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Rezension / 14.02.2018

Matthias Lemke (Hrsg.): Ausnahmezustand. Theoriegeschichte – Anwendungen – Perspektiven

Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017

Der Ausnahmezustand stellt die extremste Form der Behebung einer existenziellen Staatskrise dar, die determiniert, wer eigentlich der wahre Souverän der konkreten politischen Ordnung ist. In diesem von Matthias Lemke herausgegebenen Sammelband wird dessen Theoriegeschichte reflektiert und seiner Anwendung – oder Unterlassung – an höchst unterschiedlichen Beispielen (wie USA, Russland, Türkei, Griechenland oder Mexiko) empirisch nachgegangen. Auffällig ist dabei allerdings, dass die Analysen zumeist leitmotivisch eng den Definitionen Carl Schmitts verhaftet bleiben, wie Arno Mohr kritisch aufzeigt.

Es gibt politische Sachzusammenhänge in ihrer begrifflichen Konstruktion, die so verwachsen sind mit einem Interpreten, dass kaum Auswege für tragfähige Alternativen bestehen beziehungsweise überhaupt ausfindig gemacht werden können. So verhält es sich mit dem Begriff „Ausnahmezustand“ und dem sich daraus herleitenden Begriff der „kommissarischen Diktatur“, beide seit den 1920er-Jahren durch Carl Schmitt wesentlich vorbestimmt – zwei jener sichtbaren Formeln und unsichtbaren Einflüsse, ohne dass sein Name überhaupt erwähnt sein muss – als spiritus rector von Generationen von konservativen Staatsrechtslehrern und politischen Philosophen in ihrer etatistischen, anarchistischen und esoterischen Variante.

Der Ausnahmezustand stellt die extremste Form der Behebung einer existenziellen Staatskrise dar, die determiniert, wer eigentlich der wahre Souverän der konkreten politischen Ordnung sei, der den Ausnahmezustand bestimmt, und nicht, wie noch Hans Kelsen gemeint habe, eine Rechtsnorm, die für solche Fälle verfassungsgemäß in Anspruch genommen werden könne. So ist es kein Zufall, die Schmitt'sche Bestimmung in dem einleitenden Problemaufriss von Matthias Lemke leitmotivisch vorzufinden (1). In einer rechtsstaatlichen Demokratie liegen die Dinge aber anders als in einer Diktatur. Demokratische Konstitutionen kennen nicht die eine zentrale Instanz, die – mit besonderen Befugnissen ausgestattet – Vorkehrungen zur Abwendung von das Gemeinwesen vital bedrohenden Gefahren trifft. Lemke geht davon aus, dass die Analyse nicht mehr allein von rechtlichen Prinzipien aus dem Wesen des Ausnahmezustands gerecht werden kann. Die Plausibilität seiner Anwendung ermisst sich in seiner Performanz in der Öffentlichkeit, woraus er seine Legitimität zu beziehen sucht (3). Die Einrichtung der Diktatur als oberste Problemlösungsinstanz in der Verfassung der Römischen Republik bei Vorliegen einer tiefgreifenden Staatskrise, die machiavellistische Denkungsart einer Rechtfertigung diktatorischer Vollmachten beziehungsweise weitreichender Kompetenzübertragungen für die Regierungen, die Theorietradition Schmitts sowie die Problematisierung des Begriffs des Ausnahmezustands Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts – dies identifiziert Lemke als die historischen Stadien in der begrifflichen Entwicklung dieser politischen Kategorie (4 f.).

Der Band besteht im Aufbau aus vier Teilen: Theoriegeschichte, nationalstaatliche beziehungsweise supra- und transnationale Fallstudien, Perspektiven. Die theoriegeschichtlichen Beiträge lassen sich wie folgt charakterisieren: Liza Mattutats Thema ist die Zurückweisung sowohl der Kelsen'schen als auch der Schmitt'schen Definition des Ausnahmezustands, indem sie die Theorie Hermann Hellers als synthetisierenden Kontrapunkt gegen beide Theorien in Stellung bringt. Heller setzt sich von Kelsens rechtstheoretischem Objektivismus ab, der das Institut des Ausnahmezustandes als Teil der gegebenen Rechtsordnung verankert sieht. Schmitts subjektivistisches Verständnis, nach dem die Feststellung des Ausnahmezustandes nicht selbst durch das Recht erfolgen kann, bedarf konsequenterweise eines außerrechtlichen Subjekts, das auf nicht-normativer Grundlage im Zuge einer Selbstermächtigung die letztgültige Entscheidung trifft. Heller hingegen sieht den Staat als „Organisation“, in der sowohl das Recht, der Demos als auch die Regierung zusammen die Souveränität ausüben (19 f.). Wenn die Autorin dazu auffordert, sich einer Relektüre von Schmitts „Politischer Theologie“ „gegen den Strich“ zu verschreiben, dann unter der Prämisse, dass Schmitt den Ausnahmezustand lediglich als „methodische Fiktion“ betrachtet habe, die gewissermaßen auch für den Normalzustand zutreffe, da auch in dieser Hinsicht Entscheidungen, in diesem Falle durch den Richter, extrarechtlich gefällt werden, da sie „nicht restlos“ aus Rechtsnormen abgeleitet werden können“ (21, 22). Sie relativiert aber Schmitt ob seiner Blindheit für politische Auseinandersetzungen und seinen Autoritarismus (22).

Den Übergang vom Normalstaat zum Ausnahmestaat exemplifiziert Tobias Schottdorf am Übergang der IV. auf die V. Republik im Kontext des Algerienkrieges (v. a. 35-38). Aufgrund vieler Belege auch andernorts gelangt der Autor zu der Feststellung, dass die Ausrufung des Notstandstaates nicht automatisch das Ende des Normalstaates bedeute. Denn es gibt gerade in demokratischen Systemen, auch wenn sie zentralistisch strukturiert sind, immer Mechanismen, die dazu geeignet sind, die vorhandenen Institutionen zu „renormalisieren“ (33, s. u.). Während bereits in diesem Beitrag auf Agambens Theorie des Ausnahmezustands zurückgegriffen wird (28), geht Christian Leonhardt näher auf dessen Theorie, aber auch auf die Auffassung von Jacques Rancière ein (41-56). Bei Agamben wird der Ausnahmezustand in modernen Gesellschaften immer mehr zur Regel, charakterisiert durch seinen Ort innerhalb des bestehenden Systems in seiner Normalität: Der Souverän entscheidet gouvernementalistisch permanent, der Ordnung entsprechend, wer ausgeschlossen bleibt, ohne Möglichkeit, eine Identität auszubilden (46). Dass die Figur des Ausnahmezustandes und das gesetzte Recht aufeinander bezogen bleiben im Blick auf das Gewaltmonopol des Staates, sucht Daniel Mirbeth theoretisch im Rückgriff auf Schmitt zu begründen: Der souveränitätspolitisch proklamierte Ausnahmezustand ist im Grunde eine semi-souveräne Handlung, die selbst wieder a posteriori in eine rechtliche Normierung überführt und damit die Rolle des Souveräns als Souverän stabilisiert und legitimiert (61).

Walter Benjamin ist für den Autor der Stichwortgeber für seine kritische Haltung gegenüber der Theorie des Ausnahmezustandes bei Schmitt. Ohne diese Reflexion tendiere, so Benjamin, die Theorie des Ausnahmezustandes „zur voraussetzungslosen Apologie der Gewalt“ (67). Schmitts Gedankenwelt steht auch Pate – in diesem Falle nahezu naturgegeben – bei der Uminterpretation Schmitts durch Otto Kirchheimer, der sich Max Molly widmet. Hier steht das Grundproblem von Souveränität und Demokratie im Blickpunkt. Kirchheimer benutzt Schmitt, um diesen einer Kritik zu unterwerfen, wenn er vom Homogenitätsprinzip des Schmitt'schen Verständnisses abrückt und stattdessen die Konstruktion „eines demokratischen Ausnahmezustandes“ vornimmt, der die Menschen nicht universell, sondern tendenziell als partielle Wesen erfasst, als Einzelne, Gruppen, Opponenten: „Es gibt Mechanismen des Ausschlusses, ein Nicht-Gewähren oder ein Entziehen von Rechten“. Dies impliziere nach Kirchheimer eine Struktur von Einheit und Differenz, ein einbezogenes „wir“ und ein ausgeschlossenes „sie“ (82). Schmitt (und Agamben) spielen auch im letzten theoretischen Beitrag von Mareike Gebhardt die Hauptrollen (87-101). Etwas kühn heißt es, dass an die Stelle einer „nicht-deformierte[n] Form der Politik“ in der Postdemokratie es die Verrechtlichung von Politik sei, die den Ausnahmezustand „auf die Spitze“ treibe. Als Manifestation von Recht bewege er sich selbst in einem rechtsfreien Raum, weil es die Kompetenz der Suspendierung von Recht demjenigen zuweist, der selbst noch „‚im Recht‘ bleiben will“ (95). Der Ausnahmezustand, so weiter die Autorin, hat im Grunde keine andere Funktion, als die bestehende postdemokratische Ordnung zu stabilisieren, wobei unter Postdemokratie auf Rancière'sches Gedankengut (nur in einer Anmerkung!) zurückgegriffen wird und von daher eine Entsubjektivierung beziehungsweise ein Eingeschränktsein des Bürgers mit altliberalen Vorstellungen von einem parlamentarischen Repräsentativsystem einhergeht. Dessen vordringlichste Eigenschaft besteht darin, die in der Exekutive widerstandslos vollzogene Entscheidungshoheit einzuhegen (98-100).

Wer nun aber glaubt, dass in den case studies es mit der analytischen Monopolisierung des Schmitt‘schen Corpus, die gewissermaßen, spöttisch gemeint, geradezu zu Carl-Schmitt-Festspielen ausgeartet sind, nun sein Bewenden hat und die konkreten Beispiele sich wieder der Sache, das heißt der empirischen Sichtung und Erkenntnisgewinnung unterschiedlicher Zusammenhänge von Regelungen von Ausnahmezuständen, Notlagen und Ähnlichem annehmen würden und dies ohne ausdrücklichen Rückgriff auf zweifelhafte politikphilosophische Räsonnements, wird leider eines Besseren (oder Schlechteren, je nach Standort) belehrt. Die meisten Autoren können sich offenbar eine Untersuchungsstrategie für diesen Fragenkomplex ohne Carl Schmitt gar nicht vorstellen, so allgegenwärtig steuert dieser wie ein Phantom aus dem Hintergrund mehr oder weniger eindimensional die Diskussion. Die erwähnten postdemokratischen Kritiker von Ausnahmezuständen und deren politische Handhabung, Agamben und Rancière, glänzen in der Folge durch Abwesenheit, wohl auch deshalb, weil ihre geistigen Produkte, öffentlich gemacht in einem hyperabstrakten Geschwurbel, für diese Zwecke nicht vorzeig- und einsetzbar sind. Agamben kommt lediglich noch in einem Beitrag aus dem dritten Teil im Zusammenspiel mit Hannah Arendts Theorie des Lagers zum Zuge, als es um die Flüchtlingslager der EU geht: Agamben sieht die Funktion des Lagers darin, eine Brutstätte der Entrechteten zu sein – eine Zuschreibung, die auch für Flüchtlingslager gilt (Jona von Laak: Europäische Flüchtlingslager als Ausnahmezustand. Eine Typisierung im Diskurs von Hannah Arendt und Giorgio Agamben, 271-282, hier 274).

In keinem Text wird die Abhängigkeit vom Schmitt'schen Denken so ausgeprägt zelebriert wie in Hannes Keunes Betrachtungen zu Putins Russland. Schon im Haupttitel wird das überdeutlich: „Carl Schmitt in Moskau“. Der Untertitel weist darauf hin, worum es geht: „Souveränität in Putins Russland“ (185-198). Putins Russland, sein rückwärtsgewandtes nationalistisches Regiment mit restriktivsten Maßnahmen gegen jegliches oppositionelles Verhalten und Agieren, auch in kleinsten Zuckungen, wird unter den Voraussetzungen der Schmitt'schen Theorie des Ausnahmezustands beziehungsweise der „kommissarischen Diktatur“ beleuchtet. Danach habe Putin die durch die anomischen Maßnahmen in der Transformationsphase der 1990er-Jahre sich destabilisierende politische Gesellschaft unter sein Primat einer autoritären Staatsführung gestellt und sich als selbstermächtigter Souverän unter der Fassade scheinkonstitutioneller Akklamationspraktiken profiliert. Putins Regime forcierte eine strikte Homogenisierungspolitik – innen- wie außenpolitisch – zugunsten der staatlich-nationalen Einheit, um die chaotisch verlaufene „Privatisierung des Staates“ in der Jelzin-Ära mit seinen vor allem ökonomisch desaströsen Folgen für den Großteil der Bevölkerung zurückzunehmen und sich als Garant des „Russian way of democratic life“ zu verstehen, ohne sich den Vorgaben westlicher Demokratieauffassungen beugen zu müssen. Der Autor argumentiert hier auf der Grundlage der bezeichnenden Terminologie Schmitts: Das „System Putin“ könne am ehesten als „Synthese aus Diktatur und Massendemokratie“ bezeichnet werden. Da die „Feinderklärungen“ in diesem System die Regel seien, könne demzufolge von einem permanenten Ausnahmezustand die Rede sein (193). So ist die imaginäre Voraussetzung der Einheit von „Führer und Geführten“ gegeben, vermittelt durch eine traditionalistische national-eurasische Ideologie, wie sie insbesondere von Aleksandre Dugin, unter dem Einfluss von Schmitt und Heidegger, mit intellektuellem Anstrich propagiert wird. Während Schmitt aber den Souverän personalisiert, handelt es sich in Putins Russland um ein „relativ dynamische[s] informelle[s] Gefüge“, mit cliquenhaften Interessen- und Machtansprüchen – ein Staat als „organized crime“ (nach Charles Tilly, 195).

Weitaus weniger krass manifestiert sich die begriffsgeschichtliche Präsenz Carl Schmitts, wenngleich durchaus relativierend, in mehreren Beiträgen. Im Fallbericht über die Türkei geht Ece Göztepe nicht, wie man hätte erwarten können, auf den – sogenannten? – Militärputsch von 2016 ein, sondern auf die Praxis des Ausnahmezustandes im Südosten des Landes im Oktober 2014 (105-127). Der Anlass für die Proklamierung des Ausnahmezustandes gemäß Artikel 119-121 der türkischen Verfassung von 1982 durch die Exekutive waren Massenproteste in den Städten dieser hauptsächlich von Kurden bewohnten Region. Es war schnell klar, dass die entsprechend getroffenen Maßnahmen zum Teil nicht den vorgeschriebenen rechtlichen Regelungen entsprachen (wie zum Beispiel die verhängten Ausgangssperren). Dem Verfasser nach handelt es sich hier um einen glasklaren „entkonstitutionalisierten“ Ausnahmezustand, dessen (Quasi-)Begründung „auf einem willkürlichen Gebrauch von Rechtsbegriffen und pseudo-gesetzlichen“ Bestimmungen“ (123) beruht. Die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips, wie es der demokratische Verfassungsstaat wie selbstverständlich kennt, hat zu einer omnipotenten und de facto schrankenlosen Machtausübung der Exekutive geführt, bei der alle relevanten politischen Kompetenzen konzentriert werden. Dem Ausnahmezustand wurde das Gewicht einer Normallage zugesprochen. In der prägnanten und einflussreichen Schmitt'schen Theorie gehe es bei einer bedrohlichen Staatskrise „um das letzte Wort“. Die aktuelle verfassungsrechtliche beziehungsweise politikwissenschaftliche Diskussion sei eher „von der Möglichkeit einer rechtlichen Begriffsbestimmung geprägt“. Allerdings vertritt Göztepe die Ansicht, dass bei allen Unterschieden die Demokratien das verfassungsrechtliche Institut der „kommissarischen Diktatur“ im Sinne Schmitts aktivieren, um die Stabilität des Systems zu sichern (108).

Der Schmitt'sche Begriff der „kommissarischen Diktatur“ findet sehr explizit Anwendung in dem Essay von Luis Alfonso Gómez Arciniega über einen gewissermaßen historisch zu erklärenden permanenten Ausnahmezustand in der Landschaft „Tierra calientes“ der mexikanischen Provinz Michoacán. In dieser am Pazifik gelegenen Provinz war der Garant einer gewissen Stabilität nicht die Zentralregierung, sondern in der zeitlichen Abfolge Kaziken, Bauernführer, Militärkommandeure, Drogenhändler und neuerdings autodefensas (Bürgerwehren). Diese Stabilisierungspraxis war aber mit Terroraktionen mit zahlreichen unschuldigen Toten, klientelistischer Repressionspolitik, Familienfehden und Drogenhandel mehr als teuer erkauft. Diesem Verbund der organisierten Kriminalität suchte Präsident Calderón 2013/14 durch Entsendung eines Sondersicherheitsbeauftragten die Operationsbasis abzugraben. Dieser war oberster Befugter der besagten „kommissarischen Diktatur“, mit der temporären und zweckgebundenen Aufgabe, den Status quo ante bellum wieder herzustellen, also der „unverzichtbaren Durchsetzung von staatlicher Ordnung“ (232-238, hier 238) den Weg zu ebnen. Der Autor verweist für diese Auftragserteilung durchgehend ganz dezidiert auf die entsprechenden Aussagen im Schmitt'schen Werk (so bereits in der Zusammenfassung 219).

Breit rezipiert wird Schmitt in dem Beitrag von Markus Holzinger über den US-amerikanischen War on Terror: „Transnationaler Terrorismus und Ausnahmezustand“ (283-300). Die Fragestellung des Autors besteht darin herauszufinden, welche Nebenwirkungen der transnationale Terrorismus für die Institutionen des modernen Staates implizit wie explizit bedeuten (285). Ideenpolitisch wird zunächst Foucaults Theorie des allgegenwärtigen Ausnahmezustands als kontinuierliche Aushebelung des Rechts als dem Staat inhärentes Prinzip im Sinne der „Rettung“ der Staatsräson bestimmt. In direktem Anschluss wird, wie Holzinger es ausdrückt, „naturgemäß“ Schmitts Position genannt werden müssen – weil man im Blick auf ein „entformalisiertes Recht“, das die Ausrufung des Ausnahmezustandes mit sich bringt, zu Carl Schmitt nicht schweigen (könne) (286). Dem Autor ist natürlich das heikle Problem nicht entgangen, dass bei aller verfassungsmäßig den Prinzipien der Gewaltenteilung unterworfenen, niedergelegten Prozeduren letztendlich die politische Entscheidung als ultima ratio und extra legem den Ausschlag gibt, Maßnahmen anzuordnen, die effizient genug sind, um die verfassungsmäßige Ordnung vor äußeren und inneren Gefahren schützen zu können (288).1 Die getroffenen US-amerikanischen Maßnahmen, gerichtet gegen den islamistischen Terrorismus (09/11, Irakkrieg), gestützt auf die konstitutionelle Zentralitätskompetenz des Präsidenten (in außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten), legitimiert durch Bedeutungsverschiebung in der Feindbestimmung, sieht Holzinger mit den Augen Schmitts: Jeder demokratischen Rechtsordnung ist das Potenzial einer latenten Diktatur inhärent. Für den Autor folgt daraus der Schluss, „dass die (wenn auch unbequeme) Bedeutung nach wie vor darin liege, dass er konstitutionstheoretisch den Weg gewiesen [habe]“ (297). In diesem Zusammenhang, ohne ausdrückliche Inanspruchnahme der Schmitt'schen Semantik, stellt Annette Förster fest, dass die US-Administration zu Reaktionspraktiken gegriffen habe, die sich im rechtsfreien Raum bewegt hätten und diese Praktiken an die verfassungsmäßigen Bestimmungen des ‚Normalzustands‘ angepasst worden seien. Die Autorin hält dies – in Erwartung zukünftiger Terroranschläge – für „unabdingbar“ („Die Normalisierung der Ausnahme? 15 Jahre Ausnahmezustand in den USA“, 303-318, hier 318).

Das Hauptmerkmal von zwei weiteren „Fällen“ hinsichtlich der Regelung von Ausnahmezuständen betrifft Polen und Griechenland: In beiden Ländern existieren zwar rechtlich fixierte Vorkehrungen zur Abwehr fundamentaler Bedrohungslagen von außen und politisch relevanter infrastruktureller Krisen. Doch, so führen die Autoren aus, sind überraschenderweise zweckgerichtete Gegenmaßnahmen ausgeblieben, obwohl gesellschaftlich-politische Konstellationen sich herauskristallisiert hatten, die die Proklamation eines Ausnahmezustandes durchaus gerechtfertigt hätten. Piotr Matczak und Grzegorz Abgarowicz zeigen dies für Polen nach dem Sturz des Kommunismus auf. Für sie liegt es nahe, dass, nach Maßgabe der Verfassung von 1997, aus mehreren Gründen darauf verzichtet worden ist: keine hinreichend akute Bedrohungslage; eine kupierte Ausgestaltung der rechtlichen Regularien; das „soziokulturelle Gedächtnis“ (bezüglich des Missbrauchs solcher Vorkehrungen in der Vergangenheit, 172-175). Die Grundspannung zwischen individuellen Freiheitsrechten und Sicherheitsnotwendigkeiten in einem Rechtsstaat ist in Polen vor allem durch wahltaktische Verrenkungen geprägt (180). Die neuesten Entwicklungen der Preisgabe verfassungsrechtlicher Kontrollmechanismen zugunsten eines autoritär-nationalistischen Regierungsaktivismus lässt freilich in dieser Hinsicht Schlimmes befürchten.

Antonio Kouroutakis und Despoina Glarou nehmen mit Verwunderung zur Kenntnis, dass es im Rahmen der für Griechenland bedrückenden, doch mitverursachten Fiskalkrise und den daraufhin einsetzenden Disziplinierungsmaßnahmen der EU-Partner nicht zur Ergreifung von ausnahmepolitischen Maßnahmen gekommen ist (199-218). Sie stellen fest, dass die zuständigen Instanzen, insbesondere die Justiz, sich entsprechenden Handlungen gegenüber restriktiv verhalten haben, obwohl entsprechende Instrumente zur Genüge vorhanden waren, um verfassungsrechtlich legitimiert auf den Ausnahmezustand zurückzugreifen. Die Autoren kritisieren, dass diese Politik der Enthaltsamkeit die Krise noch verschlimmert habe. Sie schlagen daher vor, die bisher allein bei der Exekutive ressortierten Befugnisse, einen Ausnahmezustand zu proklamieren, auf zwei Staatsorgane zu verteilen. Zudem geben sie zu bedenken, dass die Falschwahrnehmung einer Notlage durch die Regierung zu der Einstellung in der Bevölkerung führen könnte, jene habe sich als unfähig erwiesen, den außergewöhnlichen Krisenerscheinungen mutig und tatkräftig zu begegnen und zu einer verträglichen Lösung zu kommen (217).

Ganz anders verhält es sich in Frankreich, wie Pascal Mbongo verdeutlicht (129-166). Hier war es der Algerienkrieg, dessen Folgen den Parlamentarismus der IV. Republik überforderte. Das daraufhin entstandene Machtvakuum, das eine Putschbereitschaft des Militärs induzierte, konnte erst durch die Etablierung eines präsidentiellen Regierungssystems überwunden werden. Die Lösung zur Beendigung dieser Ausnahmesituation bestand also nicht in der „Rettung“ des bestehenden Systems, sondern in seiner Transformation in einen anderen republikanischen Regierungstyp. Er verdeutlicht seit den Tagen de Gaulles die übergroße Machtfülle des Präsidenten, den Ausnahmezustand auszurufen, sobald Gefahren für das Land drohen oder seine Integrität untergraben (so in Artikel 16 der Verfassung der V. Republik). In diesen Zusammenhang fallen auch die Ausrufung des Belagerungszustandes, das Gesetz über den Notstand aus den Zeiten der IV. Republik (1955), schließlich das Verfassungsgesetz von 2008 (137). Die Motive für die Ausrufung eines Ausnahmezustandes werden in der Regel juristisch festgelegt. Dabei gibt aber der Autor zu bedenken, dass ein absolut objektiver Indikator für das Vorliegen eines Ausnahmezustandes gar nicht möglich sei, also hier auch wieder die exekutiven Ermessensspielräume sehr weit gezogen sind (144).

Das Schmitt'sche Werk als fundamentum in re, wenn es um die Betrachtung des Ausnahmezustands geht, hängt im Grunde an der Bestimmung jener Institution, die die alleinige Befugnis zur Ausrufung einer existenziellen staatlichen Notsituation besitzt. Hinzu tritt die Problematik, dass Schmitt diese Institution, ganz die Spätphase der Weimarer Republik im Blick, personalisiert hatte – für ihn der Reichspräsident mit seinem verfassungsrechtlich legitimierten Notverordnungsrecht, nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus der „Führer“ als oberster Souverän der „Volksgemeinschaft“, der extra legem das Recht „schützt“. Wenn diese autoritär beziehungsweise totalitär imprägnierte Denkfigur, die für nicht wenige quasi-demokratische Staaten Realität ist, auch an die Praxis von Notverordnungsprozeduren in modernen Demokratien angelegt wird, dann muss man fragen dürfen, ob die auf den Grundlagen des Rechtsstaats und auf der Distribution der obersten Staatsgewalten ausgestatteten parlamentarischen oder präsidentiellen politischen Systemen fußenden Notstandsverfassungen nach den Kriterien eines unangreifbaren und unlimitierten diktatorischen Kompetenzzentralismus beurteilt werden können. Zwar stehen zum Beispiel die Notstandsregelungen im deutschen Grundgesetz unter dem Vorbehalt von Exemtionen unverbrüchlicher grundrechtlicher Imperative, die das Leben des Individuums beeinträchtigen können; diese Beeinträchtigungen sind aber nicht so fundamental, als dass die individuelle, grundrechtlich geschützte Lebensgestaltung gänzlich zum Erliegen kommt. Auch ist zuzubilligen, dass das Grunddilemma jeglichen Ausnahmezustandes in der Möglichkeit einer unverhältnismäßigen Überdehnung extrakonstitutioneller Maßnahmenkataloge staatlicher Gewalten sich nicht wegretuschieren lässt. Über dem Instrument der „kommissarischen Diktatur“, soweit dieses zu aktivieren die Gelegenheit sich bietet, hängt stets das Damoklesschwert des eklatanten Missbrauchs politisch genehmer Setzungen. Wenn man aber, wie der Staatsrechtler Eckart Klein ausführt, den Ausnahmezustand vom Normalzustand präzise unterscheidet und verfassungsgemäß kodifiziert, auf dieser Basis den Ausnahmezustand für beendet erklärt und in den Status der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Verfasstheit wieder zurückkehrt2, dann erscheint die Souveränitätsfrage in einem anderen Licht und kann als Leitfaden hinsichtlich des folgenden Postulats fungieren: die Souveränitätsfrage nicht vom Ausnahmezustand her anzugehen, sondern vom Normalzustand. Damit wäre Carl Schmitt „out of state of area“.3


1Dass in Deutschland von Verfassungsrechtlern und neoliberalen Ökonomen seit Ausbruch der Finanzkrise im Allgemeinen und der Handhabung der Griechenlandkrise auf EU-Ebene im Besonderen die Politik der EZB sowie der Mitgliedsregierungen meinungsstark Kritik an der Rechtsbeugung beschlossener Regelungen durch die Politik geübt worden ist und noch wird, wäre so ein aktuelles Beispiel. Leider findet sich in diesem Band keine spezielle Abhandlung. Lediglich der Beitrag zu Griechenland verweist darauf.

2Eckart Klein: Innerer Notstand, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. XII, Heidelberg u. a., 3. Aufl. 2014, 935-971, hier: 936 f. Die Kritik an der Notstandsgesetzgebung, wie sie in den 1960er-Jahren artikuliert worden ist, die vor einer verfassungsrechtlichen Normierung gewarnt hatte, ist freilich weiterhin virulent und zu beachten.

3In der deutschen (konservativen) Staatsrechtlehre glänzt Schmitt weiterhin durch eine nachhaltige Präsenz. Man sieht dies im XII. Band des o. g. Handbuchs, insbesondere in den Beiträgen von Josef Isensee (Schlussbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146): 131 ff.; (Verfassungsrecht als „politisches Recht“), 483 ff., insb. 487 ff.

 

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