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Rezension / 13.02.2024

Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitwende

München, C H. Beck 2023

Masala befasst sich in seinem Buch mit der deutschen Sicherheits- und Militärpolitik, insbesondere im Kontext des Ukraine-Russland-Konflikts. Dabei prangert er den Zustand der Bundeswehr an, zeigt Missmanagement und bürokratische Hürden auf. Die Besprechung beleuchtet Masalas Sicht auf Russlands Motive, wirft einen Blick auf die Rolle der NATO und unterstreicht die strategische Naivität Deutschlands. Masala thematisiert zudem die Herausforderungen durch China und plädiert für einen realistischen außenpolitischen Ansatz. Unser Rezensent Arno Mohr betont, dass Masalas Ausführungen für jede/n deutsche/n Außenpolitiker*in Pflichtlektüre sein sollten.

Gegenwärtig vernimmt man ungewohnte Töne in der deutschen Sicherheits- und Militärpolitik. Ein für deutsche Ohren ungewöhnliches Wort zieht seine Kreise: „Kriegstüchtigkeit“. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat es in einem ZDF-Interview im Oktober 2023 in den Mund genommen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine habe schmerzlich verdeutlicht, so Pistorius, dass in Deutschland ein „Mentalitätswechsel“ vonnöten sei, dass sich Politik und Gesellschaft an die Möglichkeit einer Kriegsgefahr in Europa gewöhnen müssten, von der sie bisher verschont gewesen seien, ja, militärische Konfrontationen nicht einmal im Bereich des Möglichen gelegen haben. Pistorius gab im Interview die Marschrichtung vor: „Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“ Überraschenderweise hat auch der ansonsten friedensbewegte ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck ins selbe Horn gestoßen und „ein Defizit an strategischem Bewusstsein in Deutschland“ festgestellt. Gauck fordert neue Lehrstühle „für strategisches Denken“ und spricht die Mahnung aus, dass „Friedensliebe, die blind macht, […] kein Geschenk an die Gesellschaft [sei]“. Er plädiert stattdessen für „eine Verbindung unserer friedfertigen Gesinnung mit der klaren Absicht und Fähigkeit, das Recht, das Völkerrecht zu verteidigen“.

Klar ist: Bis zum Ukrainekrieg haben bei uns die Bundeswehr und Fragen der Verteidigungspolitik niemanden interessiert. Außen- und Sicherheitspolitik erschöpften sich in muddling-through-Reaktionen, die lediglich dazu dienten, in ellenlangen Sitzungen, Verhandlungsmarathons, notdürftigen Vereinbarungen und dergleichen eine Art Schadenbegrenzungspolitik zu implementieren, mit der man im Rahmen der NATO oder der EU halbwegs leben konnte. So stellte sich die offene Wunde Deutschlands dar, die sich subkutan - unbemerkt - immer weiter vertiefte und die Verantwortlichen sich in der trügerischen Gewissheit wogen, im Ernstfall würden es die Amerikaner schon richten.

Diese Wunde überhaupt erst einmal zu diagnostizieren, was es mit ihr auf sich hat und wie die überfällige Therapie auszusehen habe: Dieser Aufgabe stellt sich das vorliegende Buch, ein Gesprächsband, der auf Interviews beruht, die zwei Lektoren des C. H. Beck-Verlags mit Carlo Masala im Mai 2023 geführt haben. Masala ist Professor für Internationale Politik an der Bundeswehrhochschule in München und einer der besten Kenner der Materie im deutschsprachigen Raum.

Zuerst knöpft sich Masala die Bundeswehr vor. Was er dabei an Beispielen von desaströsem und geradezu peinlichem Management aufgelistet hat, spottet zuweilen jeglicher Beschreibung. Die Lage der Bundeswehr muss dem Laien nicht anders als niederschmetternd vorkommen, kurzum ein hoffnungsloser Fall, von Reformresistenz und Reformapathie heimgesucht. Masala charakterisiert den Zustand der Truppe „als mehr oder weniger blank“, als „Pannenarmee“. Das größte Hemmnis bezüglich der Schlagfähigkeit der Bundeswehr ist nach seiner Ansicht die Bürokratie. Wir wissen seit den Tagen Max Webers, dass die Bürokratie zum Wesenselement der okzidentalen, auf rationaler Basis organisierten Herrschaftsgebilde gehört, das erst im modernen Staat am vollsten entwickelt worden sei. Die Bürokratie ist „unentrinnbar“. Und „Bürokratisierung“ meint bei Weber den unausweichlichen Prozess der Durchsetzung des Rationalitätsprinzips in allen staatlichen Bereichen. Davon bleibt natürlich auch das „Heer“ nicht ausgenommen. Auf heute bezogen: Ist „Bürokratisierung“ das Schicksal der Bundeswehr? Ist ‚Schicksal‘ - horribile dictu - etwa gleichbedeutend mit Lähmung der Streitkräfte, die so ihre zweckrationale Aufgabenstellung, wie sie das Grundgesetz vorgibt, kaum zu erfüllen vermögen, weil die militärische Hierarchie - vom Minister bis zum letzten Soldaten oder der letzten Soldatin - von den schwindelerregenden Veränderungen in der Welt völlig überrannt worden ist und wie ein havarierter Tanker nicht mehr kann, was er soll? Weil sich im Ministerium Wasserköpfe gebildet haben („mehr Indianer als Häuptlinge“, „weniger Stäbe, mehr Truppe“, 49), deren Dysfunktionalität Selbstlegitimierung geradezu vorausgeht? Man wiege sich im Glauben, rational zu handeln, versinkt hingegen in Irrationalität und Immobilismus (48 f.). Masala verweist auf zahlreiche Beispiele, an denen der Irrsinn dieser Handlungspraxis, ihre völlige Intransparenz[1] schon innerhalb der Institution Bundeswehr selbst festgestellt werden kann. In den seinen Augen haben wir es mit einem „politischen Versagen allererster Güte“ zu tun (49). In der Öffentlichkeit ist zumeist das Koblenzer Beschaffungsamt der Buhmann. Masala teilt diese Ansicht nicht unbedingt: Diese Behörde sei, so der Autor, keineswegs das Problem, sondern Teil des Problems. Schließlich sei ihre Tätigkeit abhängig von den politisch-strategischen Vorgaben der Regierung (56). Kopfschüttelnd müsse man zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass die Inspekteure bei der Beschaffung von Kriegsmaterial auf allen Sektoren nicht eingebunden sind, also ihr Sachverstand gewissermaßen ‚totes Kapital‘ ist, daher ohne Aussicht auf Rendite (50). Warum wird diese Expertise nicht abgerufen? Wenn man Masala folgt, dann sind die 100 Milliarden Euro für die „Zeitenwende“ eine Vision, deren Verwendung eher Luftschlössern zur Beruhigung der Gemüter gleichkommt, als einer sinnvollen, auf konkrete Zielvorstellungen gerichteten Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eine Gasse zu schaffen. So erhebt sich zuerst die Frage: Sind wir auf Krisen wie den Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine oder den Hamas-Terror gegenüber Israel vorbereitet? So vorbereitet, dass wir unseren NATO-Verpflichtungen auch gerecht werden und im Bündnis nicht nur als „Scheckbuch-Diplomaten“ abgemeiert werden, da wir nicht fähig sind, im aktiven Kriegsgeschehen den vom Bündnis benötigten Beitrag zu leisten? Vom gegenwärtigen Standpunkt aus ist Masala recht skeptisch. Er macht zwei Vorschläge, wie die Krisenfähigkeit der Streitkräfte gefestigt werden könnte: Zum einen solle der Staat auf dem Markt als Wirtschaftssubjekt auftreten, etwa mit eigenen Produktionsanlagen zur Herstellung von Kriegsgütern - sozusagen vom schweren Kriegsgerät bis zur Unterwäsche der Soldatinnen und Soldaten. Und wir müssten ’Zeitenwende’ viel weiter fassen als sich dabei nur auf die militärische Komponente im engeren Sinne zu beschränken. Es bedürfe vielmehr eines Mentalitätswandels in Deutschland, um der Bundeswehr verstärkt Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Masala plädiert vehement für die Schaffung einer Resilienz der Gesellschaft, deren Ziel es sein sollte, sich gegen aggressive Angriffe politischer und ökonomischer Art zur Wehr zu setzen, um unsere demokratische Gesellschaft und ihre Errungenschaften zu bewahren (67 f.).

Zwei Fragen drängen sich mir in diesem Zusammenhang auf: Muss - erstens - jedes Mal, wenn tiefgreifende politische Wandlungen Anomalien transnationaler Art herrufen, die von einer ruhig dahinfließenden Norm fundamental abweichen, das Grundgesetz geändert werden? Masala gibt als Beispiel die GG-Änderung hinsichtlich des Sondervermögens an (52). Jeder weiß, dass dem ein zeitraubendes Verfahren vorauszugehen hat, das die Reaktionszeit der Regierung unverhältnismäßig in die Länge ziehen kann. Ist es - zweitens - überhaupt noch zeitgemäß, die Bundeswehr weiterhin als „Parlamentsarmee“ zu bezeichnen? Meines Erachtens ersetzt Symbolik schnelles rationales Regierungshandeln. Man bräuchte auch in Deutschland - ähnlich wie in den USA - eine Art executive privilege, das der Exekutive mehr Spielraum lässt[2], um plötzlich eintretenden Konfliktherden adäquat zu begegnen. Unabhängig davon muss sich Deutschland sowieso an internationale Vereinbarungen und den daraus sich ergebenden politisch-militärischen Konsequenzen mit den Bündnispartnern halten, die einer parlamentarischen Kontrolle de facto entzogen sind. Masala zieht aber aus dieser Situation den umgekehrten Schluss: Deutschland müsse sich in den entscheidenden transnationalen Institutionen (UN, NATO, EU) kräftiger zur Geltung bringen und mit einer realistischen Politik „stärker einbringen“ (39).  

Die zweite Interview-Folge zentriert sich um den Ukrainekrieg und die deutsche Russlandpolitik. Hier sind die illusionären Vorstellungen deutscher Diplomatie mit Händen zu greifen. In naiver Selbstüberschätzung sei doch in Politik und veröffentlichter Meinung die lange kultivierte, aber illusionäre Ansicht vertreten worden: flag follows trade bzw. unter modernen Bedingungen democracy follows trade. Die ökonomische Exponiertheit der Bundesrepublik induziere eine quasi naturgegebene Bereitschaft autoritärer Staaten wie Russland oder China, sich politisch demokratischen Standards westlicher Verfassungsstaaten gegenüber offener zu zeigen - gewissermaßen eine Revindikation der alten Magnettheorie, wonach ungebundene wirtschaftliche Prosperität und individueller consumerism eine derartige Anziehungskraft auf autoritäre Einparteiensysteme ausübten, dass liberale Entwicklungen Platz greifen könnten, diese Systeme wenigstens mittelfristig erodieren zu lassen. Der große Rechenfehler lag allerdings darin, dass die kommunikativen Beziehungen mit diesen Staaten in keinem vernünftigen Verhältnis mehr standen zum Selbstverständnis der deutschen Stellung in der Weltpolitik - eine fatale Asymmetrie zwischen eigener Selbstgewissheit des Gehörtwerdens im großen Welttheater und einem faktischen Bedeutungsverlust des Geachtetwerdens in bedrohlichen Konfliktlagen. Gefällige Saturiertheit schlägt aktive verlässliche Außenpolitik. Das hatte Folgen, die für die Bundesrepublik nicht gerade freundlich waren bzw. sind. Die Lieferung schweren Kriegsmaterials an die Ukraine habe mit der Dislozierung der F-16-Jets und den Kurzstreckenraketen mit langer Reichweite das „Ende der Fahnenstange“, wie Masala meint, erreicht; mehr gehe nicht. Die Lieferung dieses Waffensystems bezeichnet er als „Ende der Fahnenstange“: „Besseres können wir kurzfristig nicht liefern“ (96). Seine Frage ist: „Wie organisieren wir die mittel- und langfristige Unterstützung der Ukraine? […] Diese Diskussion wurde und wird nicht entschieden genug vorangetrieben“ (ebd.). Außerdem müsse die Betonung nicht auf „mehr“ liegen, sondern auf „schnell“ (96).

Ehrlich gibt Masala zu, dass er sich „von den Verlautbarungen der Russen über die Modernisierung ihrer Streitkräfte“ habe über den Tisch ziehen lassen. Nicht die bloße numerische Größe der Armeen sei maßgebend hinsichtlich der taktisch-operativen Kriegsführung, sondern „weichere Faktoren“ wie die psychische Konditionierung der Kämpfenden: Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten wüssten, worum sie kämpfen, ihre russischen Opponenten nicht: Die Kampfmoral mache den Unterschied (97 f.). Mit Blick auf Deutschland heißt das aber auch: Die Verteidigungsbereitschaft in einer jungen Demokratie wie die Ukraine sei höher als in einer „satten“ Demokratie wie der unsrigen (99).

Masala meint aus guten Gründen, dass es Putin nie um die NATO-Osterweiterung gegangen sei, die uns seine Freunde im Westen immer als legitimen Grund für die Invasion in die Ukraine weiszumachen versuchten. Es sei ihm vielmehr um imperiale Machtansprüche im osteuropäisch-eurasischen Raum gegangen – ganz in Fortsetzung des „Sammelns der russischen Erde“, das das Moskowiter Zarentum im 16. Jahrhundert gewissermaßen zur Staatsdoktrin erklärt hatte (Iwan IV., „der Schreckliche“; Peter der Große). Dieser Neoimperialismus müsse in der Sicht Masalas quasi „ontologische“ Züge an sich haben (104 f., 120 f., 124). Alle Diskussionen um irgendwelche russischen Sicherheitsinteressen seien Scheinargumente. Sie waren ohnedies nicht stichhaltig, da es nie konkrete Zusagen der NATO gegenüber Russland im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche gegeben hat. Auch später, als ostmitteleuropäische Länder wie z. B. Polen oder das Baltikum der NATO beigetreten waren, waren dort keine NATO-Truppen stationiert, und eine Inkorporierung der Ukraine in das Verteidigungsbündnis habe nie zur Debatte gestanden (103, 105 f., 107). Eine Ausnahme bildete der NATO-Gipfel in Bukarest 2008, als die Bush-Administration eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens forcierte, aber auf den Widerstand Deutschlands und Frankreichs stieß: Im Falle einer Realisierung wäre für Russland eine rote Linie überschritten gewesen, die es nicht hingenommen hätte (110 f.). Schon während der Münchner Sicherheitskonferenz ein Jahr zuvor hatte Putin seine bis dato zurückhaltende Rhetorik aufgegeben und scharf gegen die Pläne einer Osterweiterung der NATO geschossen. Masala sieht in den außenpolitischen Abenteuern der Bush-Administration den eigentlichen Ausgangspunkt, dass Russland eine missionarische Selbstgewissheit ausbilden konnte, um wieder die Rolle eines bestimmenden players in der Weltpolitik spielen zu können (111-114).

Masalas Ausführungen zum oft diskutierten Friedensschluss sind von großer Skepsis geprägt. Er wirft den deutschen Friedensbewegten - nicht nur den Pazifistinnen und Pazifisten - vor, dass sie in völlig unrealistischer Einschätzung tatsächlich glaubten, Russland würde entsprechende Verhandlungen in Erwägung ziehen. Putin sei nicht in den Krieg gezogen, um sich mit ein paar Quadratkilometern Land zufrieden zu geben. Er wolle das Maximum: die Einverleibung der Ukraine in die Russische Föderation oder Inthronisierung eines Marionettenregimes von Moskaus Gnaden (128 f.). Auf der anderen Seite dürfte die Ukraine niemals von sich aus die Waffen strecken bzw. große territoriale Verluste fatalistisch in Kauf nehmen (130 f.). Ebenso müssten die Europäer ins Kalkül ziehen, dass es Ende 2024 wieder einen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump geben könnte, der eine radikale Umkehr in der Ukrainepolitik einleiten könnte.

Im dritten Abschnitt beantwortet Masala Fragen über Bipolarität und Multipolarität, über den Kollisionskurs zwischen der Volksrepublik China und den USA um die Vorherrschaft im ostasiatisch-pazifischen Raum und über die „strategische Naivität“ deutscher Außenpolitik in einer Epoche der „Weltunordnung“. Naiv handelten die deutschen Verantwortlichen, weil sie sich zu sehr auf ihre Rolle als Exportnation versteifen, ohne zu sehen, dass eine ökonomisch privilegierte Stellung das Streben nach politischer Geltung im Weltgeschehen nicht ersetzen könne und es hier einer gewissen Synchronisierung bedürfe, um diese Kluft zu verengen und die Provinzialität der politischen Debatten zu überwinden (155). Dieses Phlegma deutscher Befindlichkeit sei durch die Plötzlichkeit des russischen Angriffskriegs mit einem Male in Verwirrung gestürzt worden, was nur eine erratische Politik zur Folge haben konnte. Vieles sei in Deutschland über Jahrzehnte schöngeredet worden, weil ein Aggressionskrieg in Europa nie für möglich gehalten worden war. Also sei der Faktor ‚strategisches Denken‘ nicht als Notwendigkeit anerkannt worden, da wir uns nicht bedroht fühlten - anders als Polen oder die baltischen Staaten, die ihre bitteren historischen Erfahrungen mit Russland niemals vergessen hätten (157). Masala bezieht seine Kritik aber nicht allein auf die Politik, sondern auch auf die Industrie, der kurzfristige Profite wichtiger waren als ein realistisches Verständnis für langfristige weltpo itische Entwicklungen aufzubringen. Es fehle in Deutschland ein „großer strategischer Dialog“ zwischen Politik und Industrie (162 f.). Der Prüfstein sei die Volksrepublik China. Die Mentalität diesem Staat gegenüber sei kooperativ, nicht realistisch. Wie reagiert zum Beispiel die deutsche Außenpolitik, wenn China Taiwan überfällt? Sie habe offenkundig kein Rezept und werde wieder hinter dem amerikanischen Sicherheitsschirm Zuflucht suchen (163 ff.) und abwarten (‚wait and see‘). Die Amerikaner - so hat es Biden angekündigt - würden mit Truppen intervenieren, wenn der Ernstfall eintreten würde. In Europa sei dies nicht der Fall (173). Die Europäer wären gut beraten, auf die Amerikaner einzuwirken, den Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag nachzukommen[3]. Es werde in Europa oft unterschätzt, dass Europa oder Taiwan weit weg sind, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse in bedenklichem Maße instabil sind. Was China betrifft, plädiert Masala für eine Politik, „den Aufstieg Chinas im politischen und militärischen Bereich zu verlangsamen oder zu verhindern“ (188). Mir scheint, dass hier der überzeugte Neorealist Masala seinen eigenen Prinzipien untreu wird: Deutschland kann China nicht bremsen. Eine Angriffsfläche hätte Afrika sein müssen, aber das hat man - wie andere westliche Staaten auch - verschlafen. Die Durchdringung des Kontinents durch Chinas geschickte Außenpolitik - Geld für die Infrastruktur, im Gegenzug Schürfrechte für seltene Rohstoffe – ist so weit fortgeschritten, dass keine Einflussmöglichkeiten mehr bestehen, übrigens auch nicht mehr für die USA.

An dieser Stelle muss ich auf einen wichtigen, vielleicht den zentralen Aspekt hinweisen, den Carlo Masala lediglich mit ein paar Sätzen behandelt hat: die Rolle der Nuklearwaffen. Im Grunde hängt dieses Bedrohungspotential wie ein Damoklesschwert über Kombattanten wie Nichtkombattanten. Es stehen die diesbezüglichen Drohungen Putins im Raum. Bislang hat man es im Westen als rhetorischen Kniff abgetan. Aber steckt da auch Kalkül dahinter? Man sollte bedenken, dass Putin seinem Handeln ein gewisses Maß an Rationalität zugrunde legt. Wird er vielleicht die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen abwarten in der Hoffnung auf ein amerikanisches disengagement durch eine Trump-Administration? Henry Kissinger hat wenige Wochen nach Kriegsbeginn orakelt: Wegen ein paar Quadratkilometern riskiere man einen Atomkrieg. Das halte ich für die entscheidende Frage. Möglicherweise scheint dies ein Indiz für die übervorsichtige Haltung der Bundesregierung zu sein. Hierzu hätte ich gerne eine Antwort von Carlo Masala zur Kenntnis genommen.

Ich resümiere: Carlo Masalas Ausführungen sollten Pflichtlektüre für jeden deutschen „Außenpolitiker“ und jede deutsche Außenpolitikerin, der/die auf sich was hält, sein. Sie sollten in die Lehrgänge für die Offiziersausbildung integriert werden, auch in die politische Bildung auf allen Ebenen. Sympathisch finde ich es, dass er nicht - wie oft in solchen Fällen, wenn Defizite ausgemacht werden - so etwas wie ‚Wehrkunde‘ als institutionalisiertes Unterrichtsfach an den Schulen fordert. Sympathisch deshalb, weil Einübung in das militärische Momentum in den Schulen zu erneuten Ablehnungen gegenüber der Bundeswehr führen könnte. Was wir brauchen ist Realismus, nicht die Wiedergeburt des Militarismus in demokratischem Gewande. Aber das hat Carlo Masala gewiss nicht im Kopf gehabt.


Anmerkungen

[1] Das ergibt sich aus Masalas Ausführungen (45 ff.): (a) in Bezug auf das Beschaffungswesen bei der Bundeswehr und (b) in Bezug auf konkrete Verantwortlichkeiten, „niemand blickt mehr durch, wer für bestimmte Fehler oder Fehlentwicklungen verantwortlich ist“ (45).

[2] Zur Erläuterung: Der Bundestag stimmt zwar über einen Kriegseinsatz ab und legitimiert ihn, aber nicht aus eigenem Ermessen. Essentielles ist schon vorentschieden, durch internationale Verträge und Verpflichtungen daraus, auf die der Bundestag keinen Einfluss hat. Das Executive Privilege des US-Präsidenten, das so nicht in der Verfassung steht, sich aber im 20. Jahrhundert. als Gewohnheitsrecht ausgebildet hat, stellt ein Instrument dar, das den Präsidenten einen größeren Spielraum für außenpolitische Entscheidungen lässt, ohne zuvor ausdrücklich den Kongress damit befassen zu müssen. Völlig unberührt davon bleibt natürlich das ausschließliche Recht des Kongresses, einen Krieg zu erklären. Die sehr unterschiedliche Verfassungssystematik zwischen Bundesrepublik und USA erklärt allerdings, dass in einem parlamentarischen System unter den Bedingungen von Koalitionsregierungen ein ‚executive privilege‘ schwerlich zu verankern ist.

[3] Masala sieht das im Kontext der Taiwanfrage: Während Biden an Anfang an klar gemacht hat, dass die USA keine Truppen in die Ukraine entsenden würden, ist dies im Falle Taiwans anders: Hier würden die USA militärisch intervenieren, falls die VR China Taiwan überfallen würde. Für Masala stellt sich das Problem, dass sich die Amerikaner tendenziell von Europa verabschieden würden, weil „Taiwan“ für sie einfach wichtiger sei als „Europa“. Er befürchtet wohl eine Erosion des NATO-Vertrags zugunsten der pazifischen Hemisphäre.

 

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