Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte
Martin Schulze Wessel unternimmt eine tour d’horizon durch die russische Geschichte seit Peter I. und macht dabei in der sich zunehmend entwickelnden Verbindung von Großmachtspolitik und russischen Nationalimus einen „Fluch des Imperiums“ aus – insbesondere im identitätsstiftenden Verhältnis zur Ukraine und Polen. Der Historiker wolle damit zur Erklärung des Ukrainekriegs abseits der historischen Konstruktionen Putins beitragen, doch Arno Mohr warnt trotz gewonnener Einsichten vor einer „beachtlichen Prise Determinismus“ der Analyse, die „eine gewisse Gleichförmigkeit in die Landesgeschichte“ hineinlese.
Eine Rezension von Arno Mohr
Am 24. Februar 2022 fielen russische Armeeverbände auf Geheiß Präsident Putins in die Ukraine ein. Die Hauptstadt Kiew und Großstädte wie Charkiw waren massiven Luftangriffen ausgesetzt. In Moskau nannte man diese Vorgehensweise nicht „Krieg“ – obwohl es nichts anderes war –, sondern verharmlosend „militärische Spezialoperation“. Begründet‘ wurde diese damit, die Ukraine zu „entmilitarisieren“ und zu „entnazifizieren“. Dem ‚Leiden‘ der Menschen sollte ein Ende bereitet werden; Russland müsse sich selbst schützen. Putin stellte in einer langen Rede am 21. Februar im Staatsfernsehen die Behauptung auf, im Donbass – den beiden Separatistenrepubliken Luhansk und Donezk – werde es zu einem „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung infolge des Angriffs der ukrainischen „Militaristen“, die Putin als „Neonazis“ bezeichnet, kommen. Jener Bevölkerung beizustehen, sei Russlands erste Pflicht.
Offensichtlich suchte Putin in Kiew eine Marionettenregierung einzusetzen, die ganz nach der Pfeife Moskaus tanzen sollte, und somit möglicherweise den Beitritt des Landes zu Russland durch scheinlegitime Maßnahmen – gefälschte Wahlen oder getürkte ‚Volksabstimmungen‘ – voranzutreiben. Einem Satrapenregiment in Kiew sollte aufgetragen werden, feierlich zu erklären, auf jegliche Beitrittsgelüste in die NATO zu verzichten. So lag es in der Konsequenz von Putins Rhetorik, dass er in seiner Fernsehrede all jenen Akteuren, die in diesen Konflikt einzugreifen gedachten, klar zu erkennen gab: Die Freunde der Ukraine seien Russlands Feinde und müssten daher mit entsprechend unangenehmen Konsequenzen rechnen, „mit denen (s)ie in ihrer Geschichte noch nie konfrontiert waren.“[1]
Geschichte als Politikum
‚Geschichte‘ ist nicht nur Vergangenes, nicht nur Aufzeichnung von res gestae, sondern in hohem Maße ein Politikum, die res gerendae betreffend, das es erlaubt, ‚Geschichte‘ nach jeweiligem Gutdünken ‚sinnstiftend‘ umzudeuten. Als Faustregel mag gelten: Der Grad dieses Umdeutens bestimmt sich nach dem Grad der autoritären Verfasstheit des politischen Systems. Um die Interpretationen Putins verstehen zu können, so abstrus sie uns auch erscheinen mögen, sollten wir uns auf die Erkenntnisse der Fachleute für die Geschichte Osteuropas einlassen.
Der renommierte Ost- und Südosteuropahistoriker Martin Schulze Wessel ist in Deutschland einer der wenigen, der die historischen Zusammenhänge von Putins Überfall für ein breiteres Publikum verständlich zu machen versucht. Sein Buch bietet dafür eine Fülle von Hinweisen, Belegen, Informationen und Interpretationen. Für ihn beruhen Putins Legitimierungsversuche im Wesentlichen auf eigenwilligen Regressen auf die russische Geschichte: „Der russische Präsident ist ein Amateurhistoriker der schlimmsten Art […]“ (8). Man müsse also, so Schulze Wessel, auf diese Geschichte ein großes Augenmerk werfen, um diesen Krieg verstehen zu können. Für Putin habe Geschichte nicht nur einen instrumentellen, sondern geradezu einen missionarischen Wert. Er wolle der Ukraine mit historischen Gründen jegliches Existenzrecht absprechen. Seine Manipulationen und Geschichtsklitterungen zeugten von einer Obsession, die es kaum ermögliche, ihr mit rationalen Mitteln entgegenzuwirken.
Dieses Buch stellt sich dieser Aufgabe, dies ist sein einziger Zweck. Der Autor meint, dass das ‚Hier und Jetzt‘ ihr historisches Gewordensein bestimme, aber immer wieder begegne man der Gegenwart in der Vergangenheit. Dies geschehe auf dreifache Weise: durch Geschichtszitate historischer Akteure, durch Analogieschlüsse und durch Pfadabhängigkeiten (17). Schulze Wessels tour d’horizon durch die russische Geschichte seit Peter dem Großen konzentriert sich „auf die Verbindung von imperialer Politik, Außenpolitik und Identitätsentwürfen, in der sich die Tradition des Imperiums mit russischem Nationalismus verband“. In dieser Konstellation sieht er den „Fluch des Imperiums“ (20).
Polen, die Ukraine und ihre Rolle bei der russischen Identitätsbildung
Ins Auge sticht in diesem Buch die Einbeziehung Polens und der Ukraine in den Rahmen des russischen Expansionismus. Dieses jeweils unterschiedliche Verhältnis, so der Autor, sei Ausgangspunkt hinsichtlich der Schaffung einer russischen Identität. Denn je nachdem, wie groß der Abstand der beiden Nationen – in Phasen, wo sie noch autonom waren – zu Russland gewesen sei, bemisst sich der Raum, der für diese angepeilte Identitätsformierung in Russland die Voraussetzung darstellt. Polen zählte für Russland zum äußeren, die Ukraine zum inneren Russland. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen im 19. Jahrhundert waren in den Augen der nationalistisch-imperialistischen Ideologen in Russland vom Westen ventiliert; und hinter dem Verlangen nach Autonomie der Ukrainer wähnten sie polnische Intrigen (16 f.).
Schon Peter I., der Große, (Zar von 1689 bis 1725) sei für Putin eine „usable past“, ein zentrales Moment für die Rechtfertigung seines Krieges gegen die Ukraine: Peter habe damit begonnen, „russisches Land“ zurückzuerobern (24). Als Russland im Juni 1709 bei der ukrainischen Stadt Poltava die Schweden sowie den ukrainischen Hetman Mazepa entscheidend besiegt hatte, stilisierte der Theologe und Rektor der Kiewer Akademie Prokopovič wenig später Peter zum „Vater des Vaterlands“, obwohl er zutiefst polnisch geprägt war. „Poltava“ war für Russland der erste Gründungsmythos und das abtrünnige Verhalten des ukrainischen Hetmans Hochverrat an der russischen Sache. Russische Geschichtswissenschaft, Kunst und Literatur sorgten im Laufe der Jahrhunderte dafür, dass dieser Mythos und darin eingeschlossen die Glorifizierung des russischen Imperiums Ewigkeitswert erhielten (36 f.). Der Sieg im Nordischen Krieg über Schweden (1700-1721), der bis dahin tonangebenden Macht an der Ostsee, war, so der Autor, die historische Basis für den imperialen Expansionismus Russlands in Richtung Westen.
Parallelen zu Putin sieht Schulze Wessel auch im politischen Regiment Katharinas II. (Zarin von 1762 bis 1796). Sie war gewissermaßen die Vollenderin von Peters imperialer Macht- und Interessenspolitik (46-69), da sie die Eroberung der Krim (1783) bewerkstelligte. Auch hier stand die Unterstützung von orthodoxer bzw. ethno-russischer Minderheit am Anfang von Intervention und Eroberung. Katharina inspirierte Putins Annexionspolitik, so Schulze Wessel. In einem Essay über die historische Einheit von Russen und Ukrainern bezog sich Putin ausdrücklich auf Katharinas Formel, dass sie „Entrissenes zurückgebracht“ habe (69). Der gesamte Staat mit allen eroberten Gebieten wurde mit einer rationalisierten Staatsbürokratie aus dem Geiste einer rigiden Russifizierungspolitik ausgestattet. Ein Ziel bestand, hinsichtlich der Ukraine, in der „Vernichtung des Gedächtnisses des Hetmanats“ (47).
Das spätere Projekt der „Heiligen Allianz“ im Gefolge des Wiener Kongresses (1814/15) von Alexander I. (Zar von 1801 bis 1825) besaß zwar eine sakrale Stoßrichtung (Ökumene der Christenheit) , war aber in Wirklichkeit gegen jegliches nationales Selbstständigkeitsstreben gerichtet (80). Schon in dieser Zeit seien Formen eines russischen „Exzeptionalismus“ zutage getreten, hergeleitet aus dem schmählichen Scheitern von Napoleons Grande Armée vor den Toren Moskaus 1812 (85). Alexander Puschkin (1799-1837), der „russischste“ aller russischen Dichter, war die zentrale Figur der russischen Kulturnation. Das heutige Regime macht sich dies zunutze, so zum Beispiel Außenminister Lawrow in einem am 1. November 2022 offiziell verbreiteten Video. Dieses nimmt Bezug auf ein Gedicht Puschkins über den polnischen Aufstand im November 1830, das von Putins Propaganda als Brücke zwischen diesem Aufstand und dem Ukrainekrieg umgedeutet wurde (95).
Eine Katastrophe für Russlands nationales Selbstverständnis stellte der Krimkrieg dar (1853-1856). Streitobjekte waren Gebiete des geschwächten Osmanischen Reichs, sodass westeuropäische Staaten - unter anderem Frankreich und Großbritannien, eingriffen, um Gebietserweiterungen Russlands zu verhindern. Der Krimkrieg habe die „Legierung des Imperiums mit russischem Nationalismus und orthodoxer Kirche“ bewirkt, verbunden mit dem „Mission“ der Verteidigung des Slawentums und der orthodoxen Kirche (114). Schulze Wessel spricht von einer „transzendentalen Aufgabe“ des Zarenreichs (137). Die Krim sei, so der Historiker, zu einem „heiligen Ort verklärt“ worden (115). Allerdings war der Traum der lang ersehnten Eroberung Konstantinopels und der Errichtung eines „Dritten Rom[s]“ endgültig ausgeträumt.[2]
Ideenpolitisch war Russland im 19. Jahrhundert geprägt durch den Kampf zwischen den „Westlern“ und den Slawophilen. Schulze Wessel will in Bezug auf den Nationsbegriff und den Vorstellungen über das Imperium zwischen den beiden intellektuellen Lagern keinen scharfen Trennungsstrich ziehen, wie es in der Forschung gemeinhin geschieht. Denn auch „Westler“ wie der Literaturkritiker Vissarion Belinskij (1811-1848) sahen zum Beispiel in den Ukrainern lediglich „eine Art seltsamer Gemeinde asiatischer Art“, die nur den Fortschritt ausbremsten (129). Das slawophile Gedankengut transformierte sich in den Jahrzehnten nach dem Krimkrieg zu einer aggressiven panslawistischen Ideologie. Die „Bibel“ des Panslawismus, Nikolaj Danilevskijs (1822-1885) Buch „Russland und Europa“ (1869), enthielt die scharfe Scheidung von Russland als einer „rechtgläubige(n) Zivlisation“ vom Westen als einer „auf Lüge basierenden Gegenzivilisation“ (135). Danilevskij sah in den Polen „verdorbenes Slawentum“, in den russischen Staat nicht integrierbar, das von der Ukraine abgeschottet werden müsse. Schulze Wessel erblickt in all diesen Konzeptionen das Paradigma einer critical rupture, einer scharfen Zäsur gegenüber westlichen Einwirkungen, die bis heute die politischen und ideologischen Leitlinien Russlands bestimmen: eine orthodoxe ostslawische Gemeinschaft in einem souveränen Territorium, die Unvergleichlichkeit Russlands, die Vorstellung von einer manifesten westlichen Russophobie sowie die Vorstellung von einer „transzendentalen“ Aufgabe Russlands (137).
Die „Folgerichtigkeit“ imperialer Hegemonieansprüche Russlands lasse sich auch nicht hinwegdiskutieren, als mit der erfolgreichen Oktoberrevolution 1917 die Bolschewiki die Macht übernahmen und eine Diktatur des Proletariats errichteten. Damit sei zunächst intendiert gewesen, dass sich die „nationale Frage“ erübrigen würde. Die Nationalität war laut Schulze Wessel in den Augen der Bolschewiki ein Attribut der bürgerlichen Gesellschaft, das noch einige Zeit weiter existieren würde (177). Aber der Internationalismus der kommunistischen Bewegung sei bald einer von Stalin inaugurierten Doktrin des Aufbaus des „Sozialismus in einem Land“ gewichen, als dieser erkennen musste, dass die Weltrevolution ausblieb. Der Autor ist der Meinung, dass das internationalistische Interesse des Modells sowjetischer Herrschaft, das in dem Schlachtruf „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“ versinnbildlicht war, einer nationalrussischen Außenpolitik gewichen sei, was auch die Rehablitierung eines Begriffs von „Patriotismus“ zur Folge hatte (188 f.).
Ein anderes Beispiel für die Priorisierung geopolitischer Vorstellungen in der Sowjetunion stellt der Holodomor in der Ukraine 1932/33 dar, die von Stalin befohlene Liquidierung der „Klasse“ der Kulaken (Großbauern), gepaart mit der planmäßig betriebenen Aushungerung der ukrainischen Bevölkerung (vier Millionen Ukrainer*innen verendeten grausam) – neben der Katastrophe von Tschernobyl das ukrainische Trauma schlechthin. Schulze Wessel ist davon überzeugt, dass die forcierte Industrialisierungspolitik Stalins auf Kosten des landwirtschaftlichen Sektors, die als Instrument der Modernisierungspolitik das Sowjetvolk in „ein besseres Morgen“ führen sollte, eben nicht, wie vielfach behauptet, die eigentliche Ursache des Holodomor war. Stattdessen sei es vielmehr die Befürchtung Stalins gewesen, die Ukraine könnte aus dem sowjetischen Imperium wegbrechen (188 f.). Im Stalinismus habe sich, so der Autor, ein „russozentrischer Etatismus“ herausgeschält, in dem sich „‘sowjetische patriotische Identität und russische nationale Identität‘“ verschmolzen hätten (195). Dieser Patriotismus sollte im Großen Vaterländischen Krieg zur vollen Wirkung gelangen. Dieser habe ideologische Anleihen aus der vorrevolutionären russischen Geschichte erfordert: Schulze Wessel zufolge wurde ein „neuer Bedarf an mythischer und spiritueller Sinngebung“ geweckt und in die Verteidigungsfähigkeit des Landes umgemünzt (210 ff., 214).
Der Zerfall der Sowjetunion hat aber nicht – wie es im Westen erhofft worden war - zu einer Allianz der Demokraten geführt. Die Kurzlebigkeit einer institutionalisierten Demokratie ab 1991 hatte nicht bewirken können, dass der „großrussische Chauvinismus“ sich auflöste. Der Imperiumsgedanke habe weiterhin in noch stärkerem Maße fortgelebt (259 f.). In der Ukraine waren die Maidan-Proteste Ausdruck einer „demokratischen und nationalen Revolution“. Vordergründig war der Protest gegen den Verzicht der Präsidialregierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, gerichtet. Der Druck aus Moskau war zu groß, um sich dem Westen gegenüber wenigstens ein Stückchen zu öffnen. Als Präsident Janukovich nach Russland fliehen musste, weil die Verbitterung der Bevölkerung zu stark war und er die Protestbewegung nicht mehr einzuhegen vermochte, war sofort Russland zur Stelle und sah in diesem Vorfall einen „faschistischen Putsch“, der vom Ausland inszeniert worden sei (266 f.). Schon damals stand die Ukraine auf Putins Rechnung. Dies um so mehr, seitdem es auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 gelungen sei, der Ukraine unverbindlich einen Beitritt zur Allianz in Aussicht zu stellen (278). Die Weichen für eine „Desouveränisierung“ der Ukraine, auch mit militärischen Mitteln, waren hier schon gestellt. Die Ukraine wurde zu einem failed state erklärt, den Russland nicht in seiner Nachbarschaft haben wolle (280). Putin setzte zunächst auf die energiepolitische Karte, indem er der Ukraine drohte, den Gashahn abzudrehen, mit gravierenden Folgen für die europäische Versorgung mit Erdgas.
Kontinuitäten bestimmen die imperiale Geschichte Russlands
Nach Ansicht des Autors ziele Russland mit seinem Angriff nicht nur auf die Unterwerfung der Ukraine, sondern auf die europäische Friedensordnung insgesamt. Den Europäern Russophobie zu unterstellen „und Russland als ein Land zu verstehen, das nur als Imperium existieren könne“, bildeten Vorstellungen, die bis zum Krieg gegen die Ukraine immer wieder abgerufen worden seien. Abschließend stellt Schulze Wessel die Frage: Was kann das Studium der imperialen russischen Geschichte zur Erklärung des Angriffs auf die Ukraine beitragen? Er gibt als Antwort: „Der entscheidende Bezugsrahmen des Krieges […] sind russische Kulturmuster, die auf der Grundlage von mächtepolitischen Traditionen und außenpolitischen Erfahrungen entstanden sind“ (302). Nicht Disruption bestimme die imperiale Geschichte Russlands, sondern Kontinuität.
Fazit
Martin Schulze Wessel legt großen Wert auf die Feststellung, dass diese Entwicklung keinem „Masterplan“ gefolgt sei (19 f.). Selbst dem Faktor ‚Anpassungsprozesse‘ im Entwicklungsverlauf des russischen Selbstverständnisses und der entsprechenden Identitätspolitik schreibt der Autor eine bestimmte „Folgerichtigkeit“ zu. An einer Stelle charakterisiert der Autor die imperiale Expansion des Riesenreichs nach Westen „als die Geschichte von gescheiterten Verdauungsprozessen“ (14). Nichts davon sei „unausweichlich“ gewesen. Diese Festlegung impliziert doch offenkundig eine ‚Offenheit‘ der russischen Geschichte. Wie steht es dann aber mit dem „Fluch“, der auf diesem Imperium wie ein Alb liege? Weist das Wort „Fluch“ denn nicht im Wesentlichen auf etwas Schicksalhaftes hin, das es unmöglich macht, sich von abgestorbenen Resten der Vergangenheit zu trennen und der künftigen Entwicklung neue Formen zu geben, auch wenn es sich dabei nicht nur um autochthone Quellen handelt?
Der Analyse Schulze Wessels zur russischen Geschichte seit Peter I., dem Großen, scheint eine beachtliche Prise Determinismus beigemischt zu sein, die eine gewisse Gleichförmigkeit in die Landesgeschichte hineinliest, dessen Wahrheitsgehalt ja einer kritischen Reflexion zugeführt werden sollte. Es besteht nämlich die Gefahr, den historischen Konstruktionen Putins auf den Leim zu gehen und Ursprünge in Putins Äußerungen und Handlungen sehen zu wollen, die nur auf absichtsvollen imaginativen Fehlsteuerungen beruhen. Vom ‚Albtraum‘ spricht auch Schulze Wessels britischer Kollege Mark Galeotti, wenn er Marx zitiert, dass „die Tradition aller toten Geschlechter […] wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden“ laste und daran die Frage knüpft: „Wann wacht jemand aus seinem Albtraum auf und geht seiner Wege?“[3] Dieser Weg kann natürlich nicht derjenige Putins sein. Angesichts des Ukrainekrieges sieht Schulze Wessels nur eine Lösung: Die Russen dürften sich nicht mehr mit dem Imperium identifizieren „und zugleich ihren eigenen Nationsbegriff klären“. Nur auf diesem Wege böte sich die Chance, „eine Nachbarschaft mit der Ukraine ohne Krieg oder Kriegsgefahr“ aufzubauen (298). Offen bleibt jedoch: Wer sollen diejenigen Akteure sein, die diese Sisyphusarbeit bewerkstelligten? Nicht von ungefähr hatte sich Putin zuerst ein autoritaristisches System ohne Opposition zurechtgeschneidert, bevor er sich allein seinen imperialen Plänen verschreiben konnte. Putins Rachefeldzug konnte beginnen.[4]
Anmerkungen:
[1] Zit. nach Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten, 2. Aufl., Stuttgart 2022: 194.
[2] Nach Schulze Wessel wird diese Idee im Westen überschätzt. Diese sei zwar im 16. Jahrhundert entstanden, aber erst im 19. Jahrhundert ins allgemeine nationale Gedächtnis gedrungen.
[3] Galeotti, Mark (2023): Die kürzeste Geschichte Russlands, Berlin: Ullstein Verlag, S. 243.
[4] Auf den Rache-Gedanken verwiesen wird in dem jüngst erschienenen Buch: Kim, Lucian (2025): Putin̕ s Revenge. Why Russia invaded Ukraine, New York: Columbia University Press.
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