Skip to main content
Veranstaltungsbericht / 07.10.2024

Schlaglichter vom DVPW-Kongress 2024: Parteien & Wähler*innen

Vom 24. bis zum 27. September 2024 fand an der Universität Göttingen unter dem Titel „Politik in der Polykrise” der Kongress der der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) statt. Aufgrund der Menge an Inhalten können wir die vier Kongresstage nicht in ihrer Gesamtheit abbilden. Stattdessen veröffentlichen wir kurze Panelberichte unterschiedlicher Autor*innen als „Schlaglichter“, um das Kongressgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Den Anfang machen Jessica Kuhlmann (Universität Siegen) und Michael Kolkmann (Universität Halle-Wittenberg), die sich in ihren Berichten zwei Panels aus dem Bereich der Parteien- und Wahlforschung widmen.

Diversity in Parteien: umkämpft, ignoriert, priorisiert

Ein Schlaglicht von Jessica Kuhlmann

Parteien sind, unter anderem durch ihre Funktionen der Interessensaggregation und der Selektion des politischen Personals, bedeutende gesellschaftliche Akteure. Die Ergebnisse dieser Funktionen sind dabei nicht unabhängig von der Zusammensetzung der Parteien selbst. Bereits seit Jahrzehnten betonen verschiedene Autor*innen die Bedeutung von deskriptiver Repräsentation für eine substantielle Repräsentation gesellschaftlicher Interessen. Es geht also um die Frage: „Welche gesellschaftlichen Gruppen sind in Parteien vertreten und welche nicht?“ (Mansbridge 1999; Phillips 1995). Ein Blick auf die Zusammensetzung der Parteien zeigt jedoch, dass Diversität innerhalb der Parteien nur langsam zunimmt.

Der Titel des Panels „Diversity in Parteien: umkämpft, ignoriert, priorisiert“ illustriert bereits mögliche Strategien, wie Parteien mit ihrer eigenen Zusammensetzung umgehen können: Während linke Parteien Diversität meist priorisiert behandeln, ist diese in sozialdemokratischen und konservativen Parteien umkämpft und wird von rechtspopulistischen Parteien tendenziell ignoriert. Diese Vielfalt kann sich in Form von verschiedenen Facetten wie unter anderem Herkunft, Religion, sexueller Orientierung oder Geschlecht präsentieren. Die Teilnehmenden des Panels fokussierten sich jedoch insbesondere auf migrations- und geschlechtsbedingte Vielfalt in den politischen Parteien. Trotz dieses Fokus auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund zeigten die Präsentationen verschiedenste mögliche Analyseperspektiven auf die Zusammensetzung von politischen Parteien und deckten die gesamte Bandbreite des deutschen Mehrebenensystems ab.

Anhand von deutschen Großstädten stellte Andreas Blätte mit Koautorinnen Laura Dinnebier und Merve Schmitz-Vardar (alle Universität Duisburg-Essen) die Frage: In welcher zeitlichen Sequenz übersetzt sich gesellschaftlicher Wandel in einen Wandel der Repräsentation? Ist es eine Frage der Zeit, eine Frage der Partei oder eine Kombination aus beidem? Das Ergebnis zeigt, dass den politischen Parteien die entscheidende Rolle zukommt. Insbesondere linke Parteien zeigten eine eindeutig stärkere Repräsentation migrationsbedingter Vielfalt. Diese Abhängigkeit von politischen Parteien mache eine nicht-lineare Entwicklung der politischen Repräsentanz möglich. Folglich gebe es nicht zwingend einen fortschreitenden Prozess in Richtung zunehmender Diversität in den Parteien.

Auch Thomas Tichelbäcker (Universität Princeton) nahm sich der mangelnden Informationslage über die Bewerber*innen für politische Ämter auf lokaler Ebene an. Dazu stellte Tichelbäcker einen Datensatz zu Lokalpolitiker*innen in Deutschland vor, der aus Informationen verschiedener Datensammlungen wie Archiven, Landes- und Nationalbibliotheken, Amtsblättern oder auch Lokalzeitungen gewonnen wurde und verschiedenste Erkenntnisse über Wahlkreise, politische Parteien, Adressen und Listenpositionen verbindet.

Migrationsbedingte Diversität auf Länderebene wurde von Nicolas Fliess und Karen Schönwälder (beide Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften) untersucht. Die Autor*innen betrachteten dazu die Anzahl an Menschen mit Migrationshintergrund in den Parteivorständen auf Landesebene. Während am meisten Menschen mit Migrationshintergrund in den Landesvorständen der Grünen zu finden seien, wiesen die FDP-Landesvorstände die geringsten Anteile auf. Im Vergleich mit den Landesparlamenten zeigte sich mit Ausnahme der Linkspartei bei allen untersuchten Parteien im Parteivorsitz mehr migrantische Präsenz als im Parlament. Weiterhin zeigten sich zwischen den Parteien deutliche Unterschiede in den Herkunftsländern der Parteivorstände. Während Menschen aus Staaten außerhalb der EU bedeutsam bei SPD und Grünen vorzufinden waren, wies die AfD einen erhöhten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aus Osteuropa und der EU auf. Insgesamt bleiben Menschen mit Migrationshintergrund in den Landesvorständen gemessen an der Bevölkerung jedoch unterrepräsentiert.

Von der Landesebene ging es mit dem Vortrag von Maura Kratz (FU Berlin) zur Bundesebene. Kratz analysierte, inwiefern die stärkere Repräsentation im Deutschen Bundestag durch die Bundestagswahl 2021 nur ein Zufall gewesen sein könnte. Dazu untersuchte sie Direktkandidaturen und die mit diesen Kandidaturen verbundenen erwarteten Erfolgschancen. Wurden Frauen in weniger erfolgsversprechenden Parteiwahlkreisen als männliche Bewerber aufgestellt? Während ihre Befunde tatsächlich dafür sprechen, dass Frauen in tendenziell unsicheren Wahlkreisen aufgestellt wurden, zeigten ihre Ergebnisse jedoch ebenfalls, dass sich an der Zusammensetzung des Bundestags nur wenig verändert hätte, wenn die Wahl so ausgegangen wäre, wie bei der Nominierung vermutet.

Während Kratz untersuchte, wie die tatsächliche Zusammensetzung im Bundestag aussieht, verglichen Armin Schäfer und Claudia Landwehr (beide Universität Mainz) die Einstellungen von Politiker*innen in Deutschland und den USA: Wer sollte den Abgeordneten zufolge in Parlamenten repräsentiert sein? Bei ihren Untersuchungen fanden sie nicht nur Unterschiede zwischen den politischen Parteien, sondern auch zwischen Männern und Frauen innerhalb der gleichen Partei. Frauen seien generell positiver gegenüber deskriptiver Repräsentation eingestellt und dies nicht nur in Bezug auf weibliche Repräsentation selbst, sondern auch bezogen auf andere gesellschaftliche Gruppen.

Die Europawahl 2024 wurde genutzt, um Kandidat*innen innerhalb der AfD genauer zu betrachten. Floris Biskamp (Universität Tübingen) untersuchte, wie Menschen mit Migrationshintergrund in der AfD mit ihrer eigenen (familiären) Geschichte innerhalb einer Anti-Immigrationspartei umgehen und diese auf dem Nominierungsparteitag der AfD darstellten. Biskamp beschrieb allgemein eine Diskrepanz zwischen der positiven Selbstdarstellung der eigenen migrantischen Hintergründe und einer Problemwahrnehmung von Migration unter den AfD-Kandidat*innen.

Ein Befund, der sich durch die verschiedenen Präsentationen durchzieht, ist der Unterschied zwischen linken und konservativen oder rechten Parteien. Während Parteivertreter*innen linker Parteien tendenziell häufiger angeben, dass deskriptive Repräsentation wichtig sei und auch mehr Diversität innerhalb ihrer Parteizusammensetzung zu finden ist, sind Konservative tendenziell skeptischer gegenüber zunehmender Diversität eingestellt. Insgesamt zeigt das Panel durch die verschiedenen Präsentationen, die fortbestehende Relevanz der Zusammensetzung von Parteien auf allen politischen Ebenen. Auch zukünftige Forschung hat die Möglichkeit an diesen Erkenntnissen anzuknüpfen: Sie könnte neben den gewählten Parteivertreter*innen beispielsweise die Zusammensetzung der Parteimitglieder betrachten sowie andere Formen der Diversität, wie beispielsweise die Vielfalt sexueller Orientierungen innerhalb von Parteien, genauer untersuchen.

Literatur

Mansbridge, Jane (1999): Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent Yes. In: The Journal of Politics, 61(3), S. 628–657.

Phillips, Anne (1995): The Politics of Presence: The Political Representation of Gender, Ethnicity, and Race, Oxford: Oxford University Press.


Neue Perspektiven auf Nichtwähler*innen

Ein Schlaglicht von Michael Kolkmann

Die Frage, wer wen wählt (oder wer warum nicht wählt), zählt seit jeher zu den zentralen Fragestellungen der Politikwissenschaft. Und so ist es nicht überraschend, dass diese Frage in gleich mehreren Veranstaltungen aufgegriffen wurde, etwa auf dem von Politikwissenschaftler*innen der Universität Duisburg-Essen organisierten Panel mit dem Titel „(K)eine Stimme für die Demokratie? 1 - Neue Perspektiven auf Nichtwähler*innen als heterogene Gruppe“. Die Idee zu diesem Panel geht auf mehrere Projekte zum Thema Nichtwahl zurück, die seit 2021 an besagter Universität durchgeführt wurden. Ausgangspunkt war die entsprechende Begleitung der Kommunalwahl 2020 in Duisburg, später kam die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hinzu. Geleitet wurde das Panel von Julia Rakers, als Discussant der einzelnen Vorstellungen fungierte Julia Schwanholz (beide Universität Duisburg-Essen).

Katharina Heger (Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft) präsentierte einleitend unter der Überschrift „Bringing gender back in“ umfangreiche empirische Befunde zu Fragen der politischen Partizipation im Zeichen der Digitalisierung, die auf der Befragung von 1600 Personen basieren. Zur Sprache kam insbesondere die Rolle der Digitalisierung für bürgerschaftliche Partizipationsrepertoires und das Geschlechtergefälle in der politischen Beteiligung. In einer „latenten Klassenanalyse“ wurden zunächst unterschiedliche Partizipationsformen vorgestellt und näher beschrieben, wer sie nutzt. Anschließend wurde die Rolle von Hasskommentaren im Netz sowie deren Konsequenzen thematisiert. In diesem Zusammenhang erörterte Heger, welchen Einfluss Hasskommentare auf die Frage haben, ob sich jemand politisch beteiligt. Dabei unterschied sie insbesondere das Nutzungs- und Partizipationsverhalten von Männern und Frauen.

Nadja Wehl (Universität Konstanz) und Susanne Garritzmann (Universität Konstanz/Universität Frankfurt) legten danach in ihrem Kurzvortrag „Die schulischen Wurzeln von Enthaltung“ ihr Augenmerk auf das Partizipationsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund und präsentierten in diesem Kontext Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojekts. Eingangs wurden zunächst Gründe für ein unterdurchschnittliches Partizipationsverhalten vorgestellt, anschließend gingen die Referentinnen insbesondere auf Jugendliche mit Migrationshintergrund ein. Wie erleben sie politische Partizipation? Welche Konsequenzen spielt eine wahrgenommene Ungleichbehandlung? Wirkt sich diese auch auf die politische Partizipation aus? Dazu präsentierten die Vortragenden Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt, das insgesamt 78 Schulklassen umfasst. Die Resultate zeigen, dass partizipationsrelevanten psychologischen Prädispositionen wie politischem Interesse und politischem Vertrauen eine zentrale Bedeutung zukommt.

Julia Dupont (Universität Frankfurt) fokussierte sich in ihrem Beitrag auf die ungleiche Repräsentation auf der lokalen Stadtteilebene. Damit thematisierte sie einen Untersuchungsgegenstand an der Schnittstelle von Repräsentations-, Ungleichheits- und lokaler Politikforschung. Als Fallbeispiele dienten der Referentin das Frankfurter Gallusviertel sowie Köln-Kalk; beides ehemalige Arbeiterviertel, die eine sehr geringe Wahlbeteiligung aufweisen. Als grundsätzliche Zugangshürden identifizierte sie sozioökonomische Ressourcen (Zeit, Care-Arbeit), parteiinterne Strukturen (Sitzungstermine am Nachmittag), administrative Barrieren (eine nicht-responsive Stadtverwaltung) sowie institutionelle Grenzen (viele Menschen vor Ort haben kein Wahlrecht, Ortsbeirat und Bezirksvertretung sind abhängig von Stadtverordnetenversammlung/Stadtrat). Eine mediale Öffentlichkeit für die Lokalpolitik fehle häufig, informelle Kanäle seien für Bürger*innen häufig wichtiger als formale.

Diese Herausforderungen konnte Dupont anhand der beiden Fallbeispiele illustrieren und konkret beschreiben. Natürlich durfte in diesem Kontext das berühmte Bonmot Theodor Eschenburgs zur Kommunalpolitik nicht fehlen: „Es gibt keine christliche Straßenbeleuchtung und keine sozialistischen Bedürfnisanstalten“. Damit bezog sich Eschenburg auf das oft gehörte Argument, dass auf der untersten politischen Ebene vor allem Sachpolitik im Mittelpunkt stehe. Gleichwohl betonte Dupont, dass auch die parteipolitische Welt auf der lokalen Ebene eine große Rolle spiele.

Den inhaltlichen Reigen beschloss Clara Weißenfels (Universität Duisburg-Essen). Sie warf in ihrem Vortrag die Frage auf, ob soziale Gruppen ökonomisch benachteiligte Jugendliche vor politischer Apathie schützen können. Dabei stellte sie Kinder aus Arbeiterhaushalten in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Eine Stärkung der Ressourcen und das Sozialkapital seien zentrale Bestimmungsfaktoren politischer Partizipation. Im Folgenden stellte sie das konkrete Untersuchungsdesign des vorgestellten Projekts sowie dessen zentrale Ergebnisse in differenzierter und ausführlicher Form vor. Die zentrale Erkenntnis: Freiwilligentätigkeit („Volunteering“) könne in weiten Teilen die herkunftsbedingten Partizipationsdefizite ausgleichen.

Eine engagierte Diskussion schloss sich an. Dabei standen neben zentralen inhaltlichen Aspekten aus der Nichtwahlforschung auch ganz konkrete methodische Fragen der vorgestellten Projekte im Fokus. Schlaglichtartig konnten auf diese Weise spezifische Herausforderungen von Wahl und Nichtwahl illustriert werden. Zugleich wurde deutlich, dass gerade mit Blick auf vergleichende Fallbeispiele noch weiterer Forschungsbedarf besteht.

 

CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Das Fach Politikwissenschaft

Weiterführende Links

„Politik in der Polykrise“

Webseite des 29. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW an der Georg-August-Universität in Göttingen

 

Mehr zum Themenfeld Das Fach Politikwissenschaft