Schlaglichter vom DVPW-Kongress 2024: Regieren und Regierungssysteme
Vom 24. bis zum 27. September 2024 fand an der Universität Göttingen unter dem Titel „Politik in der Polykrise” der Kongress der der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) statt. Aufgrund der Menge an Inhalten können wir die vier Kongresstage nicht in ihrer Gesamtheit abbilden. Stattdessen veröffentlichen wir kurze Panelberichte unterschiedlicher Autor*innen als „Schlaglichter“, um das Kongressgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. In diesem Beitrag berichtet Michael Kolkmann (Universität Halle-Wittenberg) über Panels zu den Themen Regierungssystem und gutes Regieren.
Gute Regierung in der Krise
Ein Schlaglicht von Michael Kolkmann
Die Analyse der Performanz von Regierungen zählt seit jeher zu den zentralen Untersuchungegenständen der Politikwissenschaft. Als reflexive Wissenschaft, die sich analytisch mit dem Geschehen im politischen Raum auseinandersetzt, greift sie zudem häufig aktuelle Phänomene auf. In einem von Mahir Tokatli (Universität Aachen) geleiteten Panel blickten gleich vier Beiträge auf aktuelle Tendenzen des „guten Regierens“. Als Discussant der einzelnen Beiträge fungierte Jared Sonnicksen (Universität Aachen).
Volker Best (Universität Halle-Wittenberg) präsentierte eingangs unter der Überschrift „Bonus für gutes Regieren“ seine Ideen für eine sogenannte Mehrheitsprämie. Diese sieht vor, dass der Wahlsieger unter bestimmten Bedingungen einen Bonus erhält, um eine stabile Mehrheit im Parlament erreichen zu können. Denn im Kontext der Veränderungen im Parteiensystem sowie veränderten gesellschaftlichen Konstitutionen werde es immer schwieriger, stabile Zweier-Koalitionen zu bilden. Dreier-Modelle wiesen vielfältige Schwierigkeiten auf, als Alternative bleibe daher häufig nur die Bildung einer Minderheitsregierung. Eine Mehrheitsprämie könne dem gegenüber Abhilfe leisten und politische Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit stärken. Als Fallbeispiele zur Einführung in die Thematik dienten Best die Länder Spanien, Schweden und die Bundesrepublik Deutschland, anhand derer er sein Modell auf der Basis konkreter Wahlergebnisse durchdeklinierte. Das Thema lässt sich im Spannungsfeld von Partizipation, Transparenz und Legitimität verorten und greift damit zentrale Untersuchungsaspekte der politikwissenschaftlichen Forschung auf.
Anschließend legte Moritz Fromm (Universität Frankfurt) sein Augenmerk auf Bürgerräte („Mini-Publics“) als Modus des Regierens. Damit griff er einen Untersuchungsgegenstand auf, der zuletzt große politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat und zu dem in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe denkbarer Fallbeispielen entstanden sind. Nach einer Vorstellung der Charakteristika von „Mini-Publics“ (Auswahl durch Los, ideale Deliberation durch Moderation und Verfahrensdesign, Abschlussbericht mir beratender Funktion) folgte ein Blick auf die empirische Basis des Themas seit 1970. Fromm verortete den Gegenstand anschließend anhand der Literatur im Spannungsfeld von Demokratie- und Governancetheorie. Mark Warrens Beitrag „Governance-driven Democratization“ von 2009 diente ihm als zentrale Grundlage der Analyse. Das Thema „Mini-Publics“ (Bürgerräte) erweise sich gerade aufgrund der Verbindung von normativen Demokratieideen und einer zunehmenden Zahl von empirischen Fallbeispielen als ein geeigneter Analysegegenstand. Anhand des konkreten Beispiels des European Citizens Panels „Learning Mobility“ der Europäischen Kommission illustrierte Fromm abschließend die Vorzüge und Nachteile eines solchen Modells.
Robert Fedler (Universität Darmstadt) befasste sich in seinem Kurzvortrag mit dem „Krisenfall Thüringen“. Im Fokus stand hier eine Analyse der Mehrheitsbildung im Erfurter Landtag im Zeitraum von 1990 von 2024. Mit der noch regierenden Minderheitsregierung in Thüringen unter Führung von Bodo Ramelow konnte insbesondere an den ersten Vortrag des Panels angeknüpft werden. Einleitend wurde der „Thüringer Kontext“ des Regierens seit 1990 skizziert, darunter auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen. Im Anschluss wurde das Wahlergebnis von 2019 vorgestellt. Unter der Überschrift „Die Macht des Median“ folgte eine Analyse mit „Wordscores“, mit der sich an inhaltliche Vorstellungen der Parteien angenähert werden kann. Der Blick auf die konkrete Gesetzgebung in dieser Wahlperiode zeigt 271 eingebrachte Gesetzesentwürfe, von denen 146 beschlossen wurden (119 davon wurden durch die Regierungskoalition aus der Linken, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebracht, 19 von der CDU und 5 von der FDP).
Michel Dormal (Universität Aachen) griff die Frage auf, ob sich mit Umfragen „besser regieren“ lasse. Meinungsumfragen bezeichnete er in Anlehnung an den vorherigen Vortrag als „Vorläufer der Mini-Publics“. Mit Blick auf den Titel des DVPW-Kongresses formuliert er einleitend die These, dass Umfragen in der Polykrise, von einem „Hilfsmittel zu einem wesentlichen Bestandteil demokratischer Systeme“ geworden seien. Die quantitative Entwicklung in Frankreich zeige etwa einen seit dem Jahr 1981 stark ansteigenden Gebrauch von Meinungsumfragen. Unter Angela Merkel seien beispielsweise durch das Bundespresseamt zeitweise bis zu drei Umfragen zu Einstellungen in der Bevölkerung pro Woche in Auftrag gegeben. Dormal schlägt zudem den inhaltlichen Bogen zur Demokratie, insbesondere zum Mehrheitsprinzip. Interessant war dabei sein Hinweis, dass bereits George Gallup im Jahre 1940 mit Blick Meinungsumfragen sagte, dass diese helfen könnten, sogenannte „Echokammern“ aufzubrechen – ein Begriff also, der gerade in den vergangenen Jahren in vor dem Hintergrund einer diagnostizierten Polarisierung geradezu inflationär verwendet worden ist.
Bemerkenswert an diesem Panel war insbesondere, dass im Verlauf der Diskussion über die konkreten Anwendungsbeispiele hinaus auch systematische Fragen der Regierungsführung zum Thema wurden, etwa unterschiedliche Kontextfaktoren in parlamentarischen und präsidentiellen politischen Systemen oder etwa das Regieren im Mehrebenensystem. Damit wurde zugleich deutlich, dass diesbezüglich noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Insofern bildeten die vorgestellten Papiere eine sehr gute Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesen Aspekten.
Du musst dein Regierungssystem ändern! Vorschläge zur Reform der deutschen Demokratie
Ein Schlaglicht von Michael Kolkmann
Unter dem Titel „Du musst dein Regierungssystem ändern!“ standen bei diesem Panel Vorschläge zur Reform der deutschen Demokratie im Mittelpunt von Kurzvorträgen und der anschließenden Diskussion. Geleitet wurde die Veranstaltung von Volker Best (Universität Halle-Wittenberg) und Peggy Matauschek (Universität Chemnitz).
Mahir Tokatli (Universität Aachen) schlug in seinem Beitrag eine Direktwahl der Ministerpräsidenten vor. Ermöglicht werden soll dadurch ein flexibleres Regieren in den Ländern, aber auch im Bund. Danny Schindler (Institut für Parlamentarismusforschung) in Berlin legte sein Augenmerk auf inklusive Verfahren der Koalitionsbildung. Seine Frage lautete: Lässt sich ein empirischer Trend zur Stärkung der repräsentativen Demokratie konstatieren? So würde sich eine effektive und zügige Regierungsbildung nicht zuletzt auf die diffuse Unterstützung für die repräsentative Demokratie auswirken. Anhand des Fallbeispiels der Berliner SPD nach den Abgeordnetenhauswahlen 2023 stellte er die verschiedenen Phasen der Koalitionsbildung in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Entlang der verschiedenen Phasen der damaligen Entscheidungsfindung in Berlin wurde dieses Beispiel mit den zuvor vorgestellten systematischen Aspekten des Themas verknüpft. Dabei gerieten ganz automatisch wichtige Erscheinungsformen innerparteilicher Demokratie in den Fokus. Ein gesteigertes Partizipationsbedürfnis der Parteibasis lässt dabei vermuten, dass reine „Elite-Entscheidungen“ der Parteispitze, wie sie früher üblich waren, inzwischen der Vergangenheit angehören.
Peggy Matauschek und Volker Best fokussierten sich in ihrem Beitrag auf Prämienwahlsystemen mit Koalitionsbonus als einer adäquaten Reformoption. Die Idee dahinter ist, dass siegreiche Parteien oder Parteibündnisse nach einer Wahl unter bestimmten Bedingungen zusätzliche Parlamentssitze erhalten, um eine solide Regierungsbildung sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund stellten sie die Überlegung an, inwieweit auf diese Weise das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik gestärkt werden könne. Denn eine solche Reform könnte womöglich die besonders „schmerzhaften“ und weltanschaulich inkohärenten, lagerübergreifende Zweier- oder Dreier-Koalitionen, überflüssig machen und so die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik stärken. Ein diskussionswürdiger Punkt ist dabei, wie hoch ein solcher Bonus ausfallen dürfe, ohne dass er dem Erfordernis nach angemessener Repräsentation zuwiderläuft.
Und bräuchte man in diesem Fall (noch) eine Sperrklausel bzw. wie hoch sollte diese ausfallen? Illustriert wurden diese Fragen exemplarisch an mehreren Fallbeispielen aus der Praxis. Die Rolle des Discussant zu diesem Paper nahm Christian Stecker (Universität Darmstadt) ein.
Denise Al-Gaddooa (Universität Göttingen) und Christian Stecker stellten unter der Überschrift „Flexible Mehrheitsbildung statt Koalitionskorsett“ Neuseelands Modell einer Wahlrechtsreform vor und diskutierten die Frage ob bzw. inwieweit es als Wegweiser für Deutschland dienen könnte. Als Herausforderung erweist sich dabei das „unity-distinctiveness-Dilemma“. Damit ist die Herausforderung gemeint, gemeinsam geschlossen und erfolgreich zu regieren und gleichzeitig inhaltliche Unterschiede zwischen den Koalitionspartnern deutlich werden zu lassen. „Multiparty arrangements“ versprechen dabei flexiblere, aber stabile Regierungen.
Christian Opitz (Universität der Bundeswehr Hamburg) versuchte „zwischen Entfremdeten (zu) vermitteln“, indem er staatliche Partizipationsformate „zwischen interaktionsbasierter und systemischer Vertrauensgenerierung“ in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. Dem generellen „Aufschwung von Formaten deliberativer Demokratie“ (Opitz) in den vergangenen Jahren folgend, nahm er die Arbeit von Bürgerräten in den Blick und fragte nach der Generierung politischen Vertrauens durch diese Formate. Unter Rückgriff auf den Luhmannschen Vertrauensbegriff argumentierte Opitz, dass mehr Beteiligung zu größerem politischem Vertrauen in der Gesellschaft führen werden.
Aspekte, die in gleich mehreren Beiträgen thematisiert wurden, waren etwa die Rolle direkter Demokratie im Kontext repräsentativ-demokratischer Strukturen, das Verhältnis von Exekutive und Legislative (wer verliert oder gewinnt durch Reformvorschläge an Einfluss?), aktuelle Ausprägungen der Politikverdrossenheit und das konkrete institutionelle Design von Regierungssystemen. Als besonders fruchtbar erwies sich dabei die Verbindung konkreter Reformvorschläge mit größeren, sprich systematischen Aspekten der politikwissenschaftlichen Regierungssystemtypenlehre. Eine der Erkenntnisse war zudem, dass beim Design von Regierungssystemen stets mehrere, durchaus konfligierende Ziele in Konflikt miteinander geraten können und daher priorisiert werden müssen. Deutlich wurde schließlich auch, dass in vielen der diskutierten Teilbereiche noch weitere empirische Forschung notwendig ist, um die Auswirkungen von Reformen genauer prognostizieren zu können.
Wie bei einem solchen Thema nicht anders zu erwarten, schloss sich an die Vorträge eine lebhafte Diskussion an, in der sich viele der Beiträge und Fragen unmittelbar auf die konkreten Vorschläge der Panelisten bezogen. Ein zentraler Punkt dabei war die Frage der Realisierbarkeit der Vorschläge: Mögliche Probleme sollten aber nicht davon abhalten, so Peggy Matauschek, einige - wenn nicht alle - der diskutierten Ideen in der Praxis umzusetzen und Danny Schindler betonte, dass es vor allem an vergleichenden empirischen Untersuchungen mangele. In Anspielung auf den Titel der Veranstaltung merkte Christian Stecker schließlich an, dass man womöglich nicht immer gleich das Regierungssystem ändern müsse. Manchmal reiche auch schon eine Änderung der Verhaltensweisen.
Das Fach Politikwissenschaft
Weiterführende Links
„Politik in der Polykrise“
Webseite des 29. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW an der Georg-August-Universität in Göttingen
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