und inwiefern die Digitalisierung der Kommunikation auch die Funktion politischer Skandale verändert.
Die durch die Digitalisierung markierte Zäsur hinsichtlich Form und Ablauf öffentlicher Skandaldebatten ist auch auf dem 2023 durchgeführten Parteiwissenschaftlichen Symposion des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf aufgegriffen worden. Die Beiträge des Symposions diskutierten das Thema „Politische Skandale und politische Macht“ aus Sicht der Politik-, Rechts-, Geschichts- und Kommunikationswissenschaft sowie der Soziologie. Um es vorwegzunehmen: Der angekündigte „interdisziplinäre Dialog“ ist in diesem Sammelband allenfalls implizit ablesbar, die einzelnen Beiträge folgen in der Hauptsache den Perspektiven der jeweils vertretenen Fachdisziplin.
Zum Wesen des politischen Skandals
In ihrer Einführung hebt Sophie Schönberger das aus verfassungstheoretischer Sicht ambivalente Verhältnis zwischen politischen Skandalen als Medium öffentlicher Kontrolle und dem demokratischen Prozess hervor. Gemeint ist damit die für repräsentative Demokratien zentrale „Bruchstelle zwischen Person und demokratischem Amt“ (15). Diese Differenz lebe in wesentlicher Hinsicht von normativen Imaginationen, die sich aus der Organisation des demokratischen Verfassungsstaates ergeben, dazu gehöre die fiktive Trennung zwischen „dem Staat als juristischer Person und den natürlichen Personen, die in dem und für den Staat handeln“ (15). Im politischen Skandal werde nun die Grenze zwischen der amtsführenden Person und dem Amt brüchig – für Schönberger ein Hinweis auf den Widerspruch zwischen dem normativen Versprechen der Demokratie und der faktischen Ungleichheit in der Verteilung der Macht.
An Skandalbeispielen des Kaiserreichs (1888-1918) stellt Martin Kohlrausch heraus, dass sich in diesen Jahren das moderne Medienensemble herausbildete und in seiner Handlungslogik, zumal im Umgang mit politischen Skandalen, bis ins frühe 21. Jahrhundert prägend blieb. Zwar dienten im monarchischen System Skandale „auch als Surrogat für die über das Parlament nur unzureichend mögliche Partizipation“ (27). Aber schon in dieser Phase – also vor der später erfolgenden Professionalisierung des Mediensektors – seien bereits typische Aspekte moderner Skandaldynamik zu beobachten. Dazu zählt er zum einen die im Rahmen einer sich verstärkenden Aufmerksamkeitsökonomie erfolgende Personalisierung politischer Fragen, zum anderen das von einer “Celebrisierung von Politik“ erzeugte Versprechen direkter Kommunikation zwischen politischer Prominenz und Publikum (28 f.). Im Rückblick erscheine offen, ob wir heute mit dem Internet und den sozialen Medien „an den Endpunkt eines abgrenzbaren Zeitalters des modernen Medienskandals gekommen sind“ (30).
Zur Funktionalität politischer Skandale in (vor)digitalen Zeiten
Mit dieser Frage setzen sich Jasmin Siri und Nils Christian Kumkar explizit auseinander. Dafür heben sie zunächst noch einmal die Funktion des Skandals in der vordigitalen Ära hervor, zur moralischen Regulation von Politik beizutragen, wobei die Skandaldynamik – als Abfolge von Enthüllung, Kritik und Abschluss (in Gestalt von Sanktion oder Themenwechsel) – weitgehend von den professionellen Massenmedien bestimmt wurde (35 ff.). Demgegenüber unterlaufe die Digitalisierung der Kommunikation die klassische Rollenverteilung zwischen Skandalisierten, Skandalisierern und Sanktionsinstanzen – soziale Medien konstituierten „nicht nur eine andere Autorschaft, sondern auch ein anderes Publikum“ (36). Die technisch hervorgebrachte Revolutionierung der Beobachtungsverhältnisse und die damit einhergehende Möglichkeit niedrigschwelliger politischer Meinungsäußerung habe weitreichende Folgen für die Funktionalität politischer Skandale (49 ff.). Diese Folgen fassen Siri und Kumkar in einer pointierten These zusammen: „Statt der Reflexion von Normen und ihrer Integration in politisches Handeln finden wir unter den Bedingungen sozialer Medien ausufernde Skandalisierungsbereitschaft und mithin eine beträchtliche Provinzialisierung von Normen vor“ (35). Es sei zu vermuten, dass Skandalisierungen künftig einerseits Prozesse affektiver Polarisierung von Gesellschaft verstärken, andererseits Bedeutung für soziale Bewegungen, aber auch einzelne Nutzer*innen eher aufgrund ihrer identitätspolitischen Effekte erhalten würden (53).
Auf Basis ausgewählter empirisch-vergleichender Untersuchungen diskutiert Florian Grotz die Frage, inwiefern politische Skandale als Gefährdung, Normalität oder Stärkung der repräsentativen Demokratie verstanden werden können. Die Empirie liefere für diese Zusammenhänge kein einheitliches Bild; zwar seien Effekte für involvierte Akteure relativ breit untersucht – so mit Blick auf Kadidatenbewertungen, Amtsverbleib oder Wiederwahl –, aber Wirkungen auf der Systemebene seien seltener Gegenstand aussagekräftiger Studien (64 ff.). Für die mit der Ausgangsfrage benannten drei Aspekte sieht Grotz unterschiedliche Anhaltspunkte, die künftig anhand kritischer Fälle intensiver untersucht werden sollten (69 f.). Die Normalitätsthese habe vor allem Geltung für Skandale, die innerhalb der etablierten politischen Wettbewerbsstrukturen aufträten und bewältigt würden. Die Stärkungsthese sei besonders hinsichtlich „großer“, formativer Skandale interessant und theoretisch herausfordernd, aber empirisch noch nicht ausreichend untermauert. Bei der Gefährdungsthese könnte man an abnehmendes Systemvertrauen denken, relevanter sei zweifellos eine Konstellation, in der aufgrund sozialer Polarisierung „die Kriterien für normwidriges Verhalten […] nicht mehr breit geteilt werden“ (70).
Zwischen Boris Johnson, Hitler-Tagebüchern und der Plagiatsaffäre Guttenberg
In einer sehr detaillierten Analyse rückt Anthony Glees Karriere und Rücktritt von Boris Johnson in den übergreifenden Kontext von Institutionen und politischer Kultur Großbritanniens. Der Fall Johnson habe ein besonderes Gewicht, weil „Johnson’s behaviour in respect of rules but also his personal finances has crossed the bar for corruption […], indeed not just once, but repeatedly“ (79). Mit Blick auf die politische Instabilität seit 2016 (gemessen am Wechsel der Besetzung von Führungspositionen), aber auch in längerfristiger Perspektive mit dem ökonomischen Niedergang, den krassen regionalen Disparitäten und der Brexit-Entscheidung legt Glees eine Deutung nahe, die den Fall Johnson als Symptom einer tiefgreifenden Krise des britischen politischen Systems selbst sieht (98 f.).
Ulrich von Alemann gibt einen unterhaltsamen Überblick über den Stand der Skandalforschung und angrenzende Behandlungsformate. Seine daraus abgeleiteten Unterscheidungen zur Skandalsystematik (Anlässe, Akteure, Arenen, Abläufe, Auswirkungen) (107 ff.) illustriert er dann an fünf Fallbeispielen: dem Film „Sünderin“ von 1951, der SPIEGEL-Affäre; den Hitler-Tagebüchern, dem Barschel-Skandal und der Missbrauchsaffäre der Katholischen Kirche (114 ff.). Seine Erläuterungen beziehen sich durchgehend auf die vordigitale Phase des klassischen Skandals, in der die Medien nicht nur als Vermittler, sondern als zentrale Akteure fungierten (111).
Die Rolle des Rechts im politischen Skandal diskutiert Frederik Orlowski an drei prominenten jüngeren Beispielen: der Affäre Wulff, der Maskenaffäre und der Plagiatsaffäre Guttenberg. Über die Spezifik dieser Beispiele hinaus lasse sich an ihnen ablesen, dass der „politische Skandal und das Recht […] miteinander verwoben, nicht aber zwingend kongruent“ seien (125). Weil es sich bei politischen Skandalen weitgehend um informale Prozesse handele, werde ihr Verlauf nicht vom Recht gesteuert. Gleichwohl könnten Skandale – wie die Maskenaffäre mit Blick auf eine Konkretisierung der Unabhängigkeit des Abgeordnetenmandates – die Funktion von „Rechtsinkubatoren“ erfüllen, die „in vergleichsweise kurzer Zeit eine erhebliche Fortschreibung des materiellen Rechts bewirken können“ (135).
Neuere Skandalforschung und neue Skandalmuster
Die neuere Skandalforschung orientiere sich, so Steffen Burkhardt, stärker an einem konstruktivistischen Verständnis, das Platzierung und Verlauf von Skandalen – unabhängig davon, ob eine Regelverletzung tatsächlich vorliege – als Elemente eines Kommunikationsprozesses konzeptualisiere, in dem „soziale Normen zwischen moralischen Kollektiven ausgehandelt“ werden (146). Auf Basis dieser relativ formalen Sicht ließen sich die Auswirkungen digitalisierter Kommunikation auf den Umgang mit Skandalen berücksichtigen. Dazu zählt Burkhardt vor allem drei Aspekte (147). Erstens eröffneten die sozialen Medien ein durchsuchbares Themenreservoir, aus dem sich Skandalisierer bedienen können. Zweitens seien im digitalen Raum anonyme Reproduktions- und Distributionsmöglichkeiten entstanden, „mit denen Skandalvorwürfe […] eine exponentielle Viralität erhalten“. Und drittens habe der Journalismus schließlich seine exklusive Deutungshoheit über Skandale verloren, was Parteien und den demokratischen Prozess vor folgenschwere Probleme stelle. Zumal mit der Automatisierung von öffentlichen Diskursen durch Künstliche Intelligenz das Risiko einer zunehmenden Radikalisierung der politischen Kommunikation entstehe (163).
Hanne Detel arbeitet in ihrem Beitrag heraus, dass sich in digitalen Medienumgebungen ein neues Skandalmuster herausbildet. Während der klassische politische Skandal in der vordigitalen Ära idealerweise zu einer Vergewisserung über gesellschaftliche Wertsysteme geführt habe, zeichne sich in digitalisierten Medienkontexten ein Kontrollverlust ab, der gleichermaßen Akteure und Themen betreffe. Die mit der Digitalisierung einhergehenden informationstechnischen Veränderungen entkoppelten den politischen Skandal von seiner „Fesselung an die lineare, weitgehend interaktionsfreie Logik der Massenmedien“ und ließen das Publikum selbst zum Akteur werden (172 ff.). Skandalisierungen im Internet schienen nahezu beliebigen Charakter anzunehmen, weil die verwendeten Daten und Dokumente eine zeitliche, räumliche und kulturelle Entbindung vom ursprünglichen Äußerungskontext erlaubten, die kaum noch kontrolliert werden könne (178 ff.).
Fazit
Aufs Ganze gesehen ist der von Schönberger und Poguntke herausgegebene Sammelband sowohl unter zeitdiagnostischen wie unter politiktheoretischen Aspekten anregend. Das gilt in erster Linie natürlich für die empirisch wie theoretisch zentrale Frage, ob mit der Digitalisierung der Kommunikation eine durchgreifende Veränderung von Form und Ablauf politischer Skandale einsetzt. Wenn das der Fall sein sollte – und einige der Beiträge liefern plausible Argumente für diese Sicht – würden sich erhebliche Konsequenzen für ein demokratietheoretisch anspruchsvolles Verständnis politischer Öffentlichkeit ergeben. Die Schwächung des professionellen Mediensystems und die Herausbildung fluider Gegenöffentlichkeiten könnten nämlich zu einer Erosion der normativen Selbstbindung politischer Akteur*innen beitragen.
Anmerkungen:
[1] Luhmann, Niklas (1994): Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik, in: Kemper, Peter (Hg.): Opfer der Macht. Müssen Politiker ehrlich sein? Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, S. 27-41.
[2] Luhmann, Niklas (1994): a. a. O., S. 40.
[3] Ebbighausen, Rolf; Neckel, Sighard (Hg.) (1989): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
[4] Luhmann, Niklas (1994): a. a. O., S. 39.
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